Année politique Suisse 1974 : Infrastruktur und Lebensraum / Boden- und Wohnwirtschaft
Raumplanung
In der Geschichte der schweizerischen Raumplanung lassen sich drei Entwicklungsstufen erkennen. In einer ersten Phase, die bis 1971 dauerte, hatten zahlreiche Gemeinden und Regionen ihre Planungen selbständig und aufgrund des Wohnbauförderungsgesetzes von 1965 vorangetrieben. Eine zweite Etappe war gekennzeichnet durch den 1972 erlassenen Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung (BMR). In verschiedenen Bestandesaufnahmen wurde betont, dass dieser Beschluss, der bis Ende 1975 in Kraft bleibt, im Hinblick auf das neue Raumplanungsgesetz wichtige Vorarbeit geleistet habe, und zwar in sachlicher, politischer und psychologischer Hinsicht
[1].
Die insgesamt 35 900 Einsprachen, die erhoben worden waren, lagen laut Aussagen von Bundesstellen im Rahmen der Erwartungen, zumal allein 14 000 auf den Kanton Wallis entfielen
[2]. Verschiedene Testfälle zeigten die Schwierigkeiten raumplanerischer Massnahmen auf. Die Schweizerische Stiftung für Landschaftsschutz und Landschaftspflege bedauerte in einer Bilanz, dass die meisten Gemeinden am Bodensee ungehemmt unersetzliche Uferlandschaften zu Bauland erklärt hätten
[3]. Während in Menzingen (ZG) ein widerrechtlich errichtetes Lagergebäude zwangsweise abgebrochen wurde, konnte sich die Tessiner Regierung gegenüber zahlreichen Verstössen im Bauwesen bisher nicht in dem Masse durchsetzen, wie es Beobachter aufgrund der gesetzlichen Vorschriften forderten. Besonders umstritten war ein 24stöckiger Wohnturmbau des Happy-Rancho-Sporthotels in Locarno
[4]. Staatsrechtliche Fragen wurden aufgeworfen, als sich das Bündner Verwaltungsgericht weigerte, einen Bundesratsbeschluss anzuerkennen. Der Bundesrat hatte sich auf das Aufsichtsrecht des Bundes berufen und ein Urteil aufgehoben, das auf Einsprache eines Grundeigentümers hin einige Parzellen aus der Schutzzone im Fextal entlassen hatte
[5]. An den Bundesrat gelangten auch die Gemeindebürger von Wohlen (BE), als sie eine zuvor bewilligte Grossüberbauung in Vorderdettigen verhindern wollten, der Kanton dies aber nicht zuliess. Das Projekt gefährdete das Naherholungsgebiet der Stadt Bern am Wohlensee
[6].
Für eine dritte und vorläufig letzte Entwicklungsstufe soll das
Raumplanungsgesetz (RPG), das 1974 von den eidgenössischen Räten weiter behandelt und schliesslich verabschiedet werden konnte, die Grundlage bilden
[7]. Da gegen dieses « Gesetz des Jahrhunderts » das Referendum ergriffen wurde, scheint freilich die Verwirklichung vorderhand in Frage gestellt.
