Année politique Suisse 1975 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Energiepolitik
Die energiepolitische Diskussion war in den vergangenen Jahren zusehends stärker ins Spannungsfeld verschiedener, zum Teil gegenläufiger Zielsetzungen gerückt. Bereits eine Durchsicht der Wahlprogramme der Landesparteien, in denen sich umfassende Erörterungen zum Problemlösungsb.edarf auf dem Energiesektor finden, lässt erkennen, dass dessen Dringlichkeit auch 1975 anhielt. Der eingeleitete Bewusstseinsprozess setzte sich auf verbreiterter Basis fort. Er bewirkte, dass bestehende Konzepte neu überdacht und unterschiedliche Standpunkte verdeutlicht wurden ; konkrete, allgemein akzeptierte Auswege aus dem energiepolitischen Dilemma ergaben sich jedoch nicht. Das aus der Komplexität der Materie erklärbare latente Unbehagen sowie die aus ihm resultierende Unsicherheit erhielten neuen Auftrieb. Sie artikulierten sich einmal mehr hauptsächlich im Zusammenhang mit der Planung und Errichtung von Atomkraftwerken. Kristallisationskern entsprechender politischer Auseinandersetzungen war das unmittelbar vor der Realisierungsphase stehende Projekt von Kaiseraugst (AG). Im aussenpolitischen Bereich hingegen ging der Anschluss der Schweiz an die Internationale Energieagentur mühelos, wenn auch keineswegs kritiklos (neutralitätspolitische Vorbehalte) über die Bühne [1].
Die 1974 vom EVED eingesetzte Kommission zur Ausarbeitung einer Gesamtenergiekonzeption (GEK) führte gegen Ende des Jahres Hearings mit den interessierten Kreisen durch. Kommissionspräsident M. Kohn äusserte in einem Vortrag Bedenken über die energiepolitische Abstinenz mancher Regionen. Die Arbeiten für eine GEK dürften nicht zum Alibi für solche Untätigkeit werden. In diesem Sinn zu begrüssen seien jedenfalls Anstrengungen wie jene der beiden Basel, regionale Energiekonzepte zu erarbeiten [2].
Eng verknüpft mit den Bemühungen um eine Gesamtkonzeption war die Diskussion über die Energieversorgung. Im Rechenschaftsbericht über die Legislaturperiode 1971-75 unterstrich der Bundesrat die Schwierigkeit für ein rohstoffarmes Land wie die Schweiz, die konfliktträchtigen Ziele dieser Versorgung (Sicherheit, Umweltfreundlichkeit, sparsame Verwendung, Preiswürdigkeit, raumplanerische sowie staatspolitische Vertretbarkeit) zu erreichen [3]. Bundesrat Ritschard blieb es vorbehalten, die energiepolitische Gratwanderung verschiedentlich plastisch zu veranschaulichen. Anlässlich der von ihm angeregten Ausstellung « Energie » im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern wandte er sich entschieden gegen die Produktion von Energie auf Vorrat. Der Magistrat forderte überdies höhere Aufwendungen für die technische Forschung und plädierte für eine umfassende Aufklärung des Bürgers [4].
In der energiepolitischen Grundsatzdiskussion dominierte das fazettenreiche Problem der Diversifikation der Energieträger [5]. Die Notwendigkeit, sich aus der Abhängigkeit von ausländischen Erdölzufuhren zu befreien, schien hiebei unbestritten. Bei der Frage nach der konkreten Realisierung dieses Postulats und den zu setzenden Prioritäten schieden sich indes die Geister. Namentlich in Kreisen der Elektrizitätswirtschaft und dieser nahestehender Unternehmer hielt man an der Unabdingbarkeit weiterer Atomkraftwerke fest. Gestützt war diese Erkenntnis auf Prospektivstudien, die jährliche Elektrizitäts-Zuwachsraten von 4 bis 5 % prognostizierten. Die derzeit rückläufige Entwicklung des Energieverbrauchs interpretierten die erwähnten Kreise als zu kurzfristig, um gültige Schlussfolgerungen für die Zukunft zuzulassen [6].
