Année politique Suisse 1976 : Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Polémiques d propos d'une présentation accusatrice de la Suisse — Inquiétudes provoquées par la désaffectation du citoyen envers l'Etat — Le projet d'une nouvelle Constitution prend corps — Perspectives d'avenir assombries — Efforts pour entretenir une symbolique nationale.
Die Schweiz ist in der Welt seit langem als Ferienziel bekannt, vielen auch als wirtschaftliche Potenz, anderen als Land des Roten Kreuzes und einigen als politischer Sonderfall. Es erregte deshalb internationales Aufsehen, als der sozialistische Nationalrat und Soziologe Jean Ziegler im April 1976 ein Buch veröffentlichte, das dem traditionellen Bild der Schweiz, wie es auch von offizieller Seite gepflegt wird, schonungs- und respektlos ins Gesicht schlägt
[1]. Es zeichnet die Schweiz als Sitz einer Bankenoligarchie, die mit internationalem Fluchtkapital einen Sekundärimperialismus in der Dritten Welt betreibt, eng verbunden mit dem primären Imperialismus der USA, aber abgeschirmt durch die Pseudoneutralität eines Staates, dessen Elite sie mit Verwaltungsratsmandaten kauft. Das Buch gibt der Besorgnis über ein überhandnehmen internationaler Finanzaktivitäten in der Schweiz Ausdruck, ist aber mehr Anklage und Kampfaufruf als Analyse ; von wissenschaftlicher Seite wurden ihm sowohl Mangel an theoretischer Fundierung als auch Nachlässigkeit und Willkür in der Wiedergabe und Verwendung von Fakten vorgeworfen
[2]. Von den einen als Enthüllung, von den andern als Verlästerung empfunden, gab es Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen ; dabei erleichterten die erwähnten Schwächen den Angegriffenen ihre Verteidigung
[3]. Es fehlte nicht an gezielten Gegenattacken : so wurde dem Autor vorgehalten, dass er auf einer seiner vom Bund subventionierten wissenschaftlichen Reisen neue Angriffe gegen die Schweiz verbreitet habe, und gegen seine Beförderung zum Ordinarius an der Genfer Universität machte sich Widerspruch geltend
[4]. Neben dem polemischen Bestseller traten ausländische Darstellungen unseres Landes weniger ins Rampenlicht, auch wenn sie kritische Akzente enthielten. So stellte der amerikanische Politologe Karl Deutsch die Schweiz vor die Wahl zwischen einer aufgeklärten Reformbewegung und konservativem Erstarren im europäischen Industrie- und Bankenkapitalismus
[5], und ein in England wirkender Historiker prophezeite ihr als Folge der unvermeidlichen Integration einen weitgehenden Verlust ihrer Eigenart
[6].
Was das
schweizerische Selbstverständnis für viele wohl stärker verunsicherte als die eben genannte Kritik, war der Eindruck einer zunehmenden Passivität der Bürger bei Wahlen und Abstimmungen. Die Gefahr der Entfremdung von Bürger und Staat erschien dem Bundesrat ernst genug, um eine wissenschaftliche Untersuchung der Stimmabstinenz zu veranlassen
[7]. Aus Fachkreisen wurde betont, dass politisches Interesse und politische Beteiligung vom Grad der Bildung, von der Höhe der sozialen Stellung und von der allgemeinen Zufriedenheit eines Individuums abhängig sind, was auf der einen Seite zur Forderung nach einer Bildungsreform Anlass gab, auf der anderen dagegen zur Feststellung, dass eine höhere Beteiligung bei Urnengängen in erster Linie die Stimmen der Unzufriedenen vermehren und das Regieren erschweren würde
[8]. Bundesrat Furgler brachte die Kluft zwischen der politischen Führung und der Mehrheit des Stimmvolkes in Zusammenhang mit einem Spannungsverhältnis zwischen Planung und Demokratie, wobei er betonte, dass beide einander bedingten und dass eine dauernde Information zwischen Führungsorganen und Bürgern zu vermitteln habe. Demgegenüber deutete der sozialistische Philosoph A. Künzli sowohl Stimmabstinenz wie Bürgerinitiativen als Symptome der Reformbedürftigkeit des demokratischen Systems, das nur durch eine schrittweise Demokratisierung der gesamten Gesellschaft, auch der Wirtschaft, zu retten sei. Während der Magistrat an der Notwendigkeit der Autorität festhielt, rief der philosophische Kritiker nach dem « rebellischen » Bürger und nach dem Mut zur Utopie
[9]. Demgegenüber warnte der Ökonome W. Wittmann vor einer dogmatischen Demokratisierung, da sie Staat und Wirtschaft überfordere und letztlich in die totale Unfreiheit führe. Um dem einzelnen wieder ein reales Kostenbewusstsein zu geben, postulierte er eine vermehrte Finanzierung der Staatsaufgaben nach dem Äquivalenzprinzip (Belastung des Nutzniessers), die durch Sozialtransfers zugunsten der wirtschaftlich Schwächeren zu kompensieren sei
[10].
