Année politique Suisse 1974 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Ausländerpolitik
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Dritte Überfremdungsinitiative
In der Ausländerpolitik beherrschte die Auseinandersetzung um die von der Nationalen Aktion 1972 eingereichte dritte Überfremdungsinitiative die Szene. Der Bundesrat hatte im Dezember des Vorjahres dem Parlament den Antrag auf Ablehnung ohne Gegenvorschlag gestellt und damit begründet, dass seine seit März 1970 konsequent verfolgte Politik einer Stabilisierung der ausländischen Arbeitskräfte bereits eine Alternative zum Volksbegehren bilde [1]. In der Ablehnung der Initiative stimmten weite Kreise mit ihm überein, in der Frage eines Gegenvorschlages waren diese jedoch geteilter Meinung. Negativ äusserten sich, ausser Arbeitgeberkreisen, die Eidgenössische Konsultativkommission für Ausländerfragen (EKA) sowie das « Komitee Schweiz 80 » [2]. Sie wollten das Problem auf Gesetzesstufe gelöst sehen, wofür sie den bestehenden Verfassungsartikel 69 ter als genügend erachteten. Die dafür in Aussicht genommene Revision des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer sollte aber nicht unter Zeitdruck stehen, weshalb sie wünschten, dass zuvor die Initiative isoliert erledigt werde. Demgegenüber wollten besonders Gewerkschaftskreise nicht mehr wie 1970 « mit leeren Händen » vor das Volk treten und drängten auf einen Gegenvorschlag [3]. Auch die NZZ glaubte, mit einer Alternative würde das Abstimmungsrisiko vermindert, indem diese eine Koalition gegen die Initiative zu schaffen vermöchte, an der die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, im Gegensatz zur Kampagne um die zureite Überfremdungsinitiative im Jahre 1970, mit vollem Engagement beteiligt wären [4]. Für einen Gegenvorschlag plädierten schliesslich auch Vertreter der Republikaner, namentlich J. Schwarzenbach, der damit erneut von der Initiative der Nationalen Aktion abrückte. Sein Parteikollege Reich (ZH) brachte im Nationalrat eine Einzelinitiative ein, die einen Abbau der ausländischen Bevölkerung in erster Linie durch Einwanderungsbeschränkungen zu erreichen strebte, ausserdem aber eine Revision von Niederlassungsverträgen in Betracht zog [5].
Die parlamentarische Behandlung begann im März im Nationalrat, wo es zu einer ausserordentlich heftigen Debatte kam. Die vorberatende Kommission der Grossen Kammer beantragte mehrheitlich, dem Bundesrat zuzustimmen und die Initiative ohne Gegenvorschlag abzulehnen. Zwei Minderheiten traten für unterschiedliche Gegenvorschläge ein. Während der Gewerkschafter Canonica (ZH) als Sprecher der Sozialdemokraten für einen Verfassungsartikel eintrat, welcher abtimmungstechnisch ein der Initiative gleichwertiges Instrument wäre, wollte sich F. Jaeger (Idu, SG) im Namen einer weiteren Gruppe allenfalls mit einer Gesetzesrevision begnügen. J. Schwarzenbach (rep, ZH), dessen Republikanische Bewegung eben ihre eigene, die vierte Überfremdungsinitiative eingereicht hatte, distanzierte sich nunmehr in aller Schärfe vom Volksbegehren der Nationalen Aktion ; deren Vertreter sahen sich dadurch im Rate isoliert. Keiner der gestellten Anträge für einen Gegenentwurf enthielt konkrete mengenmässige oder zeitliche Begrenzungen ; alle begnügten sich damit, den Grundsatz eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen schweizerischer und ausländischer Wohnbevölkerung zu verankern. Bundesrat Furgler selbst wandte sich eindringlich und wohl entscheidend gegen diskriminierend wirkende Verfassungsbestimmungen über zahlenmässige Grenzen und lehnte es ab, ein derart massloses und unsorgfältiges Volksbegehren mit einem Gegenvorschlag zu honorieren. Recht knapp sprach sich darauf der Rat mit 94 zu 74 Stimmen gegen einen Gegenvorschlag aus ; er entschied sich aber eindeutig — das Verhältnis lautete 121 zu 4 — für die Ablehnung der Initiative [6]. In der Sommersession folgte der Ständerat einstimmig diesem Entscheid, nachdem er einen Antrag Weber (sp, SO) zugunsten eines Gegenvorschlages mit 39 zu 4 Stimmen abgelehnt hatte [7].
