Année politique Suisse 1974 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
Die noch Ende 1973 veröffentlichten Vorschläge des Bundesrates für einen Nachtrag zur 8. Revision der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV) begegneten einer doppelten Opposition [4]. Einerseits wurde weiterhin kritisiert, dass keine 13. Monatsrente als Teuerungsausgleich für 1974 vorgesehen war. Um entsprechende Forderungen, besonders aus Rentnerkreisen, zu unterstreichen, organisierte die der PdA nahestehende AVIVO (Association suisse des vieillards, invalides, veuves et orphelins) einen Marsch auf Bern [5]. Anderseits wurde man sich in Arbeitgeber- und Sachverständigenkreisen immer stärker bewusst, dass es sich bei der beantragten Dynamisierung — einer mehr oder weniger automatischen Anpassung sowohl der Alt- als auch der Neurenten an die Lohnentwicklung — nicht 'nur um einen blossen Nachtrag zur 1972 verabschiedeten 8. Revision, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Neuerung handelte. Da deren wirtschaftliche Folgen noch kaum überblickbar waren, forderte man eine gründlichere Überprüfung, die nicht unter Zeitdruck stehen sollte [6]. All diesen Einwänden trug die vorberatende Kommission des Nationalrates Rechnung. Sie stellte den Aspekt der Dynamisierung zurück und verlangte hierzu einen ergänzenden Bericht. Zudem arbeitete sie die Regierungsvorschläge um und beantragte als Übergangslösung, dass man 1974 eine 13. Monatsrente zum Ausgleich der Teuerung ausrichte, die Ergänzungsleistungen entsprechend anpasse, Baubeiträge an Altersheime ermögliche sowie auf Neujahr 1975 alle Renten einheitlich um 25 % erhöhe ; das Gesetz von 1972 hatte für Altrenten eine Heraufsetzung um nur 20 % vorgesehen [7]. Die nicht budgetierte und wegen ihrer Inflationswirkung nicht unbestrittene zusätzliche Monatsrente sollte dabei aus dem AHV-Fonds finanziert werden, wie es in SP-Kreisen wiederholt gefordert worden war [8].
Diese Anträge fanden in beiden Räten deutliche Mehrheiten, wobei verschiedene auf eine Schmälerung der Leistungen abzielende Vorstösse abgelehnt wurden. Freilich waren auch etliche Mahnungen unüberhörbar, die auf die herrschende Inflation und die leeren Kassen der öffentlichen Hand hinwiesen und erneut die Frage der Grenzen der Sozialpolitik aufwarfen. Überdies wünschten verschiedene Parlamentarier, dass der verlangte Zusatzbericht überschaubare Grundlagen schaffe, damit in der komplexen Materie nicht nur die Experten, sondern auch die Politiker wieder mit Sachkompetenz entscheiden könnten [9]. Trotz dieser deutlichen Kritik beharrte die Eidgenössische AHV/IV-Kommission ihrerseits mit knapper Mehrheit auf der von ihr vorgeschlagenen Dynamisierung [10].
Neben den Arbeiten an dieser Gesetzesrevision waren noch weitere Bemühungen um einen Ausbau des grossen Sozialwerks zu verzeichnen [11]. So bildeten Probleme der Altersversicherung das Hauptthema der Auslandschweizertagung [12]. In verschiedenen Vorstössen wurde der Einbezug des Personals ausländischer diplomatischer Missionen in die Versicherungspflicht gefordert [13]. Zwei Gruppierungen der « Neuen Linken » lancierten überdies eine Volksinitiative für die Herabsetzung des AHV-Rentenbezugsalters [14]. Vermehrte Aufmerksamkeit schenkte man aber auch den Fragen der Betreuung und Rehabilitation alter und behinderter Mitmenschen [15].
 
[4] Vgl. SPJ, 1973, S. 121.