Totalrevision der Bundesverfassung
Die Arbeiten an der Totalrevision der Bundesverfassung trugen radikalen Konzeptionen keine Rechnung, waren aber bestrebt, eine schrittweise Anpassung des Staates an die sich wandelnden Verhältnisse zu erleichtern. Die erste Lesung der drei Teilentwürfe im Plenum kam im wesentlichen zum Abschluss. Soweit das Ergebnis bekannt geworden ist — die anfänglich betonte Informationsbereitschaft der Kommission blieb beschränkt — tendiert es mehr zu Offenheit als zu scharfen Abgrenzungen : zwischen Staat und Wirtschaft, Bund und Kantonen oder einzelnen staatlichen Organen wird eher eine sachbezogene Partnerschaft als eine strenge Teilung der Kompetenzbereiche vorgesehen. So formuliert der Entwurf neben Individualrechten auch Sozialrechte, verbindet die Eigentumsgarantie mit Eigentumsbeschränkung, die Marktwirtschaft mit Sozialpflichtigkeit und begründet für die meisten Staatsaufgaben Verantwortlichkeiten des Bundes wie der Kantone, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht. Dadurch sollen die Innovationsprozesse tunlichst aus der lähmenden Doppelstufigkeit von Verfassungs- und Gesetzgebung befreit werden ; zugleich bietet die sog. Einheitsinitiative den Behörden die Möglichkeit, ausserparlamentarische Impulse unmittelbar auf die sachgemässe Ebene zu lenken. Die Chancen des Werkes erscheinen freilich ungewiss ; Optimisten rechnen mit der Gewöhnung der Öffentlichkeit an die neuen Konzepte im Laufe eines weiteren Jahrzehnts
[11].
Frage nach der Zukunft
Trotz der allgemeinen Ernüchterung durch die Rezession wurde die Frage nach der Zukunft weiterhin zu beantworten versucht. Die optimistischen Prognosen des amerikanischen Hudson-Instituts, die sich gegen die Warnungen des Club of Rome richten, die Knappheit von Energie und Rohstoffen bestreiten und einen weit= weiten Ausgleich zwischen Arm und Reich auf höherem Niveau verheissen, stiessen freilich auf Widerspruch
[12]. Walter Wittmann rechnete für die westlichen Industrieländer mit einem langfristigen Abwärtstrend, der nur durch eine Forcierung des tertiären Sektors bis zu einem gewissen Grad kompensiert werden könne. Ein Land mit hohen Löhnen und qualifizierten Arbeitskräften wie die Schweiz müsse sich deshalb auf die Produktion von spezialisierten Qualitätserzeugnissen, vor allem aber auf Dienstleistungen und auf produktbezogene Forschung und Entwicklung konzentrieren
[13]. Wenn hier das wirtschaftliche und politische Überleben von einer Rückkehr zum Leistungsdenken abhängig gemacht wurde, so rief dagegen eine ökumenische Gruppe nach einem neuen Lebensstil, mit dem es die « Anarchie » der Industriewelt zu überwinden gelte
[14].
Im Gegensatz zu progressiven Schriftstellern wie Peter Bichsel, der sich in einem Artikel zum Nationalfeiertag für die Abschaffung des Vaterlandes und für das Aufgehen des Staates in einem pragmatischen Dienstleistungsbetrieb für die Bürger aussprach, waren traditionsbewusste Kreise um die Pflege nationaler Symbole besorgt. Ausdruck dieses Bestrebens waren die grossangelegten 500-Jahrfeiern zur Erinnerung an die Schlacht bei Murten oder der Vorschlag, 1991 als nationales Jahr mit einer Landesausstellung in der Innerschweiz zu begehen
[15].