Der
Nationalrat behandelte das RPG in einer Sondersession im Januar. Er wies föderalistische Vorstösse teils nur mit knappen Mehrheiten zurück und bejahte klar die « heissen Eisen » der Mehrwertabschöpfung und der Enteignung (in unmittelbarem öffentlichen Interesse und gegen volle Entschädigung). Einige Abänderungen, welche. die Grosse Kammer vornahm, wurden als Verwässerungen und Zugeständnisse an die Interessenvertreter der Grundbesitzer kritisiert
[8]. Sie milderte die Gesetzesbestimmungen über Bauten ausserhalb der eigentlichen Bauzone. « Zonenfremde » Bauten können somit ausserhalb der Bauzone bewilligt werden, sofern der Gesuchsteller ein sachlich begründetes Bedürfnis nachweist und keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen. Wie schon der Ständerat, so beschloss auch der Nationalrat, gesamtschweizerische Organisationen, die sich überwiegend mit Raumplanung befassen, vom Beschwerderecht auszuschliessen. Dieses steht nur den interessemässig Betroffenen zu. In einem komplizierten
Differenzbereinigungsverfahren schloss sich der Nationalrat in der Frage des Zeitpunktes der Mehrwertabschöpfung der ständerätlichen Fassung an, welche die Abschöpfung erst im Moment der Realisierung des Mehrwertes (d.h. bei Verkauf oder Überbauung) vorsieht. Nach Ansicht der Gegner wurde damit das wichtigste Instrument gegen die Baulandhortung fallengelassen. Finanziell gut abgesicherte Grundbesitzer könnten fortan nicht zur tatsächlichen Überbauung gezwungen worden. Die Regelung, dass nur « erhebliche » Mehrwerte lediglich « angemessen » abgeschöpft werden können, liess daneben Zweifel an der Ergiebigkeit dieser für die Finanzierung der Raumplanung zentralen Einnahmequelle aufkommen
[9]. Vorwiegend bäuerlichen Kreisen kam die Verankerung des « volkswirtschaftlichen Ausgleichs » entgegen. Dieser ist vom Bund auf dem Wege der Spezialgesetzgebung zu regeln und hat den Sinn einer Abgeltung für die Auflagen und Leistungen, welche die Land- und Forstwirtschaft im' Interesse der Raumplanung erbringen. Eine Bestimmung, die den Übergang vom dringlichen Bundesbeschluss zum Gesetz sichern soll, sieht vor, dass die Kantone die gemäss BMR ausgeschiedenen Schutzgebiete in die neue Nutzungsordnung übernehmen können ; ein Antrag, der eine zwingende Formulierung enthielt, wurde deutlich abgelehnt
[10].
Planungsexperten des Bundes beurteilten das abgeschlossene Gesetzeswerk positiv ; es habe — neben einigen Lücken — « gute Zähne » und könne, sofern es von den Politikern und Bürgern richtig angewendet werde, durchaus wirksam sein
[11]. Nachdem verschiedene Organisationen, von denen vielleicht eine Gegenbewegung zu erwarten gewesen wäre, auf einen Referendumskampf verzichtet hatten, entschloss sich die « Ligue vaudoise » zu diesem Schritt. Die extrem föderalistische und rechtsbürgerliche Liga bezeichnete das RPG zusammen mit dem Konjunkturartikel als den schwerwiegendsten Angriff auf das, was von der kantonalen Autonomie noch übrig bleibe
[12].
In der noch offenen Frage der
Leitbilder, nach welchen gemäss RPG die schweizerische Raumordnung auszurichten ist, führte die Studie « CK-73 » der Chefbeamtenkonferenz des Bundes einen Schritt weiter. Der Vorschlag, der vom Büro des Delegierten für Raumplanung erarbeitet worden war und sich unter anderem auf die Vorarbeiten des ORL-Institutes (ETH Zürich) stützte, wurde vom Bundesrat als Grundlage für das Gespräch mit den Kantonen und für eine breite Meinungsbildung anerkannt. Das gesuchte Leitbild soll die Entwicklungsvorstellungen der Kantone und des Bundes vereinigen und Basis der Gesamtrichtpläne sein, welche die Kantone gemäss RPG innert fünf Jahren zu erstellen haben. Hauptziel des Entwurfs, der sich als Arbeitshypothese und Diskussionsgrundlage versteht, ist eine massvolle Dezentralisation der Besiedlung mit regionalen und überregionalen Schwerpunkten und damit eine ausgewogene Entwicklung aller Landesteile. Anstelle der fünf Ballungszentren Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf plant man 13 Grossstädte sowie ein Netz von Mittel- und Kleinstädten. Zu neuen Hauptzentren sollen Luzern, St. Gallen, Aarau/Olten, Biel/Neuenburg, Freiburg, Sitten/Siders, Bellinzona und Chur heranwachsen. Die Steuerungsmöglichkeiten bleiben allerdings insofern beschränkt, als von den geschaffenen Tatbeständen ausgegangen werden muss und für die nächsten 25 bis 30 Jahre lediglich mit einem Bevölkerungsanstieg auf 7,5 Mio gerechnet wird
[13].
