Année politique Suisse 1974 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Energiepolitik
Noch mehr als bisher stand die Energiepolitik in einem Dilemma. Der hohe Bedarf rief angesichts der Verteuerung und Gefährdung des Erdölimports nach einer Steigerung der landeseigenen Produktion und einer Sicherung der Zufuhren. Die hauptsächlichen Mittel aber, die zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt wurden, der Bau von Atomkraftwerken und der Beitritt zur Internationalen Energieagentur, waren geeignet, Unbehagen zu erwecken, weil nicht alle ihre Konsequenzen genügend überschaubar erschienen [1].
Zur Ausarbeitung einer Gesamtenergiekonzeption setzte das EVED im Sommer eine besondere Kommission ein, die zunächst fast ausschliesslich aus Exponenten der Energiewirtschaft und Fachbeamten des Bundes bestand ; das Präsidium übernahm M. Kohn, Delegierter des Verwaltungsrates der am Atomkraftwerkbau beteiligten Motor-Columbus AG. Diese Zusammensetzung stiess auf verbreitete Kritik, was zu einer Erweiterung des Gremiums Anlass gab ; auf die von Umweltschutzkreisen erhobenen Forderungen nach einer Parität zwischen ökonomisch und ökologisch ausgerichteten Persönlichkeiten oder nach Bildung einer ökologisch orientierten Alternativkommission wurde jedoch nicht eingegangen. Die mit ihren elf Mitgliedern bemerkenswert klein gehaltene Expertengruppe erhielt den Auftrag, bis Mitte 1977 energiepolitische Ziele zu formulieren und Massnahmen zu ihrer Verwirklichung vorzuschlagen. Dabei soll sie verschiedenartigen Aspekten (Versorgung, Vollbeschäftigung, Verminderung der Auslandabhängigkeit und Umwelterhaltung) Rechnung tragen und durch Hearings möglichst viele Interessengruppen beiziehen ; auch die Frage eines neuen Verfassungsartikels hat sie zu klären [2].
An der Diskussion über die energiepolitischen Grundfragen nahm der neue Chef des EVED, Bundesrat Ritschard, mit einprägsamen Formulierungen teil. Er betonte, dass zur Überwindung der einseitigen Abhängigkeit vom Erdöl die vermehrte Produktion von Atomenergie zur Zeit die einzige verfügbare Möglichkeit bilde, dass aber die Kernspaltung keine Dauerlösung des Energieproblems bringen könne ; im Hinblick darauf, dass die radioaktiven Abfälle jahrhundertelang wirksam bleiben, verglich er das Abstellen auf Atomenergie mit einem « Faustischen Pakt ». Der Sicherheit der Kernkraftanlagen sprach er höchste Priorität zu, höhere als der Vollbeschäftigung [3]. Im übrigen machte er eine aktive Energiepolitik des Bundes von der Gewährung verfassungsmässiger Kompetenzen abhängig [4]. Für eine Verbindung wirtschaftlicher, staatspolitischer und ökologischer Zielsetzungen traten auch energiepolitische Konzepte zweier Landesparteien ein : während jedoch die CVP eine Abkehr vom Prinzip der möglichst billigen Versorgung forderte und die Notwendigkeit einer verfassungsmässigen Koordinationsbefugnis des Bundes hervorhob, legte die FDP besonderen Nachdruck auf eine vorbehaltlose Zuwendung zur Atomenergie [5]. In St. Gallen bildete sich aus Kreisen des Landesrings und der SP ein « Aktionskomitee für eine massvolle Energiepolitik », das auf dem Weg über eine Standesinitiative eine Stabilisierung des Energieverbrauchs pro Kopf der Bevölkerung und eine Begrenzung der Zahl der Kernkraftwerke anstrebte [6]. Eine Drosselung des Energiekonsums um rund 20 % postulierte ein Manifest des Schweizerischen Bundes für Naturschutz ; durch Erhöhung des Treibstoffpreises, Beschränkung des Motorfahrzeug- und Luftverkehrs, Bauvorschriften, Raumheizungskontrolle und Umweltschutzabgaben sollte der jährliche Verbrauch auf dem Stand von 1968 stabilisiert und die Erstellung weiterer Atomkraftwerke vermieden werden [7]. Als unerschöpfliche und zugleich umweltgerechte Energiequelle propagierten wissenschaftliche Kreise die Sonnenstrahlung, die einstweilen namentlich für Heizzwecke nutzbar wäre [8].