Im Abstimmungskampf verteilten sich die politischen Gruppierungen wie schon vor dem 7. Juni 1970 sehr ungleich auf die beiden Lager. Ausser der Nationalen Aktion als Initiantin gaben nur gerade die Zürcher Republikaner (ohne Schwarzenbach), eine Bauerngruppe aus dem Kanton Schwyz sowie ein Zürcher « Komitee freie Schweiz » die Ja-Parole aus [8]. Die Schweizerische Republikanische Bewegung wich mit der Stimmfreigabe einer parteiinternen Zerreissprobe aus. Ebenso entschieden die Aargauer Republikaner und die Genfer Vigilance [9]. Alle übrigen Parteien, die Spitzenverbände der Wirtschaft sowie zahlreiche weitere Vereinigungen legten dem Stimmbürger ein Nein nahe [10]. Auch James Schwarzenbach bezeichnete die Initiative als selbstmördérisch und Nationalrat Bräm, Fraktionschef der aus dem Streit innerhalb der Rechtsparteien hervorgegangenen freirepublikanischen und nationalen Fraktion, distanzierte sich in letzter Minute ebenfalls von ihr [11]. Auf der Seite der Befürworter dominierte eindeutig die Person Valentin Oehens. Der Kampf wurde wie 1970 stark emotional geführt ; in den Vordergrund rückte man das Motiv, der Bundesrat verdiene wegen ungenügender Massnahmen zum Abbau der Überfremdung einen Denkzettel [12]. Auf der Gegenseite standen ein Aktionskomitee « gegen den Hinauswurf von 500 000 Ausländern » mit alt Bundesrat Nello Celio als Präsident sowie zahlreiche kantonale und lokale Komitees [13]. Mit grossem Propagandaaufwand wurde die Warnung verbreitet, dass der von der Initiative geforderte massive Hinauswurf von Ausländern auch die Arbeitsplätze vieler Schweizer gefährden würde und unliebsame Konsequenzen in der Sozialpolitik, insbesondere für die AHV, haben könnte [14]. Ausserdem wies man auf die menschlichen Härten für die Betroffenen, auf die Notwendigkeit eines Bruches von Niederlassungsverträgen sowie auf das damit verbundene Risiko von Retorsionsmassnahmen gegenüber mehr als 300 000 Auslandschweizern hin ; der Initiative wurden auch rechtsstaatliche Mängel zum Vorwurf gemacht [15].
Auf die Frage, wie rund eine halbe Million Ausländer innert dreier Jahre ausgeschafft werden sollten, gaben die Initianten keine klare Auskunft ; es wurde von « Handgeldern » für die Betroffenen gesprochen, und Nationalrat Oehen erkundigte sich beim EJPD sogar über die Möglichkiet einer dringlichkeitsrechtlichen Korrektur der Initiative [16]. Die Ungewissheit des Ausganges und die dadurch bewirkte Nervosität wurden durch die Ergebnisse verschiedener Meinungsumfragen, welche einen äusserst knappen Entscheid bei hoher Stimmbeteiligung prognostizierten, noch verschärft [17]. So griffen auch die Bundesräte in die Kampagne ein. Im Auftrag der Landesregierung warnte Bundespräsident Brugger eine Woche vor der Abstimmung über Radio und Fernsehen eindrücklich vor gefühlsmässigen Kurzschlüssen. Dies löste bei den Zürcher Republikanern einen Protest wegen « Verstosses gegen die Regeln der Demokratie » aus [18].
