Année politique Suisse 1974 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Forschung
Auch die Forschungspolitik stand im Zeichen der veränderten Finanzlage. Im Bereich der Forschungsförderung durch den Bund, die hauptsächlich in der Finanzierung und Subventionierung der Hochschulen und der bundeseigenen Forschungstätten [55] besteht, ging es 1974 besonders um die Beiträge des Bundes an den Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Dieser hatte im Dezember 1973 um eine wesentliche Erhöhung der Subventionen ersucht. Nachdem der Wissenschaftsrat — als beratendes Organ des Bundesrates — die Eingabe begutachtet und seinerseits für die Jahre 1975-79 einen Mittelbedarf von 810 Mio Fr. als gerechtfertigt bezeichnet hatte, gelangte der Bundesrat im März mit einer Botschaft an die eidgenössischen Räte [56]. Diese sah neben Aufwendungen von 710 Mio Fr. noch für 20 Mio Fr. Beiträge an die Infrastrukturausgaben der Krebsforschung vor. Die Vorlage war in beiden Räten umstritten und gab Anlass zu längeren forschungspolitischen Debatten. Die Gegner kritisierten die vom SNF ausgeübte Förderungspraxis und forderten eine schärfere Selektion der Projekte. Bundesrat Hürlimann unterstrich die fundamentale Bedeutung der Forschung für die Zukunft der Schweiz und wies darauf hin, dass die Abstriche vom nur Wünschbaren auf das Notwendige bereits vorgenommen worden seien. Nachdem sich der Nationalrat im Juni mit 84 gegen 64 Stimmen hinter die Vorlage gestellt hatte, folgte die Kleine Kammer im Herbst — offensichtlich unter dem Eindruck der sich verschärfenden Finanzprobleme — einem Kommissionsantrag, der eine Kürzung auf 660 Mio Fr. vorsah. Der Nationalrat stimmte kurz darauf dieser Sparübung zu ; sie trug nach Auffassung ihrer Gegner weitgehend Alibicharakter [57]. Am Jahresende stand freilich noch nicht fest, ob nicht auch der gekürzte Beitrag aufgrund der finanzpolitischen Entwicklung noch weiter reduziert werde. Der neue Bundesbeschluss sieht vor, dass der Bundesrat dem SNF die Durchführung von nationalen Forschungsprogrammen im Ausmass von insgesamt 12 % der Totalsumme übertragen kann. Der Bund erhielt damit die verschiedentlich geforderte Möglichkeit [58].
Schwerpunkte zu setzen und die zielorientierte, d.h. auf gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ziele ausgerichtete Forschung vermehrt zu fördern. Die Hauptaufgaben des SNF waren bisher die Förderung der Grundlagenforschung und des wissenschaftlichen Nachwuchses gewesen. Die « nationalen Programme », deren Festlegung noch aussteht, sind nach Prof. H. Aebi, dem Präsidenten des Wissenschaftsrates, Chance und Gefahr zugleich. Einerseits biete sich die Chance, das Forschungspotential vermehrt zugunsten der wichtigsten Probleme unserer Zeit einzusetzen, andrerseits bestehe die Gefahr, dass der zweckfreien Grundlagenforschung zusätzliche Mittel entzogen würden. Prof. Aebi befürchtete zudem, dass diese Programme zu Dienstleistungen missbraucht werden könnten [59].
Der 1973 vom Wissenschaftsrat veröffentlichte « Forschungsbericht » löste ein breites Echo aus. Unüberhörbar war der Ruf, dass im Zeichen der knapperen Mittel die Kooperations- und Rationalisierungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft werden müssten und alle Projekte einer strengen Erfolgskontrolle zu unterwerfen seien. In der Frage nach den Instanzen, welche den notwendigen Abbau und die Prioritätensetzung vorzunehmen haben, waren die Meinungen allerdings geteilt [60]. Die vom Forschungsbericht zur besonderen Förderung empfohlenen neueren Sozialwissenschaften bildeten wiederholt Gegenstand kritischer Auseinandersetzung [61]. Wohl hatte in den Vorjahren die Einsicht immer mehr an Raum gewonnen, dass gerade diese Fachgebiete für die Lösung der sozialen Probleme der industriellen Gesellschaft wichtige Beiträge liefern können, doch ist ihr Entwicklungsstand in der Schweiz immer noch ungenügend. So blieben ihre Leistungen, wie sich exemplarisch an den Diskussionen um die Zürcher Untersuchung über die Stellung der Frau zeigte [62], vielfach umstritten. In den sarkastischen Bemerkungen, die in den Debatten zur Forschungsförderung und in der Presse laut wurden, sahen manche freilich auch eine Tendenz, unbequeme und den gängigen Ideologien widersprechende Forschungsergebnisse aus der Welt zu schaffen. Die Schweizerische Gesellschaft für Soziologie versuchte der 'Situation durch die Veröffentlichung von « Vorschlägen für einen Entwicklungsplan der Soziologie in der Schweiz » zu begegnen [63]. Das Ziel der in Strassburg gegründeten Europäischen Wissenschaftsstiftung (ESF, European Science Foundation) ist es, Forschungsprogramme und -infrastrukturen auf europäischer Ebene zu koordinieren. Die Schweiz ist mit dem SNF Mitglied dieser Stiftung, die mithelfen will, eine « European Scientific Community » zu verwirklichen [64].