Wie noch zu zeigen ist, fanden sich die Atomkraftwerkgegner weniger denn je bereit, derartige Aussichten zu akzeptieren. Zudem verstärkte sich der Ruf, die Suche nach weiteren potentiellen Energieträgern zu intensivieren. Bezeichnend hiefür ist der breite Raum, den man der Diskussion um die Nutzbarmachung unerschöpflicher und umweltfreundlicher Energiequellen zugestand. Massgeblich daran beteiligt war die aus Wissenschaftern und Unternehmern zusammengesetzte Schweizerische Vereinigung für Sonnenenergie (SSES). Sie unterbreitete den politisch Verantwortlichen einen « Nationalen Heizöl-Sparplan » mit dem Ziel, zur Warmwasserzubereitung Sonnenenergie zu verwenden und mithin wesentliche Mengen Erdöl einzusparen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen derartiger Alternativen löste eine angeregte, auch grundsätzliche diversifikationspolitische Aspekte einbeziehende Kontroverse aus. Der Bundesrat erachtete es in seiner Antwort an die SSES als verfrüht, über die seiner Meinung nach von allzu optimistischen Erwartungen ausgehenden Vorschläge Beschluss zu fassen. Er beauftragte eine Fachkommission mit der Überprüfung des Planes wie auch mit der Koordination und Förderung der Sonnenenergieforschung [7].
Trotz wirtschaftlicher Rezession und rückläufiger Energienachfrage liess der Ruf nach sparpolitischen Massnahmen keineswegs nach. Dies dokumentiert nicht allein eine diesbezügliche Parlamentarier-Befragung. Zahlreiche Stimmen redeten sowohl einer aktiven, längerfristig konzipierten Sparpolitik als auch entsprechenden Sofortmassnahmen (z.B. bessere Isolierung der Bauten, Begrenzung der Raumtemperatur, Ausbau der Fernwärmeversorgung) das Wort [8].
Bereits getroffene Sparmassnahmen wurden zusammen mit der kumulativen Wirkung der wirtschaftlichen Rezession und der milden Winterwitterung für die schon im Vorjahr festgestellte rückläufige Tendenz des Gesamtenergieverbrauchs verantwortlich gemacht. Verglichen mit dem Vorjahr nahm der Konsum 1975 nochmals um 2 % (1974 : -7,8 %) ab. Bei den Erdölprodukten betrug der Rückgang 3,1 % (1974 : -11 %), beim Stromverbrauch 0,6 % (1974 : + 3,1 %). Der Anteil Erdöl an der Gesamtmenge betrug demnach noch 76,4 % (1974 : 77 %), derjenige der Elektrizität nun 17,2 % (1974 : 17,0 %). Angesichts der sich abzeichnenden Entwicklung verwies ein Vertreter des EVED bereits zu Beginn des Jahres auf die Notwendigkeit, alte Wachstumsprognosen für den Elektrizitätsverbrauch, wie sie bisher für die Planung von Atomkraftwerken gedient hatten, zu überprüfen [9].
 
[1] Zu den Wahlprogrammen vgl. unten, Teil IIIa. über die Atomkraftwerke vgl. unten, die Vorgänge auf aussenpolitischer Ebene oben, Teil I, 2 (Neutralität, Multilaterale Wirtschaftsbeziehungen).
[2] Zu Struktur und Auftrag der Kommission vgl. SPJ, 1974, S. 86. Hearings : NZZ (sda), 233, 8.10.75. M. Kohn : NZ, 368, 25.11.75. Energiekonzeption Basel : BN, 189, 16.8.75 ; NZ, 253, 16.8.75. Vgl. auch C. Zangger, « Stand der Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption für die schweizerische Wärmewirtschaft », in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 31/1975, Nr. 3.
