Année politique Suisse 1974 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Ausländerpolitik
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Stabilisierung der ausländischen Wohnbevölkerung
Nachdem der Bundesrat bereits 1973 praktisch eine Stabilisierung der ausländischen Arbeitskräfte erreicht hatte, kündigte er im Vorfeld der Abstimmung vom 20. Oktober als nächstes Teilziel eine Stabilisierung der gesamten ausländischen Wohnbevölkerung bis 1980 an [26]. Dieses neue Ziel strebte er durch eine Ausdehnung der Zulassungsbeschränkung auf alle Betriebe an ; dadurch wurden nun auch die Spitäler, Lehrbetriebe und die Landwirtschaft betroffen. Den Kantonen steht bloss noch ein Kontingent von 18 000 Bewilligungen für neue Jahresaufenthalter zur Verfügung, wobei sie in der Zuteilung auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft, des Gesundheits- und des Bildungswesens besondere Rücksicht zu nehmen haben. Weitere 2500 Bewilligungen hält das BIGA für Sonderfälle in Reserve [27]. Die neue Verordnung wurde von den Gewerkschaften im allgemeinen begrüsst, von der Nationalen Aktion dagegen als völlig ungenügend disqualifiziert [28]. In wirtschaftlich schwächeren oder auf Grenzgänger angewiesenen Kantonen sowie im Gesundheitswesen bezeichnete man diese Regelung als hart, da man befürchtete, die benötigten Arbeitskräfte nicht mehr finden zu können [29]. Proteste aus Hochschulkreisen bewirkten eine liberalere Interpretation des Beschlusses bezüglich der Zulassungsbeschränkungen von Doktoranden und nicht angestellten Gastdozenten, welche einen wichtigen Bestandteil des Forschungsbetriebes an unseren Hochschulen bilden. 'Hier hätte wegen der starken Rotation eine schematische Anwendung der Beschränkungen besonders einschneidend gewirkt [30].
In ihren politischen Tätigkeiten waren die Ausländer im Abstimmungsjahr eher zurückhaltend. Um der Propaganda der Initianten nicht neue Nahrung zu liefern, beschloss der Bundesrat im Februar, aus dem Ausland einreisenden Persönlichkeiten das Reden bei Kundgebungen zu verbieten. Wie in anderem Zusammenhang erwähnt, wurde ein solches Verbot anlässlich einer hauptsächlich von spanischen Emigranten besuchten Grosskundgebung in Genf missachtet. Ausserdem überreichten die beiden grossen Emigrantenorganisationen, die Federazione delle Colonie Libere Italiane (FCLI) und die Asociación de Trabajadores Emigrantes Espanoles en Suiza (ATEES), der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf ein Dokument, in welchem sie sich über eine Diskriminierung der Fremdarbeiter in der Schweiz beklagten. Diese Diskriminierung äussere sich vorwiegend im Bereich der Sozialvorsorge, aber auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und treffe besonders die Saisonniers und die Grenzgänger. Die FCLI opponierte ferner einem Beschluss des St. Galler Erziehungsrates, welcher die Schaffung reiner Ausländerschulklassen vorsah, da solche Klassen die Kinder isolieren und zur Ghettobildung treiben würden. Gemeinsame Manifestationen der linken italienischen Gruppierungen in der Schweiz dienten schliesslich der Vorbereitung einer für 1975 in Italien vorgesehenen nationalen Emigrationskonferenz [31].
 
[26] Stand der erwerbstätigen Ausländer am 31.8.74: Jahresaufenthalter : 288 575 (- 33 938 gegenüber 1973), Niedergelassene : 309 650 (+ 33 082), Saisonarbeiter : 151 962 (- 41 804), Grenzgänger : 110 809 (+ 6236). Die für die Überfremdung relevanten Jahresaufenthalter und Niedergelassenen haben zusammen innert Jahresfrist um 856 (0,1 %) abgenommen ; in allen vier Kategorien zusammen ist eine Abnahme von 36 424 (4,1 %) festzustellen (Die Volkswirtschaft, 47/1974, S. 688 ff.) ; vgl. ferner : NZZ, 426, 13.9.74. Stand der ausländischen Wohnbevölkerung am 31.12.74: 1 064 526 (31.12.73: 1 052 505) (Bund, 57, 10.3.75). Vgl. hierzu auch kritische Stimmen : Vat., 87, 16.4.74 (Oehen und Schwarzenbach) ; H.R. Bachofner, Verfassungstreue und Verfassungsbruch, dargestellt am Problem der, Überfremdung und Übervölkerung der Schweiz, Zürich 1974.
[27] AS, 1974, Nr. 26, S. 1201 ff. ; NZZ, 314, 10.7.74 (BR Brugger) ; ferner die Presse vom 10.7.74.
[28] Gewerkschaften : NZZ (sda), 261, 9.6.74 (CNG) ; Bund, 137, 16.6.74 (SGB). NA : NZZ; 240, 27.5.74 ; Tat, 166, 18.7.74. Vgl. ferner : NZZ, 273, 16.6.74 ; 321, 14.7.74; Bund, 158, 10.7.74 ; TLM, 191, 10.7.74.
[29] Gesundheitswesen : Bund, 137, 16.6.74 (VESKA) ; Ostschw., 143, 22.6.74 (Sanitätsdirektoren-Konferenz) ; JdG, 143, 22./23.6.74 (Kantonsärzte) ; ferner hierzu; Bund, 161, 14.7.74. Kantone : NZZ (sda), 219, 13.5.74 (Schaffhausen) ; 284, 22.6.74 (Zürich) ; (sda), 345, 28.7.74 und 419, 10.9.74 (Schwyz) ; Ostschw., 159, 11.7.74 (St. Gallen) ; 203, 31.8.74 (Thurgau) ; LNN, 160, 13.7.74 und 165, 19.7.74 (Luzern).
[30] Hochschulproteste : NZZ, 482, 4.11.74 (ETHZ) ; (sda), 494, 18.11.74 .(St: Gallen) ; TA, 245, 22.10.74 (Basel) ; 259, 7.11.74 (Univ. Zürich). Interpretation : NZZ, 502, 27.11.74 ; TA, 295, 19.12.74.
[31] Verbot : TA, 241, 17.10.74. Missachtung : JdG, 144, 24.6.74 ; vgl. ferner oben, Teil I, 1b und 2. Dokument : Ostschw., 146, 26.6.74 ; TG, 146, 26.6.74. St. Gallen : TA, 54, 63.74 ; 59, 12.3.74 ; NZZ, 333, 21.7.74. Manifestationen : NZZ, 35, 22.1.74 ; VO, 40, 18.2.74.