Année politique Suisse 1975 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
Konjunkturlage
Die allgemeine Konjunkturlage war geprägt von einem
ungewöhnlichen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und damit verbundenen Strukturbereinigungsprozessen. Im Vergleich zu früheren Abschwungphasen fielen nicht nur das grössere Ausmass und die längere Dauer des Nachfragerückgangs, sondern ebenfalls die schnelle Anpassung des Produktions- und Beschäftigungsvolumens auf. Gemäss den Schätzungen der Arbeitsgruppe für Wirtschaftsprognosen bezifferte sich das Bruttosozialprodukt auf 144,6 Mia Fr., was im Vergleich zum Vorjahr einer realen Abnahme von 7 % entspricht (1973/74 : + 2 %). Damit verzeichnete die Schweiz einen bedeutend stärkeren Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Produktionsvolumens als die OECD-Staaten insgesamt (- 2 %). Die Abweichung vom vorausgeschätzten Abschwung von lediglich -4 % wurde nicht zuletzt auf verbesserte Schätz- und Erhebungsmethoden zurückgeführt, wie sie das Eidg. Statistische Amt im Rahmen der Revision der Nationalen Buchhaltung erarbeitet hatte. Die erzielten Verbesserungen gestatteten es, die laufende Berichterstattung über die Entwicklung volkswirtschaftlicher Gesamtgrössen nach vierjährigem Unterbruch wieder aufzunehmen
[5].
Augenfällige Rückwirkungen zeitigte ferner der hohe Abhängigkeitsgrad der schweizerischen Wirtschaft von der ausländischen Entwicklung. Nachdem vorerst die binnenwirtschaftlichen Kräfte nachgelassen hatten, wirkte sich allmählich auch der allgemeine Konjunkturrückgang im Ausland aus und zog bei der Auslandnachfrage einen Einbruch nach sich. Wenn die Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich trotzdem in relativ engen Grenzen blieb, so war dies wesentlich der durch den Verlust des Arbeitsplatzes erzwungenen Rückwanderung zahlreicher ausländischer Arbeitnehmer zuzuschreiben. Gekennzeichnet war die Entwicklung zudem durch ein merklich schwächeres Wachstum der Löhne, eine vermehrte Sparneigung der privaten Haushalte sowie eine ausgeprägt zurückhaltende Investitionsbereitschaft der Unternehmer. Da die Abkühlung des Konjunkturklimas zunächst die Produktion und die Beschäftigung tangierte und erst später die Preise, kam es gar zu einer Überlagerung von Rezession und Inflation. Zur Erklärung des ausserordentlichen Einbruchs wurde nicht nur auf eine Vielzahl konjunkturell und strukturell bedingter Faktoren, sondern auch auf den als fragwürdig erachteten Kurs der verantwortlichen Instanzen während der beginnenden siebziger Jahre hingewiesen ; besonders die inflationsfördernde Geld- und Währungspolitik habe den Keim zur Krise bereits in sich getragen
[6].
Der Konjunkturrückgang erfasste alle Wirtschaftszweige, trat jedoch in regionaler wie sektoraler Hinsicht differenziert in Erscheinung. Im gewerblich-industriellen Sektor sah sich die Bauwirtschaft mit den grössten Strukturproblemen konfrontiert ; aufgrund längerfristiger Überkapazitäten im Produktionsapparat wies sie im Vergleich zum Vorjahr eine Produktionseinbusse von 25 % auf. Ausgeprägt rückläufig entwickelte sich ebenfalls die gesamthafte Industrieproduktion (mindestens - 15 %). Hiebei zeigten sich in der Uhrenindustrie Erscheinungen, die den krisenhaften Ansätzen im Baugewerbe nicht viel nachstanden, was ebenfalls für die Textil- und Bekleidungsindustrie sowie sämtliche baunahen Industriezweige zutrifft. Von den Schrumpfungsprozessen weniger stark betroffen wurde dagegen der Dienstleistungssektor. Immerhin machte der weltweite Konjunkturrückgang zusammen mit dem hohen Frankenkurs beispielsweise dem Fremdenverkehr deutlich zu schaffen
[7].
Die wirtschaftliche « Redimensionierung » fand auch Ausdruck in einer zunehmenden Zahl von Betriebsschliessungen
[8]. Grössenmässig eine der gewichtigsten war die Stillegung des Automontagewerkes der General Motors in Biel, wo 450 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verloren. Gelang es hier anscheinend, die Probleme der Betroffenen mit einem umfassenden Sozialplan weitgehend zu mildern, so war dies keineswegs überall der Fall. Als Beispiel sei der Beschluss der Bally-Schuhwerke, ihre Zweigbetriebe im Wallis aufzugeben, genannt, der nicht nur in einer breiten Öffentlichkeit, sondern auch seitens der Walliser Regierung heftige Reaktionen auslöste
[9].
