Année politique Suisse 1975 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Den Arbeitnehmerverbänden brachte die unsichere Beschäftigungslage eine starke Zunahme ihrer Mitgliederbestände [16]. Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), E. Canonica, stellte aber' trotz diesem Wachstum eine Schwächung der Verhandlungskraft der Gewerkschaften infolge der Rezession fest. In der gewerkschaftlichen Aktivität war deutlich eine Spannung zwischen Kämpfertum und Selbstbeschränkung zu erkennen. Allgemein waren die defensiven Forderungen nach 'Sicherung der Arbeitsplätze, vollem Teuerungsausgleich und Respektierung der Gesamtarbeitsverträge ; ihnen galten die grossen Frühjahrskundgebungen, die ersten dieser Art seit 1954. Der Präsident des SGB proklamierte darüber hinaus das Konzept einer « solidarischen Marktwirtschaft », an deren Führung der Staat durch ein konjunkturpolitisches Instrumentarium und die Arbeitnehmer durch die Mitbestimmung beteiligt wären. Radikalere Branchenverbände, insbesondere der Typographenbund (STB) und der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD), drangen ausserdem auf die gesetzliche Einführung der 40-Stunden-Woche und auf die Herabsetzung des AHV-Alters, zwei Postulate, denen Volksinitiativen der Neuen Linken eine gewisse Werbekraft verliehen. Wiederholt wurde auch der Arbeitsfriede in Frage gestellt [17]. Doch am SGB-Kongress im November setzte sich eine gemässigte Politik durch. Die Initiativen der äussersten Linken wurden abgelehnt, wobei Präsident Canonica ihren Urhebern die Legitimation zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen bestritt. Die 40-Stunden-Woche sollte in Verhandlungen mit den Sozialpartnern angestrebt werden ; für diese erhielt die Verbandsleitung ein Druckmittel in Form einer Vollmacht zur Lancierung einer eigenen Volksinitiative [18].
Für die 1972 in Aussicht genommene Strukturreform des SGB fasste der Kongress einige Vorentscheide aufgrund der Arbeiten einer Kommission. Anstelle der anfänglich von E. Canonica ins Auge gefassten radikalen Zentralisation beschränkte man sich angesichts der sich regenden Widerstände auf eine gewisse Rationalisierung in bezug auf Presse, Funktion der regionalen Kartelle und Bildungsarbeit. Zugleich soll in den Verbandsorganen die Basis gegenüber den Funktionären verstärkt werden [19]. Als ehemaliger Gewerkschafter mahnte Bundesrat Ritschard den Kongress, den Verband wieder mehr zur geistigen Heimat der Arbeiter werden zu lassen [20]. Einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte sich der SGB durch eine Orientierungsschrift und eine Ausstellung [21]. Einen besonderen Akzent setzte der erste Frauenkongress des SGB, dem ein solcher des Metall- und Uhrenarbeitnehmerverbandes (SMUV) vorangegangen war. Im Verband der Arbeitnehmer in Handels-, Transport- und Lebensmittelbetrieben (VHTL) löste P. W. Küng den bisherigen Präsidenten E. Gygax ab [22].
Einen Teil der vom SGB an die Hand genommenen Strukturreform verwirklichte der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) schon auf den Beginn des Jahres 1975 : durch die Herausgabe einer gemeinsamen Zeitung, der die traditionellen Blätter der beteiligten Branchenverbände als Beilagen angegliedert wurden. Nur das Organ der Bundespersonalverbände des CNG blieb selbständig. Unter den Angestelltenorganisationen publizierte der Kaufmännische Verein (SKV) ein eigenes Programm für die Rezessionsbekämpfung ; zugleich distanzierte er sich von den Gewerkschaften, indem er zur Mitbestimmungsinitiative die Stimme freigab [23].
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P.G.
 
[16] SGB : Zunahme von 455 235 (Ende 1974) auf 471 562 (Ende 1975) ; ausser der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) nahmen alle grösseren Branchenverbände zu (gk, 16, 29.4.76). CNG : von 99 785 (1974) auf 106 061 (1975) (Aktiv, 8, 13.4.76).
[17] Verhandlungskraft : Tat, 183, 6.8.75. Kundgebungen : Tw, 34, 11.2.75 ; vgl. oben, Teil I, 7a (Marché du travail) und oben. Solidarische Marktwirtschaft : Gewerkschaftliche Rundschau, 68/1975, S. 351. Radikalere Forderungen : AZ, 220, 20.9.75 (VPOD) ; NZ, 362, 364, 367, 20.-24.11.75 ; vgl. auch Aktiv, 20, 8.10.75 (Christlicher Holz- und Bauarbeiterverband, CHB). Initiativen : vgl. oben, Teil I, 7 (Temps de travail, Assurance-vieillesse et survivants). Arbeitsfriede : Aktiv, 20, 8.10.75 (CHB) ; gk, 34, 23.10.75 (Canonica).
[18] NZ, 363, 364, 367, 21.-24.11.75 ; NZZ, 271-273, 21.-24.11.75 ; gk, 38, 24.11.75 ; Gewerkschaftliche Rundschau, 68/1975, S. 337 ff. Vgl. oben, Verbände.
[19] Zur Strukturreform vgl. Gewerkschaftliche Rundschau, 68/1975, S. 193 ff.
[20] Gewerkschaftliche Rundschau, 69/1976, S. 3 ff.
[21] Orientierungschrift : Die Gewerkschaften in der Schweiz, Bern 1975 (Schriftenreihe des SGB). Ausstellung : Tw, 268, 15.11.75.
[22] Zum SGB-Frauenkongress vgl. oben, Teil I, 7d (Situation de la femme). SMUV : 24 Heures (ats), 252, 7.10.75. VHTL : NZZ, 207, 8.9.75.
[23] CNG : Aktiv, 1, 7.1.75. SKV : Ziele des SKV in der Rezession, Zürich 1975 ; vgl. auch NZZ, 174, 30.7.75 ; Ww, 50, 17.12.75.