Die Regierungen beider
Basel bereiteten Massnahmen vor, um den anhaltenden Entmischungsprozess von Einwohnern und Arbeitsplätzen in der Region Basel zu dämpfen. Während die Zahl der Einwohner in Basel-Stadt seit 1970 gesunken ist, hat sie in Basel-Land seit 1950 stark zugenommen. Planer rechneten damit, dass Basel-Land in Kürze mehr Einwohner zählen würde als Basel-Stadt
[14]. Die Probleme eines Ballungszentrums stellten sich in besonders akuter Form der Stadt und dem Kanton
Zürich, die schon seit Jahren versucht hatten, Entwicklungskonzepte festzulegen und durchzusetzen. Die Zürcher Regierung bemerkte in einem Bericht, der im Kantonsrat zur Debatte stand, dass das vor zehn Jahren entworfene Siedlungsleitbild des Kantons (« Echte Regionen und Regionalzentren ») weitgehend ohne Folgen geblieben sei. Als Haupthindernisse für eine staatliche Siedlungslenkung wurden die Niederlassungsfreiheit, die Handels- und Gewerbefreiheit und die Gemeindeautonomie bezeichnet
[15]. Die Stadt Zürich ihrerseits versuchte, mit einem vierbändigen Gutachten von Prof. H. Jürgensen ihre künftige Entwicklung in den Griff zu bekommen
[16]. Die Diskussion liess stark divergierende Standpunkte erkennen. Breiten wachstumsfeindlichen Strömungen innerhalb der Bevölkerung, die auf eine Förderung der Lebensqualität drängten, standen Wirtschaftskreise gegenüber, die von « unabdingbaren Konzentrationsbedürfnissen » sprachen
[17]. Der Zürcher Finanzvorstand M. Koller äusserte sich aus finanzieller Sicht skeptisch zu den Vorschlägen des Jürgensen-Berichts
[18]. Der Stadtrat versuchte in einer Standortbestimmung, einen mittleren Kurs zu steuern. Er wies darauf hin, dass das Wunschbild einer idyllischen Stadt in eklatantem Widerspruch zu den Forderungen nach perfekt organisierter Umwelt stehe. Er befürwortete eine « Atempause », die der Zürcher Bevölkerung Gelegenheit geben soll, sich « aus den Widersprüchen der Zeit herauszufinden », und wollte insbesondere davon absehen, « durch angeblich vielleicht populäre Massnahmen das heute noch blühende Zürcher Wirtschaftsleben zu gefährden »
[19].
[1] Vgl. SPJ, 1965, in SJPW, 6/1966, S. 191; SPJ, 1972, S. 100 f. ; 1973, S. 99 ; Werdende Raumplanung, ORL-Schriftenreihe, Nr. 19, Mai 1974 ; Schweizer Monatshef te, 54/1974-75, S. 547 ff. ; Plan, 30/1974, Heft 10 ; Wirtschaft und Recht, 26/1974, S. 145 ff., 163 ff. ; zur Durchführung des BMR in einzelnen Landesteilen vgl. NZ, 1, 2.1.74 ; NZZ, 23, 15.1.74 ; 32, 21.1.74 ; 365, 9.8.74 ; 416, 8.9.74 ; Bund, 13, 17.1.74 ; 45, 24.2.74 ; TA, 15, 19.1.74.
[2] NZZ, 477, 29.10.74. Die Walliser dokumentierten ihre die Autonomie der Grundbesitzer betonenden Auffassungen in Planungs- und Baufragen auch mit der Ablehnung eines neuen kantonalen Baugesetzes, das jenes aus dem Jahre 1924 hätte ersetzen sollen. Vgl. unten, Teil II, 4.