Am 20. Oktober wurde die Initiative mit 1 691 632 Nein gegen 878 891 Ja überraschend stark verworfen. Die Stimmbeteiligung lag mit 70,3 % nur wenig unter derjenigen der Überfremdungsabstimmung von 1970 (74,7 %), an welcher die Frauen noch nicht teilgenommen hatten ; sie war in allen Kantonen ähnlich hoch. Sämtliche Stände lehnten ab. Wie 1970 wiesen einerseits Arbeitersiedlungen und anderseits stark bäuerliche Gebiete die höchsten Befürworteranteile auf ; doch hatten die Prozentsätze der Ja-Stimmen in den nichtdeutschsprachigen Kantonen und in der Innerschweiz stärker abgenommen als in den übrigen Landesteilen [19]. Seitens der Nationalen Aktion sprach man von Irreführung und Nötigung der Stimmbürger durch eine massive Propaganda. Die Gegner der Initiative atmeten jedoch erleichtert auf. Dies gilt auch für die Emigrationsländer, in welchen man von der Rückwanderung zusätzliche Arbeitslosigkeit befürchtet hatte [20].
 
[1] Vgl. SPJ, 1973, S. 111 ; BBl, 1974, I, Nr. 5, S. 190 ff.
[2] wf, Dokumentations- und Pressedienst, 7, 18.2.74; NZZ, 112, 8.3.74 (Arbeitgeber) ; NZ, 20, 19.1.74 (EKA) ; 'NZZ, 44, 28.1.74 (Komitee Schweiz 80) ; ferner : BN, 59, 11.3.74 (Oehen).
[3] TA, 31, 7.2.74 und gk, 6, 14.2.74 (SGB) ; NZZ (sda), 87, 21.2.74 (VSA). Vgl. auch SPJ, 1970, S. 131 ; ferner : Vat., 29, 5.2.74 (CVP-Präsidium).
[4] NZZ, 28, 18.1.74 ; 91, 24.2.74.
[5] Schwarzenbach : Der Republikaner, 2, 1.2.74; NZZ (sda), 88, 22.2.74; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 416. Reich : Ldb, 42, 20.2.74; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1085 f. (Abschreibung durch den Rat).
[6] NZZ, 67, 10.2.74 (Kommission) ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 396 ff. (Plenum), S. 447 ff. (BR Furgler), S. 454 und 1086 (Abstimmungen).
[7] Amtl. Bull. StR, 1974, S. 363 ff., 393.
[8] TA, 112, 16.5.74 (Rep. ZH) ; 233, 8.10.74 (Komitee) ; Vat., 238, 14.10.74 (Bauern SZ).
[9] Tat, 221, 23.9.74 (Rep. Schweiz) ; Vat., 232, 7.10.74 (Rep. AG) ; TG, 224, 26.9.74 (Vigilance).
[10] Parteien : NZZ (sda), 405, 2.9.74 (SPS) ; (sda), 412, 5.9.74 (SVP) ; 429, 16.9.74 (EVP und Liberalsozialisten) ; (sda), 457, 5./6.10.74 (PdA) ; Ostschw., 204, 2.9.74 (CVP) ; Bund, 222, 23.9.74 (FDP) ; Tat, 221, 23.9.74 (LdU). Gewerkschaften : gk, 28, 5.9.74 (SGB) ; NZZ, 415, 7.9.74 (CNG) ; (sda), 432, 18.9.74 (SVEA) ; (sda), 446, 26.9.74 (LFSA). Wirtschaftsverbände : NZZ, 303, 3.7.74 (Schweiz. Handelskammer) ; 438, 21.9.74 (Schweiz. Fremdenverkehrsverband) ; NZ, 287, 14.9.74 (Gewerbe) ; BN, 215, 14.9.74 (Vorort). Vgl. ferner : NZZ (ddp), 417, 9.9.74 (Schweiz. Arbeitsgemeinschaft für Bevölkerungsfragen) ; Vat., 228, 2.10.74 (Kath. Frauenbund).
