Année politique Suisse 1975 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Entwicklungshilfe
Im Rahmen weltweiter Wirtschaftsinterdependenz und angesichts sich verlagernder Gravitationszentren im internationalen System gewinnen die Beziehungen zur Dritten Welt laufend an Bedeutung. Obschon die Schweiz von allen Industrienationen pro Kopf am meisten in die unterentwickelten Länder exportiert, nimmt sie mit ihrer öffentlichen Entwicklungshilfe, gemessen am Bruttosozialprodukt, einen der letzten Plätze ein. Auf Leistungen der Privatwirtschaft, welche am Gewinn orientiert sind, aber auch entwicklungsfördernde Effekte haben können, wird an anderer Stelle einzugehen sein
[61]. Während breite Kreise, angeführt von Nationalrat Schwarzenbach (rep., ZH), in skeptischen oder gar feindlichen Positionen verharrten, verschärfte sich der Zielkonflikt unter den Befürwortern der Entwicklungshilfe. Je deutlicher die einen eigennützige Motive zu erkennen gaben und Entwicklungshilfe als Exportförderung begrüssten, desto rigoroser kritisierten die andern unsere Beziehungen zur Dritten Welt, welche die Strukturen der Abhängigkeit und Unterentwicklung dauernd reproduzieren würden, und forderten eine neue Entwicklungspolitik, die sich an den Bedürfnissen der benachteiligten Massen orientieren müsse
[62].
Zieldivergenzen und Angst vor ablehnender Volksmeinung prägten die Auseinandersetzung um das neue Entwicklungshilfegesetz, dessen Entwurf hinsichtlich der Energiekrise und ihrer Konsequenzen auf Verlangen des Parlaments neu hatte überprüft werden müssen
[63]. Der Bundesrat hielt im wesentlichen an seinem Vorschlag fest ; er empfahl jedoch, die Hilfeleistungen auf die ärmsten Länder zu konzentrieren, die von der Ölkrise am härtesten betroffen sind, und stützte sich vermehrt auf nationale Argumente wirtschaftlicher Selbsterhaltung ab, um die Entwicklungshilfe zu begründen. Referendumsdrohungen Nationalrat Schwarzenbachs und wahltaktische Überlegungen verursachten eine dilatorische Behandlung des Geschäfts durch die Grosse Kammer. Nachdem das Gesetz um einige Bestimmungen ergänzt worden war, nach welchen die sog. Hilfe zur Selbsthilfe in ärmsten Regionen bevorzugt, aber auch die schweizerische Wirtschafts- und Finanzsituation angemessen berücksichtigt werden muss, konnte es im Herbst den Nationalrat oppositionslos passieren
[64].
Zur Weiterführung der technischen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern
bewilligte das Parlament einen neuen Rahmenkredit, der allerdings — berücksichtigt man die Inflationsrate — eine spürbare Verminderung unserer realen Hilfeleistung zur Folge haben wird
[65]. Zur Schliessung infrastruktureller Lücken ist neben der technischen Zusammenarbeit die Finanzhilfe von Belang, welche den Kapitalmangel der Entwicklungsländer und die durch die Ölkrise akzentuierte Devisenknappheit lindern soll. Die Räte stimmten verschiedenen bilateralen und multilateralen Abkommen zu
[66], von denen ein rückzahlbares Darlehen an die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA), eine Tochtergesellschaft der Weltbank, heftig umstritten war. In drei Tranchen will die Schweiz der IDA zinslos 200 Mio Fr. zur Verfügung stellen, die zur selben Kondition Entwicklungsvorhaben ärmster Länder mitfinanzieren sollen ; unsere Wirtschaft erhält dafür das Recht, sich an der Ausschreibung von IDA-Projekten zu beteiligen. Während konservative Kreise mit finanzpolitischen und isolationistischen Argumenten das Darlehen bekämpften und gegen den Bundesbeschluss ein Referendum zustande brachten, bezichtigten linke und entwicklungspolitisch engagierte Kritiker die IDA einer neokolonialistischen Tendenz
[67].
Im Gegensatz zu Bundesrat und Parlament, die besonders den wirtschaftlichen Nutzen für die Schweiz als Sekundäreffekt der Entwicklungshilfe priesen, betonten die privaten Hilfswerke deutlich ihre Solidaritätsmotivation
[68]. Ihre Kritik an profitorientierter Einstellung gegenüber der Dritten Welt bewirkte zwar geharnischte Attacken von industrieller Seite ; der Erfolg ihrer Sammelaktionen bewies indessen die Bereitschaft breiter Kreise der Bevölkerung zu humanitären Leistungen trotz Rezession
[69].