Bedeutende Aufwendungen erforderte nach wie vor die Erforschung und Nutzung der Kernenergie. Ein bundesrätlicher Bericht beleuchtete Entwicklung, Organisation und Arbeitsprogramm des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung in Würenlingen (EIR), das zurzeit bei einem jährlichen Betriebsaufwand von über 40 Mio Fr. rund 600 Mitarbeiter beschäftigt. Er stellte fest, dass das EIR im Rahmen der Erschliessung der Kernenergie für die Energieversorgung der Schweiz unerlässliche Aufgaben bewältige und mehr denn je zuvor nötig sei. Er beseitigte damit jene Zweifel über die Daseinsberechtigung des Instituts, die 1969 nach dem Scheitern hochfliegender Reaktorpläne entstanden waren [65]. In Villigen konnte das Schweizerische Institut für Nuklearforschung termingerecht eingeweiht werden. Es wurde als ein weit über die Grenzen hinaus wirkendes Forschungszentrum bezeichnet, das Wesentliches zur Erforschung der vielen noch offenen Probleme der Mikrostruktur der Materie beitragen werde [66].
top
E.F.
 
[55] Die Ausgaben für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in der Bundesverwaltung stiegen von 1969 bis 1972 von rund 200 Mio auf 350 Mio Fr. pro Jahr. Die grössten Anteile kamen der allgemeinen Forschungsförderung mit 26 % zu, gefolgt von der Landesverteidigung mit 23 %, der Energieversorgung mit 18 % und der Förderung der landwirtschaftlichen Produktivität und Technologie mit 12 %. Vgl. Wissenschaftspolitik, 3/1974, Beiheft 4 ; TA, 216, 18.9.74.
[56] BBI, 1974, I, Nr. 15, S. 1099 ff.; Presse vom 10.4.74 ; Wissenschaftspolitik, 3/1974, S. 5 ff., 35 und 205 ff.
[57] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 827 ff., 844 ff. und 1437 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 458 ff. Presse vom 19./20.6. und 25.10.74 ; TLM, 278, 5.10.74 (O. Reverdin) ; LNN, 272, 13.11.74 und Bund, 274, 22.11.74 (H. Aebi).
[58] Vgl. SPJ, 1968, S. 126 (Motion Reimann) und die Empfehlungen des «Forschungsberichtes » des Wissenschaftsrates (SPJ, 1973, S. 135).
[59] NZZ, 527, 28.29.12.74.
[60] Vgl. SPJ, 1973, S. 135 ; Konzept, 7, 20.12.73 ; NZZ, 28, 18.1.74 ; 60, 6.2.74 ; 148, 29.3.74 ; 272, 15.6.74 ; BN, 40, 26.2.74 ; Tw, 159/160, 12./13.7.74 ; TA, 183, 10.8.74 ; Wissenschaftspolitik, 3/1974, Beiheft 2.
[61] LNN, 213, 14.9.74 ; Bund, 241, 15.10.74 ; Lib., 57, 7./8.12.74.
[62] Vgl. unten, Teil I, 7d. NZZ, 199, 1.5.74 ; 428, 15.9.74.
[63] Wissenschaftspolitik, 3/1974, Beiheft 3 ; TA, 131, 10.6.74 ; NZZ, 319, 12.7.74 ; 360, 6.8.74.
[64] TA, 271, 21.11.74 ; 274, 25.11.74 ; vgl. auch Bund, 195, 22.8.74.
[65] Vgl. SPJ, 1969, S. 137 (Motion Reimann). BBI, 1974, I, Nr. 25, S. 1860 ff ; Bund, 206, 4.9.74 ; TA, 204, 4.9.74 ; BN, 223, 24.9.74. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1276 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 587 ff.
[66] NZZ, 457, 5./6.10.74 ; TA, 231, .510.74 ; TG, 232, 5./6.10.74.