Année politique Suisse 1974 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Kernenergie
Der Bau weiterer Atomkraftwerke verzögerte sich. Noch Ende 1973 hatte der Bundesrat mit der baldigen Verwirklichung der Projekte von Gösgen-Däniken (SO), Leibstadt (AG) und Kaiseraugst (AG) gerechnet, nicht zuletzt aufgrund eines Bundesgerichtsurteils, das dem Bund eine umfassende Bewilligungskompetenz für Atomanlagen zuerkannt hatte [11]. Neun Monate später musste jedoch der neue Chef des EVED zur Geduld mahnen. Als Haupthindernis nannte er den Mangel an verfügbaren Fachleuten, der eine gleichzeitige gründliche Prüfung der Sicherheitsfragen aller drei Werke nicht erlaube. Schwierigkeiten bot zudem die Kapitalbeschaffung ; der Bundesrat empfahl deshalb den Kraftwerkkonsortien, die Mittel für ins Ausland vergebene Aufträge im Ausland zu beschaffen und die Energiepreise zur Erweiterung der Eigenfinanzierung zu erhöhen [12]. Ausser technischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten stand dem Kemkraftwerkbau aber auch ein wachsender Widerstand aus Kreisen der Bevölkerung entgegen.
Planmässig schritten die Arbeiten in Gösgen voran. Eine Vorsprache der solothurnischen Regierung konnte den Bundesrat nicht davon abbringen, auf der Errichtung eines Kühlturms zu bestehen. Um die Oppositionsbewegung, die mit der Abberufung des Regierungsrats gedroht hatte, wurde es still. Auch in Leibstadt fing man an zu bauen ; da jedoch die Bewilligung für die nukleartechnischen Anlagen auf sich warten liess, trat vom Sommer an eine Pause ein. Gegen das Projekt Kaiseraugst wurden nach Jahresbeginn weitere Beschwerden eingereicht ; weil aber deren Urheber gegen negative Entscheide der aargauischen Behörden nicht mehr ans Bundesgericht rekurrierten, erhielt die kommunale Baubewilligung Rechtskraft. Doch da auch hier die nukleare Baubewilligung ausblieb, konnte mit dem eigentlichen Bau noch nicht begonnen werden [13]. Für weitere Projekte nahm das Bewilligungsverfahren seinen Gang : gegenüber dem Vorhaben in Graben (BE) zogen die interessierten Gemeinden ihre Einsprachen zurück, um sich auf Verhandlungen mit den Bernischen Kraftwerken einzulassen, und für die Anlage in Verbois (GE) erteilte das EVED die Standortbewilligung ; gegen diese rekurrierte allerdings die Genfer Regierung, die ingesichts der regionalen Opposition ihre Zustimmung an Bedingungen geknüpft hatte, an den Bundesrat. Das Projekt Rüthi (SG) blieb weiterhin Gegenstand von Gesprächen mit Österreich. Die Centralschweizerischen Kraftwerke ersuchten schliesslich um eine Standortbewilligung für Inwil (LU) [14].
Da die rechtlichen Beschwerdemittel, die den unmittelbar Betroffenen zur Verfügung standen, wenig Erfolg versprachen, verlagerte sich der Widerstand gegen den Atomkraftwerkbau stärker auf die politische Ebene. Dies gilt insbesondere für die Basler Region, wo man die Planung und Entstehung einer ganzen Kette von Kernenergieanlagen im Umkreis der Agglomeration mit Unruhe verfolgte [15]. Ausdruck derselben war das Ergebnis einer Volksabstimmung in Baselstadt, in welcher eine Beteiligung am Kernkraftwerk Gösgen eindeutig verworfen wurde ; dabei hatten Parteien verschiedenster Richtung die Neinparole ausgegeben [16]. Dementsprechend verschärfte der Grosse Rat von Baselstadt auch die von der Regierung beantragte Standesinitiative, die eine Zusammenfassung des ganzen Bewilligungsverfahrens beim Bund, die Gewährleistung eines Mitspracherechts der Kantone und die Ausarbeitung einer gesamtschweizerischen Standortkonzeption anstrebte : er forderte zusätzlich ein Mitspracherecht für die Stimmberechtigten der betroffenen Gebiete sowie einen Aufschub der Baubewilligungen bis zum Vorliegen des Gesamtkonzepts [17].
