Année politique Suisse 1974 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge
In den Verhandlungen über die Erneuerung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) ging es in erster Linie um die materielle Besserstellung der Arbeitnehmer
[32]. Für den im Vorjahr zustandegekommenen ersten Landes-Gesamtarbeitsvertrag im Gastgewerbe sprach der Bundesrat die erwartete Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) aus
[33]. Einiges Aufsehen erregten die Auseinandersetzungen im graphischen Gewerbe. Der von Arbeitgeberseite vorgeschlagene einheitliche GAV für den gesamten Wirtschaftszweig — er hätte die vier bisherigen Teilbranchen-Verträge ersetzen sollen — scheiterte nicht nur an Einwänden des Lithographenbundes, sondern vor allem an der konsequenten Verhandlungsverweigerung seitens des Typographenbundes
[34]. Dieser wollte zuerst seine Forderungen für einen Teuerungsausgleich, welche über die Vereinbarungen zwischen den Arbeitgebern und den drei übrigen betroffenen Gewerkschaften hinausgingen, separat geregelt haben
[35]. Wegen seiner durch die Gründung eines « Kampffonds » unterstrichenen unnachgiebigen Haltung blieben nebst verschiedenen Verhandlungsangeboten der Arbeitgeberseite auch ein Schlichtungsversuch der Eidgenössischen Einigungsstelle erfolglos
[36].
Eine gewisse
Verhärtung des sozialen Klimas wurde aber nicht nur in der graphischen Branche festgestellt
[37], sondern auch in der Maschinen- und Metallindustrie, wo man bereits seit dem Vorjahr über eine Erneuerung des Friedensabkommens verhandelte
[38]. Vehementen Widerstand leistete dabei besonders die von PdA-Mitgliedern beherrschte Genfer Sektion des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeitnehmerverbandes (SMUV) ; ihre Mitglieder nahmen insbesondere daran Anstoss, dass Grundsatzpostulate wie Anwendung des Abkommens auf Angestellte und Lehrlinge, absolute Schiedsgerichtsbarkeit, Anerkennung von Gewerkschaftsfunktionären als Arbeitnehmervertreter, Lohngleichheit für Mann und Frau sowie weitere materielle Forderungen nicht erfüllt werden sollten
[39]. Die Verbandsindustriekonferenz der Betriebsdelegierten des SMUV stimmte aber schliesslich dem vom Verbandspräsidenten H. Mischler als « vernünftiger Kompromiss » bezeichneten Verhandlungsergebnis im Verhältnis von 3 zu 1 zu
[40]. Diesem Entscheid schlossen sich die Gewerkschaften der übrigen Richtungen an, obwohl auch sie auf unerfüllte Postulate aufmerksam machten
[41].
Mit der formellen Zustimmung des Arbeitgeberverbandes Schweizerischer Maschinen- und Metall-Industrieller (ASM) wurde das seit 1937 bestehende Friedensabkommen für weitere vier Jahre erneuert. Dabei blieb zwar der Grundsatz der « Konfliktregelung am Verhandlungstisch » erhalten, vom konkreten Inhalt der Vereinbarung konnte sich aber keine Seite voll befriedigt erklären
[42]. Neben verschiedenen materiellen Verbesserungen wie Einführung des 13. Monatslohnes bis 1976 und Erweiterung des Ferienanspruches sah das Abkommen vor allem eine institutionalisierte Mitwirkung der Arbeitnehmer über obligatorische und auf Betriebsangehörige beschränkte. Betriebskommissionen sowie eine erhöhte Sicherung der Arbeitnehmer bei Betriebsschliessungen vor. Ferner sollte ein Partnerschaftsfonds gegründet werden, welcher unter anderem durch einen Solidaritätsbeitrag der nichtorganisierten Arbeitnehmer zu speisen wäre
[43]. Gegen diesen Finanzierungsmodus wurde eingewandt, er tangiere die Vereinigungsfreiheit, welche Gegenstand eines gerade ratifizierten Übereinkommens (Nr. 87) der Internationalen Arbeitsorganisation war
[44].
Von den 6 (1973: 2) eigentlichen Arbeitskonflikten führten deren 3 (0) zu kollektiven Arbeitsniederlegungen von mindestens einem Tag und verursachten bei 299 beteiligten Arbeitnehmern einen Ausfall von total 2777 Arbeitstagen
[45]. Aufsehenerregendste Aktion war die einmonatige Arbeitsniederlegung in einer Bieler Pianofabrik, mit der die Ausrichtung des im Gesamtarbeitsvertrag vereinbarten 13. Monatslohnes erzwungen wurde
[46]. Erwähnenswert ist ferner eine auch in Personalverbänden nicht unbestrittene Eingabe des Föderativverbandes, welche vom Bundesrat die Aufhebung des Streikverbotes für Bundesbeamte verlangte
[47].