[3] Tätigkeitsbericht 1972/73, S. 3.
[4] Meningen : TA, 210, 11.9.74 ; Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 75/1974, S. 257. Tessin : NZZ, 404, 1.9.74 ; 452, 30.9.74 ; 492, 15.11.74.
[5] TA, 230, 4.10.74 ; NBZ, 315, 10.10.74 ; NZZ, 462, 11.10.74 ; Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 75/1974, S. 529.
[6] NZZ, 224, 16.5.74 ; Bund, 140, 19.6.74 ; 144, 24.6.74 ; NZ, 255, 17.8.74. Der Bundesrat hiess später die Beschwerde der Wohlener Bürger gut. Vgl. Bund, 82, 10.4.75.
[7] Vgl. SPJ, 1970, S. 116 ; 1971, S. 112 f. ; 1973, S. 100 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1 ff., 1123 ff., 1138 ff., 1333 ff., 1552 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 192 ff., 452 ff., 506 ff., 542 ; NZZ, 19, 13.1.74 ; TLM, 30, 30.1.74 ; Tw, 25, 31.1.74.
[8] NZZ, 27, 17.1.74 ; TG, 25, 31.1.74 ; Ldb, 27, 2.2.74 ; TLM, 33, 2.2.74.
[9] Tw, 26, 14.2.74 ; Tat, 29, 4.2.74 ; 225, 27.9.74 ; Ostschw., 31, 7.2.74 ; Ww, 41, 9.10.74.
[10] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 191 ff. ; TA, 127, 5.6.74.
[11] TA, 231, 5.10.74 ; NZ, 337, 28.10.74 ; Tat, 262, 9.11.74.
[12] La Nation, 961, 31.10.74 ; vgl. auch Ldb, 253, 1.11.74 ; Tat, 256, 2.11.74 ; Bund, 258, 4.11.74 ; VO, 260, 9.11.74. über die Haltung des Schweiz. Bauernverbandes vgl. unten, Teil III.
[13] Vgl. SPJ, 1973, S. 101, Anm. 16 ; Presse vom 22.2.74 ; Raumplanung Schweiz, Nr. 3, Juni 1974 ; Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 30/1974, Nr. 12.
[14] NZ, 173, 6.6.74 ; 253, 15.8.74 ; BN, 189, 15.8.74 ; NZZ (sda), 434, 19.9.74 ; 459, 8.10.74 ; vgl. auch. H. Briner, « Überwindung der Grenzen», in Die Schweiz, Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft, 45/1974, S. 73 ff.
[15] Bund, 77, 2.4.74 ; NZZ, 154, 2.4.74 ; 202, 3.5.74. Zum Beispiel der Siedlung « Göhnerswil »-Volketswil vgl. SPJ, 1972, S. 104, Anm. 136.
[16] TA, 44, 22.2.74 ; 243, 19.10.74 ; NZZ, 234, 22.5.74 ; 325, 16.7.74 ; 409, 4.9.74 ; 437, 20.9.74 ; Zürcher Student, 52/1974, Nrn. 1 u. 5.
[17] TA-Magazin, 3, 19.1.74 ; 16, 20.4.74 ; 19, 11.5.74 ; TA, 114, 18.5.74. Vgl. auch L. Burckhardt, « Die Entmenschlichung der Städte », in Die Schweiz, NHG-Jahrbuch, 45/1974, S. 86 ff.
[18] TA, 259, 7.11.74 ; Ldb, 259, 8.11.74 ; Konzept, 5, 20.5.74.
[19] TA, 217-219, 19.9.-21.9.74 ; Tat, 219, 20.9.74 ; NZZ, 444, 25.9.74 ; 447, 26.9.74. Vgl. auch Stadtpräsident S. Widmer in NZZ, 227, 17.5.74 und Stellungnahme des Stadtrates zum Jürgensen-Bericht in NZZ, 89, 22.2.74. Weitere Kommentare : NZZ, 414, 6.9.74 ; 504, 29.11.74.
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