[3] BBI, 1975, I, Nr. 19, S. 1647 f. und 1689 ff. Zu einer Interpellation Fischer (fdp, BE) betreffs Landesversorgung mit Rohstoffen und Energie vgl. oben, Teil I, 3 (Défense nationale économique). Vgl. auch J. R. Zeller, « Landesversorgung mit Energie und Rohstoffen », in Gewerbliche Rundschau, 20/1975, S. 59 ff. ; H. Lienhard, « Probleme der schweizerischen Energiewirtschaft », in E. Tuchtfeldt (Hrsg.), Schweizerische Wirtschaftspolitik zwischen gestern und morgen, Bern 1976, S. 357 ff.
[4] Rede in Luzern :. Energiewirtschaft — heute und morgen a, in Documenta, 1975, Nr. 2, S. 26 ff.; vgl. auch die Presse vom 7.6.75. Zu weiteren Reden von BR Ritschard vgl. NZZ (sda), 133, 12.6.75 ; TG, 257, 4.11.75.
[5] Vgl. etwa « Auditions sur l'énergie», in Actes de l'Institut national genevois (Bulletin de l'I.N.G., Nouvelle série 18) ; « Aktuell : Energiepolitik », in Politische Rundschau, 54/1975, Nr. 1-2 ; «Flexibilität in der Energiepolitik », in wf, Dokumentàtions- und Pressedienst, 50, 15.12.75 ; B. Hunziker, « Zwischen Atomangst und Energiekrise », in Veröffentlichungen der Aargauischen Handelskammer, 1975, H. 18. Über eine internationale Konferenz für die Umwandlung von Müll in Energie vgl. unten, Teil I, 6d (Abfälle).
[6] Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke, Bulletin, 66/1975, S. 994 ff. (energiepolitische Zielsetzungen bis 1985/86), S. 1161 ff. (Elektrizität und Wärme-Versorgungskonzept bis zum Jahr 2000). Vgl. auch 24 Heures, 198, 27.8.75 ; 244, 21.10.75 ; NZZ, 197, 27.8.75 ; 205, 5.9.75 ; 278, 29.11.75 ; SHZ, 17, 24.4.75.
[7] Sparplan : TA, 50, 1.3.75 ; NZZ, 72, 27.3.75. Zur Sonnenenergie allgemein : LNN, 62, 15.3.75 ; TG, 63, 64, 17.-18.3.75 ; Bund, 136, 15.6.75 ; NZZ, 281, 3.12.75 ; Tat, 291, 11.12.75 ; Schweizerischer Bankverein, Der Monat, 1975, Nr. 2, S. 17 ff. Kontroverse : NZZ, 59, 12.3.75 ; 81, 9.4.75 ; 126, 4.6.75 ; Bund, 275, 24.11.75. Antwort des BR : NZZ (sda), 241, 17.10.75. Fachkommission : NZZ (sda), 196, 26.8.75 ; 224, 27.9.75. Vgl. ausserdem Amtl. Bull. StR, 1975, S. 281 f. Zur Nutzbarmachung anderer unerschöpflicher Energiequellen vgl. Ostschw., 37, 14.2.75 ; TA, 70, 25.3.75 ; Ldb, 74, 2.4.75.
[8] Befragung : NZ, 174, 7.6.75 (zwei Drittel der deutschsprachigen National- und Ständeräte äusserten sich positiv zu einem Energiesparprogramm). Sparprogramm allgemein : La Gruyère, 8, 21.1.75 ; NZZ, 20, 25.1.75 ; vgl. auch ein Postulat Schalcher (evp, ZH), Anal. Bull. NR, 1975, S. 1376. Sofortmassnahmen : Tat, 39, 15.2.75 ; NZ, 64, 26.2.75 ; NZZ, 55, 7.3.75 ; Plan, 32/1975, Nr. 9, S. 19 ; Nr. 12, S. 8 ff.
[9] Begründung des Rückgangs : NZZ, 263, 12.11.75 ; Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 81/1974, Dezember, S. 23 f. Vorjahr : SPJ, 1974, S. 87 f. Verbrauch : NZZ (sda), 81, 6.4.76. EVED : LNN, 15, 20.1.75.