[1] J. Ziegler, Une Suisse au-dessus de tout soupçon, Paris 1976. Deutsche Ausgabe : Eine Schweiz — über jeden Verdacht erhaben, Darmstadt-Neuwied 1976. In Mailand erschien auch eine italienische Übersetzung. Vgl. TLM, 91, 31.3.76 ; NZ, 136, 2.5.76 ; 274, 4.9.76 ; NZZ, 247, 21.10.76. Als Beispiel offizieller Imagepflege vgl. Begegnung mit der Schweiz, 4 Bde, veröff. durch Koordinationskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland, Lausanne 1975.
[2] E. Gruner / H. Kleinewefers / F. Schaller, Wissenschafter widerlegen Jean Ziegler, Zürich 1977. Vgl. auch Ww, 14, 7.4.76 ; 39, 29.9.76.
[3] Vgl. TG, 105, 106, 110-113, 115, 133, 6.5.-10.6.76 ; FA, 109, 7.9.76 ; 128, 29.9.76 ; Ostschw., 276, 25.11.76 ; NZZ, 289, 9.12.76 ; ferner unten, Teil I, 8c (Radio et télévision).
[4] Reisen : NZZ, 231, 2.10.76. Beförderung : vgl. unten, Teil I, 8a (Hautes écoles). Vgl. auch TA, 253, 29.10.76 und Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1290.
[5] K. W. Deutsch, Die Schweiz als ein paradigmatischer Fall politischer Integration, Bern 1976.
[6] J. Steinberg, Why Switzerland ?, Cambridge 1976.
[7] Gesch.ber., 1975, S. 1 f. ; 1976, S. 1 ; K. Huber, e Indifferenz und Resignation in der direkten Demokratie s, in Documenta, 1976, Nr. 2, S. 26 ff.
[8] Vgl. A. Giger, Der politische Bürger, Eine sozialpsychologische Analyse politischen Vehaltens im Kanton Schaffhausen, Diss. Zürich 1976 ; W. Wyss, « Der Traum von der hundertprozentigen Demokratie », in NZZ, 43, 21.2.76.
[9] Vgl. BR Furgler am Ferienkurs der Schweiz. Staatsbürgerlichen Gesellschaft in Engelberg (LNN, 162, 15.7.76 ; TA, 162, 15.7.76) und Prof. A. Künzli in NZ, 26, 24.1.76 ; 213, 10.7.76 ; 221, 17.7.76.
[10] Prof. W. Wittmann in NZZ, 159, 10.7.76. Vgl. auch unten, Teil I, 1d (La Confédération et les cantons).
[11] Vgl. Gesch.ber., 1976, S. 109 f. ; Tat, 226, 26.9.76 ; Ww, 41, 13.10.76 ; Ldb, 271, 20.11.76 ; NZZ, 292, 13.12.76 ; 304, 28.12.76 ; 5, 7.1.77 ; 23, 28.1.77 ; ferner BR Furgler in Documenta, 1976, Nr. 2, S. 16 ff.
[12] Vgl. Prof. J. Freymond in Ww, 48, 1.12.76 ; ferner NZ, 150, 15.5.76.
[13] W. Wittmann, « Volkswirtschaftliche Strukturwandlungen », in Civitas, 31/1975-76, S. 703 ff.
[14] LNN, 249, 25.10.76 ; TLM, 305, 31.10.76.
[15] Bichsel : NZ, 237, 31.7.76. Murten : TG, 91, 20.4.76 ; Tat, 101, 30.4.76 ; Presse vom 21.6.76. Nationales Jahr : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1221 f. (Interpellation Delamuraz, fdp, VD) ; vgl. auch Vat., 19, 24.1.76 ; NZZ (sda), 87, 13.4.76 (FDP von OW) ; LNN, 191, 18.8.76. Die Luzerner Regierung äusserte freilich finanzielle Bedenken (Vat., 245, 20.10.76).
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