Der wirtschaftliche Strukturwandel war also mit empfindlichen sozialen Härten verbunden. Demgegenüber wurde der kräftige
Rückgang der Inflationsrate mit sichtlicher Erleichterung aufgenommen. Ende Dezember erreichte der Landesindex der Konsumentenpreise den Stand von 165,0, was gegenüber dem Vorjahr einem Anstieg von 3,4 % entsprach (1973/74: 7,6 %). Ein derart niedriger Preisauftrieb war seit über einem halben Jahrzehnt nicht mehr festgestellt worden. Er nahm sich auch im Vergleich zu der in den OECD-Staaten gemessenen duchschnittlichen Teuerungsrate von 9,2 % sehr vorteilhaft aus. Diese vom BIGA als « Normalisierung der Preisentwicklung » gewertete Tendenz war vorab eine Folge der Preisstabilisierung bei verschiedenen Bedarfsgruppen, namentlich bei Heizung und Beleuchtung, Verkehr, Nahrungsmitteln und Bekleidung
[10].
Die im Zeichen der Erdölkrise von 1973 angeregte Revision des Konsumentenpreisindexes zeitigte erste Resultate, indem die Sozialstatistische Kommission einen Zwischenbericht vorlegte, worin sie die Kriterien für die Neubemessung skizzierte. Für den frühestens auf die Jahreswende 1976/77 in Aussicht gestellten neuen Index soll die bisherige Grundkonzeption nicht geändert, sondern nur auf präzisere und ausgewogenere Berechnungsgrundlagen gestellt werden. Mittel hiezu ist eine 1975 auf stark verbreiterter Basis durchgeführte Erhebung über Haushaltrechnungen, die erlaubt, den seit 1963 eingetretenen Konsumverschiebungen optimal Rechnung zu tragen (zusätzlicher Einbezug sogenannter Kleinhaushalte und eines umfassenderen Warensortiments). Dass man mit dieser Revision den « statistischen Notstand » noch nicht als behoben betrachtete, bewiesen erneute Forderungen nach Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftsstatistik. Aus Kreisen der Unternehmerschaft wünschte man freilich eine Abgrenzung gegenüber immer weitergehenden Postulaten « statistischer Ultras ». Dagegen zeigte ein Kongress über « Soziale Indikatoren », dass ein Bedürfnis besteht, neue Wege zu beschreiten und auch qualitative Werte wie « Lebensqualität » statistisch aufzubereiten
[11].
Das Bedürfnis nach
Prospektive trat angesichts einer grundlegend veränderten Wirtschaftslage sowie der daraus resultierenden Skepsis und Ungewissheit besonders deutlich in Erscheinung. Prognosen über die mutmassliche wirtschaftliche Entwicklung wurden nicht nur in ungewohnter Vielzahl, sondern ebenfalls in verwirrender Uneinheitlichkeit präsentiert. Dies wiederum war dem beabsichtigten Abbau bestehender Unsicherheiten nicht gerade förderlich. Besonderes Misstrauen meldeten Kreise an, die sich näher « an der wirtschaftlichen Front » sahen als die Prognostiker wie beispielsweise die Unternehmer, die überdies den staatlichen Stellen und den sie beratenden Gremien vorwarfen, sie huldigten einem unbegründeten Optimismus. Immerhin warnte auch der Vorsteher des EVD, Bundesrat Brugger, vor übertriebener Zuversicht, sei doch die gegenwärtige Lage nicht nur konjunkturell bedingt, sondern zudem Ausdruck der Tatsache, dass sich eine Wirtschaftsepoche ihrem Ende zuneige ; nötig werde jedenfalls eine Rückbesinnung auf die Stärken der schweizerischen Wirtschaft wie Qualitätsarbeit und Anpassungsfähigkeit
[12]. Die rasche Entwicklung — dies zeigten planerisch ausgerichtete Symposien — förderte auch grundsätzliche Zweifel an der Plan- und Machbarkeit der Zukunft. Anderseits war es das Anliegen der unter der Leitung von Prof. F. Kneschaurek stehenden Arbeitsgruppe, ihre Perspektiven im Blick auf die veränderten Bedingungen zu überarbeiten sowie die generellen Möglichkeiten und Grenzen von Zielvorstellungen zu umreissen
[13].
[5] Für Überblicke vgl. Mitteilung Nr. 237 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 49/1976, Heft 2 ; Schweizerische Bankgesellschaft, Schweizerisches Wirtschaftsjahr 1975, Zürich 1975 ; Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 81/1975, Dezember ; ferner gk, 42, 18.12.75 ; SAZ, 70/1975, S. 853 ff. Zur Revision der Nationalen Buchhaltung vgl. Die Volkswirtschaft, 48/1975, S. 528 ff. und 49/1976, S. 57 ff. ; gk, 6, 12.2.76 ; SAZ, 71/1976, S. 25 sowie SPJ, 1971, S. 68 ; 1972, S. 60 f.