[11] Schwarzenbach : NZZ, 424, 12.9.74; vgl. auch : J. Schwarzenbach, Die Überfremdung der Schweiz wie ich sie sehe, Zürich 1974. Bräm : NZZ, 468, 18.10.74. Vgl. ferner unten, Teil IIIa.
[12] Oehen : NZZ, 422, 11.9.74 ; Vat., 219, 21.9.74; NZ, 305, 30.9.74 ; BN, 235, 8.10.74; BZ, 237, 10.10.74; TA, 235, 10.10.74. Emotionen : NZZ, 457, 5./6.10.74; TA, 236, 11.10.74; Bund, 253, 29.10.74.
[13] Aktionskomitee : JdG, 152, 3.7.74. Hinauswurf : Es hätten rund 560 000 Ausländer, je nach Kanton betrifft dies zwischen 10,5 % (NW) und 72 % (TI), die Schweiz verlassen müssen (GdL, 9, 12./13.1.74), vgl. hierzu auch : Fremdarbeiter Überfremdung. Dokumentation zur überfremdungsinitiative III, Zürich, Wirtschaftsförderung, 1974 ; gk, 29, 12.9.74.
[14] Vgl. Vgl. Erhebungen über mögliche Auswirkungen im Allgemeinen : Ww, 25, 19.6.74 und NZZ, 284, 22.6.74 (Gutachten Kneschaurek) ; 439, 22.9.74. Regional : NZ, 196, 26.6.74 (Basel-Stadt) ; 286, 13.9.74 (Aargau) ; TG, 172, 26.7.74 und 223, 25.9.74 (Genf) ; 203, 31.8./1.9.74 (Waadt) ; NZZ (sda), 452, 30.9.74 (Tessin) ; 453, 1.10.74 (Zürich) ; 460, 9.10.74 (Bern). Sektoral : TA, 68, 22.3.74 (Bekleidung) ; NZZ, 282, 21.6.74 (Maschinen) ; Vat., 165, 19.7.74 (Landwirtschaft) ; BZ, 196, 23.8.74 (Berggebiete). AHV : SZ, 195, 24.8.74 ; TG, 212, 12.9.74 ; NZZ, 425, 13.9.74 ; JdG, 236, 10.10.74.
[15] Verträge : BN, 242, 16.10.74. Mängel : NZZ, 449, 27.9.74. Auslandschweizer : NZZ, 334, 22.7.74 ; Bund, 239, 13.10.74.
[16] Handgeld: NZ, 325, 18.10.74. Notrecht : TA, 206, 6.9.74 ; NZZ, 463, 12./13.10.74.
[17] Unsicherheit : NZZ, 404, 1.9.74. Meinungsumfragen : Ww, 11, 13.3.74 (40 % Ja, 46% Nein) ; 25, 19.6.74 (38 % Ja, 51 % Nein) ; JdG, 205, 3.9.74 (43 % Ja, 56 % Nein) ; vgl. ferner NZ, 271, 31.8.74.
[18] Bundesräte : LNN, 240, 16.10.74 (Furgler) ; TLM, 272, 29.9.74 (Graber) ; NZ, 321, 14.10.74 (Ritschard) ; NZZ, 467, 17.10.74 (Brugger). Radio- und Fernsehansprache : NZZ (sda), 463, 12./13.10.74. Protest : TG, 238, 12./13.10.74.
[19] BBI, 1974, II, Nr. 48, S. 1353 ff. ; Presse vom 21.10.74. Vgl. ferner verschiedene wissenschaftliche Analysen der Abstimmungsresultate in : NZ, 333, 25.10.74; Bund, 255, 31.10.74; Lib., 27, 2./3.11.74 ; NZZ, 490, 13.11.74.
[20] NA : NZZ (sda), 476, 28.10.74 ; ferner NZZ (sda), 477, 29.10.74. Reaktionen im Inland : Presse vom 22. u. 23.10.74 ; im Ausland u.a. : LNN, 245, 22.10.74 ; TA, 245, 22.10.74; GdL, 248, 24.10.74. Befürchtungen : Vat., 12, 16.1.74 ; Ldb, 241, 18.10.74 ; TG, 243, 18.10.74.