Année politique Suisse 1974 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Agglomerationsverkehr
Eine Umverteilung der Mittel, die für Verkehrsinvestitionen zur Verfügung stehen, forderten verschiedene Stimmen vor allem zugunsten des öffentlichen Agglomerationsverkehrs : dessen Priorität sollte auch für die Verwendung der Treibstoffzölle wirksam sein [6]. Die Finanzknappheit und der Widerstand der Automobilistenverbände scheinen die Bundesbehörden jedoch davon abgehalten zu haben, den Intentionen des neuen Chefs des EVED zu entsprechen. Vorschläge für eine Bundeshilfe an den öffentlichen Agglomerationsverkehr wurden nach wie vor als nicht aktuell bezeichnet. Zur Begründung verwies man nicht nur auf die laufenden Arbeiten an einer Gesamtverkehrskonzeption, sondern auch auf die Gefahr, dass Subventionen für den Verkehr in Ballungszentren das raumplanerische Leitbild der dezentralisierten Konzentration durchkreuzen könnten. Dem öffentlichen Nahverkehr wurde vielmehr eine Rationalisierung durch regionale Zusammenarbeit empfohlen [7].
Ein Fortschritt in dieser Richtung war im Kanton Baselland zu verzeichnen, wo es zur Fusion von vier Vorortsbahnen im Bereich der Agglomeration Basel kam ; die Bildung der neuen Baselland Transport AG wurde dadurch erleichtert, dass der Kanton in allen beteiligten Unternehmungen die Aktienmehrheit erworben hatte. Vorgesehen war eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zu einem gesamtbaslerischen Verkehrsverbund. Bereits seit längerer Zeit hatten die baselstädtischen Verkehrsbetriebe zwei der basellandschaftlichen Linien gepachtet, und für 1975 wurde mit der Birseckbahn noch eine dritte in das Stadtbasler Tarifsystem einbezogen. Trotz der Einigung auf einen gemeinsamen Partnerschaftsartikel in den Verfassungen der beiden Halbkantone befürchtete man freilich in Basel, dass .Liestal nicht so leicht auf gewisse Souveränitätsrechte verzichten werde [8].
Auf kantonaler Ebene stiessen Bestrebungen, den öffentlichen Regionalverkehr vermehrt aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren und durch weitere dirigistische Massnahmen zu privilegieren, auf Widerstand. Wie bereits erwähnt, verwarfen die Zürcher Stimmbürger im Juni eine Initiative der POCH, die gegen den Grundsatz der Eigenwirtschaftlichkeit der Verkehrs- und Versorgungsbetriebe der Gemeinden gerichtet war. Im Dezember lehnten sie auch ein aus sozialdemokratischen Kreisen stammendes Volksbegehren ab, das neben dem Verzicht auf die Eigenwirtschaftlichkeit des öffentlichen Regionalverkehrs vor allem eine radikalere Abschöpfung der durch Verkehrsbauten entstandenen Mehrwerte zum Ziele hatte [9]. In Genf genehmigte der Grosse Rat ohne Gegenstimmen die Rechtsgrundlagen für eine Verstaatlichung und Privilegierung der städtischen Verkehrsbetriebe und verwirklichte damit die meisten Anregungen der 1971 eingereichten Initiative ; nur die Frage der kostenlosen Beförderung blieb noch ausgeklammert. Im Blick auf die für 1975 vorgesehene Volksabstimmung regte sich jedoch eine wirksame Opposition, die namentlich an einer Klausel Anstoss nahm, welche dem öffentlichen Verkehrsmittel einen absoluten Vorrang zuzusprechen schien [10]. Eine rationale Méthode zur Entlastung der Benützer bei der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs vertrat ein an der Universität Basel ausgearbeitetes Gutachten, indem es analog zu verschiedenen Versorgungsbetrieben eine Zweiteilung des Tarifs empfahl : die Benützer sollten nur noch für die Betriebskosten aufkommen, während alle Bewohner des Einzugsgebiets als Nutzniesser mit abgestuften Beiträgen die Kosten der Aufrechterhaltung der Verkehrskapazität zu tragen hätten [11].
Die Zürcher Linke scheiterte nicht nur mit ihren Vorstössen für eine stärkere Privilegierung des öffentlichen Agglomerationsverkehrs ; auch die von ihr unterstützte Initiativbewegung gegen das Expressstrassenkonzept für die Limmatmetropole (Y) erlitt eine Niederlage. Das 1971 eingereichte Volksbegehren, das auf dem Weg über eine Standesinitiative den Verzicht auf die drei Expressstrassenäste und ihre Ersetzung durch einen Autobahnring rund um die Stadt anstrebte, wurde vom Regierungsrat abgelehnt. Der Kantonsrat beschloss darauf, der Initiative einen Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Dieser stützte sich auf eine Vereinbarung von Stadt und Kanton aus dem Herbst 1973 und ging dahin, dass man einstweilen nur den Nord- und den Südast des Y (das sogenannte I) sowie die von den eidgenössischen Räten anerkannte Nordwestumfahrung bauen und erst aufgrund von Erfahrungen mit diesen Verbindungsstücken entscheiden solle, ob der Westast noch unumgänglich sei [12]. Im September verwarfen die Stimmbürger überraschenderweise sowohl Initiative wie Gegenvorschlag, so dass dem Bau des Y rechtlich nichts mehr entgegenstand. In der Hauptstadt hatte immerhin die Anti-Y-Initiative eine Mehrheit erreicht. Die komplizierte Abstimmungslage gab Anlass zu Zweifeln, ob das Ergebnis wirklich die Meinung der Stimmenden zum Ausdruck gebracht habe [13]. Die POCH lancierte gleich ein neues Volksbegehren, das nur noch den. Verzicht auf die Expressstrassen zum Ziele hatte und den wenig populären Autobahnring ausser Betracht fallen liess. Bundes- und Kantonsbehörden machten jedoch keine Miene, die bereits fortgeschrittenen Bauarbeiten an der Nord-Süd-Verbindung aufzuhalten [14].