[32] Vgl. die erneuerten GAV in der Heizungsbranche (NZZ, sda, 238, 25.5.74), in der Schokolade-Industrie (NZZ, sda, 454, 2.10.74), im Bankgewerbe (NZZ, sda, 457, 5./6.10.74), in der chemischen Industrie (BN, 160, 12.7.74 ; AZ, 172, 26.7.74 ; TA, 297, 21.12.74) ; ferner den neuen GAV für das Kader der Bekleidungsindustrie (Vat., 148, 29.6.74). Im Schreinereigewerbe (NZZ, 525, 24.12.74 ; TA, 300, 27.12.74) und im Metallgewerbe (Vat., 138, 18.6.74 ; NZZ, sda, 320, 13.7.74) scheiterten die Vertragserneuerungen.
[33] BBI, 1974, I, Nr. 23, S. 1582 ff.; vgl. auch SPJ, 1973, S. 116. Vgl. ferner den Stand der AVE von GAV (Die Volkswirtschaft, 47/1974, S. 442) und eine kritische Stimme zur Rechtsstaatlichkeit der AVE (NZZ, 459, 8.10.74).
[34] NZZ (sda), 225,-16.5.74 ; Buchbinder Kartonager, 12, 6.6.74.
[35] NZZ (sda), 128, 18.3.74 ; Buchbinder Kartonager, 6, 14.3.74 ; 9, 25.4.74 ; 12, 6.6.74. Vgl. auch SPJ, 1972, S. 120 f.
[36] gk, 9, 7.3.74 ; NBZ, 92, 22.3.74 ; LNN, 85, 11.4.74 ; NZZ (sda), 265, 11.6.74 ; (sda), 277, 18.6.74 ; 369, 12.8.74 ; 499, 23./24.11.74 ; BN, 263, 9.11.74.
[37] BN, 76, 30.3.74 ; gk, 14, 11.4.74 ; NZZ, 205, 5.5.74 ; Ldb, 110, 15.5.74 ; 116, 22.5.74 ; TA, 146, 27.6.74 ; GdL, 206, 5.9.74.
[38] NZZ, 295, 28.6.74 ; vgl. auch SPJ, 1973, S. 116 f.
[39] VO, 146, 28.6.74 ; JdG, 148, 28.6.74.
[40] NZ, 201, 30.6.74 ; TLM, 181, 30.6.74 ; NZZ, 298, 1.7.74 ; Tw, 149, 1.7.74 ; VO, 148, 1.7.74 ; JdG, 151, 2.7.74 ; gk, 23, 4.7.74.
[41] TA, 150, 2.7.74 (Schweiz. Verband evangelischer Arbeitnehmer und Landesverband freier Schweizer Arbeiter) ; NZ, 207, 6.7.74 ; CMV-Zeitung, 14/15, 10.7.74 (Christlicher Metallarbeiter-Verband).
[42] Bund, 154, 5.7.74 ; VO, 153, 6.7.74 ; TA, 156, 9.7.74 ; SAZ, 69/1974, S. 521 ff. Vgl. auch unten, Teil IIIb.
[43] Der Schweizer Arbeiter, 15, 18.7.74.
[44] Finanzierungsmodus : NZZ, 6, 5.1.74 ; 309, 7.7.74 ; Ww, 28, 10.7.74. Übereinkommen BBI, 1974, I, Nr. 24, S. 1647 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1216 f. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 572 ff.
[45] Die Volkswirtschaft, 48/1975, S. 64. Vgl. hierzu auch R. Schluep, Oberbordungsgefahren von Arbeitskonflikten in unserer Zeit, Bern 1973 ; H. Thalmann-Antenen, Die Institution der Sozialgerichtsbarkeit, Zürich 1974.
[46] Bund, 131, 9.6.74 ; 134, 12.6.74 ; 137, 16.6.74 ; 147, 27.6.74 ; 153, 4.7.74 ; 158, 10.7.74 159, 11.7.74 ; 161, 14.7.74 ; Tw, 132, 11.6.74 ; 134, 13.6.74 ; 137, 17.6.74 ; 141/142, 21./22.6.74 147/148, 28./29.6.74 ; 155, 8.7.74 ; 159/160, 12./13.7.74 ; NZ, 198, 28.6.74 ; 202, 1.7.74 ; 213, 11.7.74 gk, 24, 18.7.74.
[47] Vgl. unten, Teil III.
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