Die Agitation gegen den Atomkraftwerkbau wurde aber hauptsächlich von überparteilichen Organisationen getragen, deren Mitglieder sich nicht auf einen einzelnen Kanton beschränkten. In den Vordergrund trat eine gegen Ende 1973 entstandene « Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst », die sich bereits mit einer vorübergehenden Besetzung des Baugeländes bekannt gemacht hatte ; an einer internationalen Grossveranstaltung in Kaiseraugst rief sie zu passivem Widerstand gegen Elektrizitätswirtschaft und Aluminiumindustrie auf. Gemeinsam mit einer älteren Gruppe, dem Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke, lancierte sie in Baselstadt und Baselland parallele Volksinitiativen, durch welche die Kantonsregierungen zu Massnahmen gegen die Errichtung von Kernenergieanlagen auf ihrem Gebiet oder in ihrer Nachbarschaft verpflichtet werden sollten [18]. Entsprechende Initiativbewegungen bildeten sich in den Kantonen Schaffhausen und Zürich [19]. Ausserdem schalteten sich die Progressiven Organisationen (POCH) ein, die der Antiatomenergiewelle eine klassenkämpferische Richtung zu geben versuchten : sie sammelten Unterschriften für ähnliche Volksbegehren in den Kantonen St. Gallen und Luzern und gründeten ein « Schweizerisches Widerstandskomitee gegen den unverantwortlichen A-Werk-Bau » [20]. Lebhafte Opposition gegen ein stadtnahes Kernkraftwerk regte sich auch wie erwähnt in Genf. Sie äusserte sich in Petitionen und an öffentlichen Veranstaltungen ; auf dem Projektgelände kam es sogar zu einem Brandanschlag. Der Wunsch nach einem Mitspracherecht der Bevölkerung wurde in verschiedensten Kreisen laut ; in der Standortgemeinde Russin ergab eine Befragung der Bürger eine starke gegnerische Mehrheit [21].
In der leidenschaftlichen Kontroverse kam nicht zuletzt ein Informationsproblem zum Ausdruck. Berichte von Pannen in ausländischen Atomenergieanlagen wurden leicht aufgebauscht oder verharmlost ; dies liess den Ruf nach offenerer und sachlicherer Orientierung laut werden. Um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, setzte sich ein Vertreter des EVED insbesondere für internationale Anstrengungen zur besseren Überwachung der atomaren Abfälle ein [22]. Anderseits wurde auch die Frage der Versorgung mit nuklearen Brennstoffen aufgeworfen. Der Bundesrat bezeichnete die Zufuhr als gesichert, betonte aber, dass ein Beitritt zum Atomsperrvertrag das Kontrollverfahren erleichtern würde [23].
Dass vom Übergang zur Atomenergie auch eine die Umwelt schonende Wirkung erwartet werden kann, zeigte eine Studie über Fernheizsysteme, die aus einer Zusammenarbeit des EVED mit der Firma Sulzer entstanden war und als Beitrag zur Gesamtenergiekonzeption dienen sollte. Bei ihrer Bekanntgabe erklärte der Direktor des Eidg. Amtes für Energiewirtschaft, H. R. Siegrist, die Standorte mehrerer bestehender oder geplanter Kernkraftwerke für geeignet, zur Heizung grösserer Siedlungsagglomerationen beizutragen ; mit der Abwärme von Atomreaktoren und der Wärmeproduktion aus fossilen Brennstoffen solle langfristig die « Stadt ohne Schornsteine » verwirklicht werden. Kantone und Stadtgemeinden wurden aufgefordert, diese Konzeption in ihre. Planung aufzunehmen [24]. Im Kanton Zürich betonte man freilich, dass zur Heizung der Limmatmetropole noch kein Atomkraftwerk in Sicht sei ; dafür erhielt ein 90-Millionen-Kredit für die Errichtung eines konventionellen thermischen Heiz- und Kraftwerks am Nordrand der Hauptstadt die Billigung der Stimmbürger [25].
 
[11] Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichtes, 99/1973, Teil la, S. 247 ff. Vgl. SPJ, 1973, S. 83 f.
[12] Documenta, 1974, Nr. 8, S. 17 ff. u. 32 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 529 f. Über die Entwicklung der Stromtarife vgl. NZ, 381, 6.12.74.