[61] Öffentliche Leistungen : 1974 gegenüber dem Vorjahr um 2,9 % auf 200 Mio Fr. (0,14 % des BSP) gesunken ; private Hilfswerke : 1974 bemerkenswert hohe Summe von 82 Mio Fr. (0,06 % des BSP) ; vgl. Entwicklung - Développement, Sondernummer Februar 1976 ; Presse vom 8.1. und 22.11.75 (OECD-Berichte) ; vgl. auch NZZ, 18, 17.1.75 ; TA, 32, 8.2.75 ; JdG, 93, 23.4.75. Vgl. ferner SPJ, 1974, S. 42. Privatwirtschaftliche Kapitalleistungen und Exporte : vgl. Unten (Wirtschaftsbeziehungen mit der Dritten Welt).
[62] Vgl. Kommission schweizerischer Entwicklungsorganisationen, Entwicklungsland Welt - Entwicklungsland Schweiz, Basel 1975 ; R. H. Strahm, Überentwicklung - Unterentwicklung, Nürnberg-Freiburg/Schweiz 1975 (Stichwörter zur Entwicklungspolitik, 55) ; 24 Heures, 19-20, 24.-25.1.75 ; 109, 13.5.75 ; BN, 50, 28.2.75 ; 231, 4.10.75 ; Ww, 11, 19.3.75 ; NZZ, 66, 20.3.75 ; 67, 21.3.75 ; 146, 27.6.75 ; LNN, 68, 22.3.75 ; 238, 14.10.75 ; NZ, 101, 1.4.75 ; TA, 78, 5.4.75 ; JdG, 226, 29.9.75. Vgl. auch R. Gerster, « Entwicklungshilfe », in Handbuch..., S. 615 ff. und die unten, Anm. 102 und 103 erwähnte Literatur.
[63] Gesetzesentwurf : BBl, 1973, I, S. 869 ff. ; vgl. auch SPJ, 1973, S. 38 f. ; 1974, S. 42.
[64] Zusatzbericht : BBl, 1975, I, Nr. 6, S. 487 ff. Debatten : Amtl. Bull. NR, 1975. S. 442 ff., 1207 ff. ; vgl. auch die Presse vom 8.2.75, 20.2.75, 18.3.75, 16.8.75 und 24.9.75.
[65] Vgl. BBl, 1975, I, Nr. 6, S. 417 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1975, S. 464 ff. ; Amtl. Bull. StR, S. 350 ff. Für ein Beispiel technischer Zusammenarbeit vgl. R. Högger, Die Schweiz in Nepal, Bern 1975 (Schriftenreihe der Schweiz. Gesellschaft für Aussenpolitik, 3).
[66] Vgl. Gesch.ber., 1975, S. 239 ; vgl. auch unten (Wirtschaftsbeziehungen mit der Dritten Welt).
[67] Vgl. BBI, 1975, I, Nr. 6, 455 ff. ; II, Nr. 25, S. 186 ff. ; Nr. 44, S. 1663 f. ; Amtl. Bull. NR, 1975, S. 477 ff. (Nichteintretensantrag Fischer, fdp, BE) ; Amtl. Bull. StR, 1975, S. 352 f. Vgl. auch die Presse vom 19.3.75, 5.5.75 und 26.9.75. Vgl. ferner NZZ, 188, 16.8.75 ; TA, 253, 31.10.75 und die oben, Anm. 62 erwähnte Literatur.
[68] Vgl. BR Graber, « Le rôle des organisations privées dans le cadre de la coopération suisse au développement », in Documenta, 1975, Nr. 4, S. 7 ff. ; TA, 78, 5.4.75 ; 82, 10.4.75 ; TLM, 104, 14.4.75 ; Tat, 114, 15.5.75 ; 24 Heures, 86, 15.4.75 ; BN, 112-113, 16.-17.5.75 LNN. 112-113, 16.-17.5.75 ; 141, 21.6.75 ; NZ, 118, 16.4.75 ; JdG, 114, 20.5.75.
[69] Kritik : vgl. oben, Anm. 62. Attacken : vgl. LNN, 245, 22.10.75 ; BN, 247, 23.10.75 ; NZ, 330, 23.10.75 ; Vat., 246, 23.10.75. Erfolg : vgl. oben, Anm. 61 und TG, 111, 15.5.75 ; 150, 30.6.75 ; NZ, 193, 23.6.75 ; Bund, 149, 30.6.75 ; 249, 24.10.75.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Dieser Text wurde ab Papier eingescannt und kann daher Fehler enthalten.