Da die Nachfrage nach Elektrizität weiter anstieg, der Bau neuer Kernkraftwerke sich aber verzögerte, verdichtete sich die Wahrscheinlichkeit eines Engpasses in der Energieversorgung, mindestens für die zweite Hälfte der 70er Jahre. Das EVED liess deshalb durch die Elektrizitätsunternehmen Möglichkeiten einer Verbrauchseinschränkung untersuchen. Im Herbst legte der Bundesrat dem Parlament einen dringlichen Bundesbeschluss vor, der ihn bis zum Jahre 1981 zu Rationierungsmassnahmen ermächtigen sollte. Auf Empfehlung der Elektrizitätswerke nahm er eine lineare Kontingentierung auf der Grundlage des früheren Konsums in Aussicht ; für lebensnotwendige Betriebe sollten Ausnahmen gewährt, für entbehrliche Verwendungsarten (z.B. Reklamebeleuchtung, Privatschwimmbäder) dagegen gänzliche Verbote in Betracht gezogen werden. Der praktische Vollzug war den Werken selber zugedacht. Obwohl regenreiches Wetter für den Winter 1974/75 noch kaum eine Notlage erwarten liess, genehmigten beide Räte den Beschluss schon im Dezember ohne grössere Änderungen ; Vorstösse für eine Verkürzung der Geltungsdauer drangen nicht durch [9].
Der gesamte Energiekonsum nahm 1974 gegenüber dem Vorjahr um 7,8 % ab. Der Rückgang betraf aber praktisch nur die Erdölprodukte (11 %) ; er wurde namentlich den milden Wintern, den erhöhten Preisen und der Konjunkturabschwächung zugeschrieben. Der Verbrauch von Elektrizität stieg, noch um 3,1 %, derjenige von Gas um 47 %. Damit reduzierte sich der Anteil des Erdöls an der Gesamtmenge von 80,3 auf 77 %, während sich derjenige der Primärelektrizität (Wasser- und Atomkraft) von 15,3 auf 17,2 % erweiterte [10].
 
[1] Zu den Atomkraftwerken vgl. unten, zur Internationalen Energieagentur oben, Teil I, 2 (principes und OECD).
[2] Einsetzung : NZZ (sda), 318, 12.7.74. Kritik : TA (ddp), 159, 12.7.74 ; Tat, 162, 13.7.74 ; TA, 166, 20.7.74 ; NZZ (sda), 334, 22.7.74 ; VO, 171, 27.7.74 ; NZZ, 350, 31.7.74 ; 371, 13.8.74. Erweiterung : NZZ (sda), 398, 28.8.74 ; (spk), 405, 2.9.74. Auftrag : NZZ (sda), 480, 1.11.74. Vgl. SPJ, 1973, S. 81.
[3] Vgl. Reden in Documenta (Helvetica), 1974, Nr. 8, S. 17 ff. (Verband Schweiz. Elektrizitätswerke) und S. 28 ff. (Vorort), ferner Voten in Amtl. Bull. StR, 1974, S. 534 ff. (Interpellation Heimann, ldu, ZH) und Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1650 (Interpellation Jaeger, Idu, SG). Zum Wechsel im EVED vgl. SPJ, 1973, S. 18 f.
[4] Antwort auf verschiedene parlamentarische Vorstösse zur Energiepolitik (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1289 ff.).
[5] CVP : TA (ddp), 127, 5.6.74 ; Vat., 128, 5.6.74. FDP : Ldb, 299, 27.12.74.
[6] TA, 254, 1.11.74 ; NZZ, 482, 4.11.74.
[7] Stop der Energie-Verschwendung. Energiepolitisches Manifest des Bundes für Naturschutz, Basel 1974.
[8] Vgl. das Symposium der 1974 gegründeten Schweiz. Vereinigung für Sonnenenergie (Vat., 284, 7.12.74 ; Ldb, 288, 12.12.74), ferner GdL, 18, 23.1.74 ; NZ, 326, 19.10.74 ; NZZ (sda), 515, 12.12.74.
[9] BBl, 1974, II, Nr. 40, S. 774 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1651 ff., 1848, 1926 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 629 ff., 655, 677 ; AS, 1974, Nr. 51, S. 2137 ff. Vgl. SPJ, 1973, S. 82.
[10] NZZ (sda), 83, 11.4.75.