[5] Kritik und Forderung : AZ, 5, 8.1.74; gk, 2, 17.1.74; VO, 20, 25.1.74; NZZ (sda), 83, 19.2.74 ; Bund, 52, 4.3.74. Demonstration : Bund, 113, 16.5.74; TG, 113, 16.5.74; VO, 111, 16.5.74 ; vgl. hierzu auch Distanzierung StR Eggenbergers (sp, SG), Präsident des Schweiz. AHV-Rentnerverbandes (Amtl. Bull. StR, 1974, S. 183; NZ, 218, 15.7.74). AVIVO : VO, 272, 23.11.74.
[6] Arbeitgeber : NZZ, 40, 25.1.74; BZ, 33, 9.2.74. Sachverständige : NZZ, 29, 18.1.74; 40, 25.1.74 ; 49, 30.1.74 ; 74, 14.2.74; 123, 14.3.74 ; 436, 20.9.74 ; 508, 4.12.74. Vgl. ferner : Bund, 15, 20.1.74 ; NZZ, 31, 20.1.74 ; 194, 28.4.74 ; SPJ, 1972, S. 123 f.
[7] NZZ, 67, 10.2.74 ; 70, 12.2.74 ; Ldb, 36, 13.2.74 ; BN, 40, 16.2.74 ; NBZ, 60, 23.2.74 ; TA, 49, 28.2.74. Vgl. auch SPJ, 1972, S. 123.
[8] Finanzierung : Tw, 19, 24.1.74 ; 60, 13.3.74 ; SAZ, 69/1974, S. 167. Gegner: NZ (ddp), 27, 25.1.74 (FDP) ; NZZ, 86, 21.2.74 und Ldb, 50, 1.3.74 (Referendumsdrohung in Landwirtschaftskreisen).
[9] BBl, 1974, II, Nr. 27, S. 139 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 455 ff., 843 f. und 1086; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 173 ff., 393 ; NZZ, 125, 15.3.74 ; 131, 19.3.74; 268, 13.6.74; 527, 28./29.12.74; Ldb, 72, 28.3.74 ; 133, 13.6.74. Vgl. auch : wf, Artikeldienst, 12, 18.3.74; 19, 165.74; 19, 6.5.74 ; Politische Rundschau, 53/1974, S. 1 ff.
[10] NZZ (sda), 417, 9.9.74; 469, 19./20.10.74 ; 475, 26./27.10.74 ; TA, 195, 24.8.74; 209, 10.9.74 ; Bund, 238, 11.10.74 ; 290, 11.12.74.
[11] Vgl. auch die Rechnungen 1973 (BBI, 1974, II, Nr. 30, S. 238 ff.; NZZ, sda, 306, 5.7.74 ; sda, 357, 5.8.74; sda, 516, 13.12.74), ferner ein Postulat Allgöwer (ldu, BS) betr. Abtretung und Pfändung von AHV-Renten (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1716 f.).
[12] TA, 196, 26.8.74. Vgl. hierzu auch Kleine Anfrage Dafflon (pda, GE) in Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1555 f.
[13] Vgl. hierzu eine Kleine Anfrage und ein Postulat Ziegler (sp, GE) (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1104, 1275 f.) sowie eine Petition der Betroffenen an den NR (JdG, 42, 20.2.74).
[14] Es sind dies die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) sowie der Partito socialista autonomo (PSA) (POCH-Zeitung, 12, 21.2.74 ; Ldb, 41, 19.2.74; BN, 42, 19.2.74; NZ. 57, 20.2.74).
[15] So entstand im Aargau ein neuartiges Altersheimkonzept (LNN, 26, 1.2.74). Vgl. ferner zum Heimwesen : NZZ, 3, 3.1.74; Bund, 53, 5.3.74. Betreuung : Bund, 178, 2.8.74 ; 247, 22.10.74 ; U.F. Sutter, Altersbetreuung, Teufen 1973. Rehabilitation : NZZ, 202, 3.5.74 ; 480, 1.11.74. Der BR beschloss zudem den Beitritt zu einer Teilvereinbarung des Europarates über das Sozialwesen und die öffentliche Gesundheit (NZZ, 453, 1.10.74).