Année politique Suisse 1975 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei
Die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage war geeignet, der Sozialdemokratischen Partei (SPS) neuen Auftrieb zu verschaffen. Als Regierungspartei mit traditioneller Ausrichtung auf Arbeitnehmerinteressen konnte sie deh verunsicherten Angehörigen der unteren Schichten als oppositionelle Kraft mit Zutritt zu den Schalthebeln der Macht erscheinen ; begünstigend wirkte ausserdem die Entschärfung der Überfremdungsfrage durch die starke Rückwanderung der Ausländer [5]. Von Bedeutung für die Reaktivierung der SPS war ferner, dass es gelang, den Gegensatz zwischen Parteiestablishment und Parteitagsmehrheit zu beheben. Obwohl der im März durchgeführte Parteitag. in Zürich stattfand, unterlag — wenn auch nur knapp — ein radikalerer Zürcher Entwurf der vom Parteivorstand mehrheitlich empfohlenen Fassung für die Bodenrechtsinitiative ; diese trug den Beschlüssen des vorjährigen Parteikongresses nur teilweise Rechnung. Bundesrat Ritschard warnte die intellektuellen Theoretiker davor, über die Köpfe der Arbeiter hinweg zu politisieren ; es gelte, nicht nur einfach zu reden, sondern auch einfach zu denken. Und Nationalrat Helmut Hubacher (BS), der kampflos zum neuen Parteipräsidenten gewählt wurde, liess es zwar nicht an Anklagen gegen das herrschende Wirtschaftssystem fehlen, wies aber die Forderung nach Revolution als illusionär zurück [6].
Obwohl sich am Parteitag eine gemässigte Tendenz durchsetzte, enthielten die offiziellen Stellungnahmen der SPS Akzente, die eine schärfere Distanzierung von den bürgerlichen Parteien zum Ausdruck brachten. Die aus den Parteitagsdebatten hervorgegangene Wahlplattfortn forderte eine verstärkte Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat, insbesondere auf den Gebieten des Kredits und der Kapitalbewegungen, ja sie sprach von einer Vergesellschaftung der Energiewirtschaft und einer eventuellen Verstaatlichung der Grossbanken. In einem speziellen Sofortprogramm zur Bekämpfung der Rezession verlangte die Partei gemeinsam mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund konjunkturfördernde Bundesinvestitionen von mindestens 2 Mia Fr., die Beteiligung des Bundes an reorganisationsbedürftigen Unternehmungen sowie die stufenweise Einführung der 40-Stunden-Woche. Ein sozialdemokratisches Armee-Leitbild setzte sich für eine gewisse Mitbestimmung durch gewählte Vertrauensleute der Einheiten sowie für schweizerische UNO-Detachemente ein, ging jedoch nicht so weit, die vom Parteitag befürwortete Wahlfreiheit zwischen Militär- und Zivildienst aufzunehmen [7].
Die SPS präsentierte sich in ihrer Plattform, wie bereits erwähnt, nicht mehr als eine Minderheit, die mit einem Bein in der Opposition stand, sondern als Anwärterin auf die Führung einer neuen Mehrheit. Dem entsprach es, wenn sie nach ihrem Wahlerfolg in ungewohnter Weise die Initiative an sich riss. Obwohl die Gespräche ergebnislos verliefen, wurden sie von sozialdemokratischer Seite positiv bewertet ; man buchte vor allem einen Prestigegewinn der Partei [8]. Gerade die Wahlen liessen aber auch innere Divergenzen hervortreten, so etwa in der Frage der Listenverbindung mit der PdA oder im Zusammenhang mit dem Jurakonflikt [9].
 
[5] Vgl. oben, Teil I, 7d (Politique à l'égard des étrangers). Zu den Auswirkungen der Rezession auf die Popularität der SPS vgl. Tw, 252, 28.10.75 ; 24 Heures, 250, 28.10.75 ; NZZ, 251, 29.10.75.
[6] Über den Parteitag vgl. Presse vom 24.3.75, ferner oben, Teil I, 6c (Bodenrecht) sowie R. Lienhard und P. Ziegler in Profil, 1975, S. 129 ff. Vgl. auch SPJ, 1974, S. 171.
[7] Wahlplattform : Die sozialdemokratische Plattform 1975. Sofortprogramm : Tw, 226, 27.9.75 ; gk, 31, 2.10.75. Armee-Leitbild : Die Armee in der sozialdemokratischen Sicherheitspolitik, (Bern) 1975.
[8] Vgl. oben, Teil I, 1c (Gouvernement) und 1e (Programmes électoraux). Bewertung : BN, 284, 5.12.75.
[9] Vgl. oben, Teil I, 1d (Question jurassienne) und 1e (Listes et candidats, Apparentements).