[13] Gösgen : Bund, 44, 22.2.74 ; 137, 16.6.74 ; TA, 206, 6.9.74 ; NZZ, 477, 29.10.74. Leibstadt : NZZ,. 468, 18.10.74. Kaiseraugst : NZ, 19, 18.1.74 ; 32, 29.1.74 ; 293, 20.9.74; Bund, 164, 17.7.74. Vgl. SPJ, 1973, S. 83 f.
[14] Graben : Bund, 300, 23.12.74 ; Bündner Zeitung, 16, 18.1.75. Verbois : TG, 40, 18.2.74 ; 115, 18./19.5.74 ; JdG, 108, 10.5.74 ; 223, 25.9.74. Rüthi : TA, 201, 31.8.74 ; NZZ, 404, 1.9.74 ; (sda), 434, 19.9.74 ; vgl. NZZ, 493, 16./17.11.74. Vgl. ferner Gesch.ber., 1974, S. 290.
[15] Weniger als 60 km von Basel waren 1974 2 Werke im Betrieb (Beznau I und II/AG), 3 wurden gebaut (Fessenheim/Elsass, Leibstadt/AG, Gösgen/SO) und 4 waren geplant (Wyhl und Schwörstadt/Baden, Kaiseraugst/AG, Graben/BE). Vgl. Ww, 42, 16.10.74.
[16] Die Vorlage, die vom Grossen Rat dem Volk unterbreitet worden war, erzielte 23 280 Nein und 12 607 Ja ; alle Wahllokale verwarfen. SP, PdA, POCH, LdU, EVP und NA gaben die Neinparole, Liberale und CVP die Japarole aus, die FDP beschloss Stimmfreigabe. Die Beteiligung betrug freilich nur 24,9 % (NZ, 62, 24.2.74). Vgl. SPJ, 1973, S. 83.
[17] NZ, 91, 22.3.74 ; Verhandl. B.vers., 1974, III, S. 7 f. In BL wurde die entsprechende Standesinitiative vom Landrat ohne wesentliche Änderungen genehmigt (NZ, 24, 22.1.74). Vgl. SPJ, 1973, S. 83.
[18] Gewaltfreie Aktion : NZ, 403, 27.12.73 ; 111, 8.4.74 ; 118, 16.4.74 ; 305, 30.9.74 ; vgl. SPJ, 1973, S. 84. Nordwestschweizer Aktionskomitee : NZ, 166, 30.5.74. Initiative : NZZ (sda), 412, 5.9.74.
[19] Schaffhausen : Ldb, 26, 1.2.74. Zürich : TA, 290, 13.12.74.
[20] POCH-Zeitung, 13, 25.9.74 ; 14, 3.10.74. In St. Gallen wurde die Initiative im Dezember eingereicht (vgl. unten, Teil II, 4a).
[21] Petitionen : JdG, 135, 13.6.74. Veranstaltungen : TG, 55, 7.3.74 ; 61, 14.3.74 ; 67, 21.3.74 ; 95, 25.4.74. Anschlag : JdG, 116, 20.5.74. Russin : JdG, 18, 23.1.74. Für eine Volksbefragung äusserten sich die CVP (JdG, 120, 25.26.5.74), die Vigilants (TG, 147, 27.6.74) und die Liberalen (JdG, 214, 14./15.9.74).
[22] TA, 124, 31.5.74 ; NZZ, 450, 28.9.74 ; Ldb, 278, 30.11.74. Vgl. dazu eine Stellungnahme von Prof. C. Zangger (Eidg. Amt für Energiewirtschaft) vor der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien (NZZ, sda, 438, 21.9.74).
[23] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1974, S. 195 f. (Antwort auf Kleine Anfrage Vincent, pda, GE) und BBI, 1974, II, Nr. 46, S. 1043 f. (Botschaft zum Atomsperrvertrag ; vgl. dazu auch oben, Teil I, 2).
[24] Bund, 50, 1.3.74. Vgl. auch NZZ, 98, 28.2.74. Die Studie ging auf eine parlamentarische Anregung aus dem Jahre 1967 zurück (SPJ, 1967, S. 77 ; 1968, S. 81).
[25] TA, 63, 16.3.74 ; 142, 22.6.74 ; 149, 1.7.74.