[6] Mitteilung Nr. 237 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 49/1976, Heft 2 ; vgl. auch B. Gerber, Stabilität ohne Stabilisierungskrise, Gesellspende-Broschüre, Zürich 1975 ; H. A. Traber, « Die schweizerische Wirtschaft zwischen Inflation und Rezession », in Gewerkschaftliche Rundschau, 67/1975, S. 133 ff. Zur Auslandnachfrage vgl. oben, Teil I, 2 (Aussenhandel), zum Arbeitsmarkt und zu den Löhnen vgl. unten, Teil I, 7a und d (Politique à l'égard des étrangers, Marché du travail, Salaires), zur Geld- und Währungspolitik unten, Teil I, 4b.
[7] Mitteilung Nr. 237 der Kommission für Konjunkturfragen, S. 2 ff., Beilage zu Die Volkswirtschaft, 49/1976, Heft 2. Für Branchenüberblicke vgl. ferner Schweizerische Bankgesellschaft, Schweizerisches Wirtschaftsjahr 1975, Zürich 1975 ; Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 81/1975, Dezember. Zum Frankenkurs vgl. unten, Teil I, 4b (Währungsgeschehen).
[8] Ihre Tore schlossen 254 Industriebetriebe mit 7228 Beschäftigten (1974: 200 Betriebe mit 4830 Beschäftigten), wobei es sich nicht immer um die Liquidation von Unternehmungen, sondern teilweise auch um die Stillegung von Filialbetrieben, beispielsweise in Randregionen, handelte ; vgl. Die Volkswirtschaft, 49/1976, S. 23 ff.; zum Konzentrationsprozess und zum regionalpolitischen Aspekt vgl. auch unten (Strukturpolitik, Wettbewerb).
[9] General Motors : Presse vom 23.5.75 sowie NZZ (sda), 189, 18.8.75. Bally : NZZ (sda), 25, 31.1.75 ; 31, 7.2.75 ; JdG, 68, 22.3.75. Zu den sich häufenden Schliessungen von Bauunternehmungen vgl. NZZ, 6, 9.1.75 ; 21, 27.1.75 ; Tat, 131, 5.6.75 ; LNN, 159, 12.7.75 ; Ldb, 301, 30.12.75. Zur sozialen Problematik dieser Entwicklung vgl. vor allem unten, Teil I, 7a und c (Marché du travail, Assurance-chômage, Conflits du travail).
[10] Der Grosshandelspreisindex verzeichnete sogar eine rückläufige Tendenz (- 4,9 %). Vgl. Die Volkswirtschaft, 49/1976, S. 40 ff. und 68 ff. ; Mitteilung Nr. 237 der Kommission für Konjunkturfragen, S. 7 f., Beilage zu Die Volkswirtschaft, 49/1976, Heft 2 ; Vat., 34, 11.2.76.
[11] Revision : Zwischenbericht zum Stand der Revision des Landesindexes der Konsumentenpreise, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 48/1975, Heft 4 ; vgl. dazu die Presse vom 9.4.75 sowie SPJ, 1973, S. 54 ; 1974, S. 57. Allgemeine Wirtschaftsstatistik : Amtl. Bull. NR, 1975, S. 150 f. und 600 ; vgl. SPJ, 1973, S. 55 ; 1974, S. 57. Unternehmerschaft : SAZ, 71/1976, S. 80 ff. Kongress : TA, 252, 30.10.75 ; ferner J.-J. Senglet, « Sozialindikatoren — Bemerkungen aus schweizerischer Sicht », in Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 111/1975, S. 245 ff.
[12] Unternehmer : wf, Dokumentation- und Pressedienst, 51/52, 22.12.75 ; 4, 26.1.76. BR Brugger : NZZ, 19, 24.1.76 sowie verschiedene Reden in Documenta, 1975, Nr. 2-5.
[13] Symposien : « Unternehmensstrategie im Wandel », 5. Internationales Management-Gespräch an der Hochschule St. Gallen (TA, 110, 15.5.75) ; 5. Management-Symposium in Davos (BüZ, 37, 8.2.75). Perspektivstudien : F. Kneschaurek, Entwicklungsperspektiven und Probleme der schweizerischen Volkswirtschaft, Bankverein-Heft Nr. 9, 1975 ; Mitteilungsblatt des Delegierten für Konjunkturfragen, 31/1975-76, S. 41 ff. ; Ldb, 151, 4.7.75 ; Vat., 152, 4.7.75 ; vgl. ferner SPJ, 1974, S. 55. Für wirtschaftliche Ausblicke vgl. JdG, 16, 21.1.76, TA, 19, 24.1.76 ; NZZ (sda), 22, 28.1.76 ; Bund, 32, 9.2.76 ; SAZ, 71/1976, S. 2 f. ; H. Würgler, « Perspektiven der schweizerischen Wirtschaft », in Gewerbliche Rundschau, 20/1975, S. 79 ff ; W. Wittmann, « Rezession oder Wirtschaftskrise », in Schweizer Rundschau, 74/1975, S. 88 ff. ; Mitteilung Nr. 237 der Kommission für Konjunkturfragen, S. 18 ff., Beilage zu Die Volkswirtschaft, 49/1976, Heft 2 ; « L'avenir de la politique économique suisse », in Colloques économiques, Nr. 3, Fribourg 1975.
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