Umstritten waren auch Nationalstrassenbauten in anderen Grossstädten. In Genf beantragte die Kantonsregierung, ein erstes Teilstück der Westumfahrung, die das schweizerische Autobahnnetz mit dem französischen verbinden soll, in Angriff zu nehmen, doch der Grosse Rat fand sich noch nicht zur Zustimmung bereit. Gegen die Einführung der N9 im Osten von Lausanne wandte sich eine von Franz Weber organisierte Bewegung ; man befürchtete von der neuen Zufahrt, dass sie die entlastende Wirkung der 1974 fertiggestellten Nordumfahrung der Stadt beeinträchtigen werde [15].
 
[6] So C. Pfund, Direktor des Verbandes Schweiz. Transportunternehmungen des öffentlichen Verkehrs (TA, 91, 20.4.74), und H.R. Isliker, Vizedirektor des Eidg. Amtes für Verkehr (TA, 188, 16.8.74) ; vgl. auch NZZ, 446, 26.9.74, und Postulat Albrecht (cvp, NW) (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 553 f.).
[7] Vgl. Gesch.ber., 1974, S. 277 ; Documenta, 1974, Nr. 9, S. 10 (BR Ritschard) ; NZZ, 249, 31.5.74 ; Ldb, 223, 27.9.74 ; NZZ (sda), 467, 17.10.74 ; NBZ, 327, 21.10.74 ; ferner SPJ, 1973, S. 88. Zum raumplanerischen Leitbild vgl. unten, Teil I, 6c.
[8] BN, 185, 10.8.74 ; 205, 3.9.74 ; NZ, 338, 29.10.74 ; Ww, 47, 20.11.74 ; NZZ, 525, 24.12.74 ; Gesch. ber., 1974, S. 277. Zum Partnerschaftsartikel vgl. oben, Teil I, lc.
[9] POCH-Initiative : vgl. oben, Teil I, 6a und unten, Teil II, 1i. Die zweite Initiative sollte das 1972 gutgeheissene Regionalverkehrsgesetz ersetzen ; vgl. SPJ, 1972, S. 91 f. u. 153, und unten, Teil II, 4c. Beide Begehren fanden auch in der Hauptstadt keine Mehrheit. Vgl. ferner R. Jost, « Verkehr — ein soziales Hindernis », in Profil, 1974, S. 213 ff., 247 ff., 282 ff. (Ergebnisse einer sozialdemokratischen Arbeitsgruppe).
[10] JdG, 47, 26.2.75 ; 48, 27.2.75 ; vgl. dazu SPJ, 1971, S. 102 ; 1972, S. 92, und unten, Teil II, 4c. In der Volksabstimmung vom 2.3.1975 wurde nur ein die Verstaatlichung begründender Verfassungsartikel, nicht aber das Ausführungsgesetz angenommen (TG, 51, 3.3.75).
[11] R.L. Frey / R. Völker, BVB-Tarifpolitik, Basel 1974. Vgl. NZZ, 383, 20.8.74.
[12] Regierungsrat : NZZ, 32, 21.1.74. Gegenvorschlag : TA (sda), 262, 10.11.73 ; TA, 106, 9.5.74 ; 135, 14.6.74 ; NZZ, 276 u. 277, 18.6.74. Vgl. SPJ, 1971, S. 103 ; 1972, S. 92 f.; 1973, S. 89 f.
[13] Initiative : 101 837 Ja, 138 227 Nein, Beteiligung 38 % (Stadt : 52 855 Ja, 42 737 Nein, 39 %) ; befürwortende Parteien : SP, PdA, POCH, EVP, Republikaner. Gegenvorschlag : 111 128 Ja, 128 795 Nein ; befürwortende Parteien : FDP, SVP, CVP, LdU. Die Nationale Aktion gab die Stimme frei. Vgl. TA, 218, 20.9.74 ; 220, 23.9.74. Kommentare auch in NZZ, 441, 23.9.74 ; BZ, 224, 25.9.74 ; BN, 227, 28.9.74.
[14] POCH-Initiative : TA, 234, 9.10.74. Einer gegen den Bau von Expressstrassen gerichteten Petition von 52 Gemeinderäten der Stadt Zürich gaben die eidgenössischen Räte keine Folge (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1846 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 675 ; vgl. TA, 225, 28.9.74). Das EDI genehmigte im Februar 1975 das Ausführungsprojekt für den Milchbucktunnel (Nordast) (NZZ, 31, 7.2.75). Vgl. auch expressstrassenfreundliche Vorstösse im Kantonsrat (NZZ, 501, 26.11.74 ; 4, 7.1.75).
[15] Genf : JdG, 110, 13.5.74 ; 265, 13.11.74 ; TG, 293, 16.12.74. Lausanne : GdL (sda), 123, 29.5.74 ; TA, 131, 10.6.74 ; Gdl, 160, 12.7.74. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 92.