Année politique Suisse 1976 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Grundrechte
Probleme des Umfangs und der Interpretation der Menschenrechte beschäftigten die Öffentlichkeit weiterhin. Zweierlei gab dazu Anlass. Einerseits fuhr der Bundesrat fort, im Zuge einer aktiveren Aussenpolitik europäische Konventionen zu unterzeichnen, deren Inhalt die Gültigkeit der schweizerischen Rechtstradition gelegentlich etwas in Frage zu stellen vermag. Anderseits verschärfte sich die Spannung zwischen progressiven Tendenzen und einer unter den Trägern der Staats- und Gesellschaftsordnung verbreiteten Abwehrhaltung, was die Grenze zwischen individuellem Freiheitsanspruch und öffentlichem Sicherheitsbedürfnis zum Streitpunkt werden liess
[1].
Keine anderthalb Jahre nach der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention unterzeichnete der Chef des EPD, Bundesrat Graber, im Mai die
Europäische Sozialcharta. Obwohl es bisher in der Schweiz nicht gelungen ist, Sozialrechte in der Bundesverfassung zu verankern, bekennt sich somit unsere Regierung auch zum sozialrechtlichen Grunddokument des Europarats, das sich allerdings in seinem Rechtscharakter von der Menschenrechtskonvention, seinem individualrechtlichen Gegenstück, unterscheidet. Während diese klagbare Rechte des einzelnen formuliert und Instanzen zu ihrer Wahrung einsetzt, enthält die Sozialcharta ein sozialpolitisches Programm, dessen allmähliche Verwirklichung für die Unterzeichnerstaaten zudem nur auswahlweise verpflichtend ist, wobei das Kontrollorgan, ein Expertenausschuss, bloss Empfehlungen aussprechen kann. Immerhin muss jeder Signatarstaat einen gewissen Minimalbestand an Sozialrechten als verbindlich anerkennen. Der Bundesrat gab jedoch dem Parlament, das sich mit der Ratifizierungsfrage zu befassen hat, noch keine entsprechende Liste bekannt
[2].
Kaum war die Tinte unter der Sozialcharta trocken, überraschte das EPD die Öffentlichkeit mit der Unterzeichnung eines weiteren europäischen Dokuments : des
ersten Zusatzprotokolls zur Menschenrechtskonvention, das ein Recht auf Eigentum, Bildung und freie geheime Wahlen formuliert. Vor allem angesichts der Praxis offener Wahlen in einzelnen Kantonen, aber auch mit Rücksicht auf gewisse Benachteiligungen des weiblichen Geschlechts im Stimmrecht und im Bildungswesen hatte man dieses Protokoll 1972 vom Beitritt zur Menschenrechtskonvention ausgenommen ; der Bundesrat war freilich vom Nationalrat aufgefordert worden, die Einbeziehung der beiseite gelassenen Zusatzdokumente erneut zu prüfen. In welchem Umfang das unterzeichnete Schriftstück Rechtsgeltung erhalten sollte und ob insbesondere das darin aufgeführte Sozialrecht auf Bildung einen Numerus clausus an den Hochschulen zuliesse, blieb noch unklar
[3].
Ein Normenkonflikt war aber bereits durch die Ratifizierung des Hauptdokuments, der Konvention selber, angelegt worden. Dies wurde sichtbar, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juni den scharfen militärischen Arrest den von der Schweiz anerkannten Bedingungen unterwarf ; von den Folgen dieses Entscheids ist an anderer Stelle die Rede. Erwähnt sei ferner, dass auch die Haftverfügungskompetenz eines zivilen Organs, des zürcherischen Bezirksanwalts, trotz Bestätigung durch das Bundesgericht mit einer Beschwerde in Strassburg angefochten wurde
[4].
Verschiedene Fälle von
Massregelung oder Zurücksetzung wegen abweichender politischer oder ideologischer Haltung
[5] führten zu einer organisierten Reaktion der Betroffenen und ihrer Sympathisanten. Im April trat in Zürich ein Kreis von Schriftstellern, Lehrern, Pfarrern und linksgerichteten Politikern mit einem « Demokratischen Manifest » hervor, das sich gegen politisch motivierte Entlassungen und Anstellungsverweigerungen im Schulwesen sowie gegen ähnliche Massnahmen im öffentlichen Dienst, in den Massenmedien und in der Privatwirtschaft wandte. Im Bestreben, das Recht auf freie Diskussion und auf Veränderung zu wahren und zu erweitern, rief der Kreis zum Zusammenschluss aller Betroffenen auf
[6].
Im November gelang es der Gruppe, in der jüngere Aktivisten in den Vordergrund gerückt waren, grösserer
Aktenmengen aus dem Archiv des Zürcher Grafikers Ernst Cincera habhaft zu werden. Der Coup erregte grosses Aufsehen ; erstmals erfuhr die Öffentlichkeit Näheres über Umfang und Charakter der Dokumentation, die dem bekannten Oberstleutnant und « Subversionsspezialisten » für seine weitgespannte Vortrags- und Auskunftstätigkeit diente und in der sich auch einzelne vertrauliche Stücke aus den Bereichen von Verwaltung, Militär und Bankwesen fanden. Ungewöhnlich waren zudem die Umstände, unter denen die jungen Aktivisten in den Besitz der Dokumente gelangten, sowie die Art und Weise, wie sie ihre Funde publik machten. Da Cincera Anzeige wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs erstattete, kam es zur vorübergehenden Verhaftung einzelner Mitglieder der Arbeitsgruppe « Demokratisches Manifest » und zur Einleitung eines Strafverfahrens. Aufgrund des Materials, das die Arbeitsgruppe den Behörden übergab, sahen sich diese jedoch noch zu einer zweiten Strafuntersuchung veranlasst, welche die Belieferung des Archivs mit Verwaltungs- und Bankakten abklären sollte
[7].
Die Affäre wurde je nach Standort sehr unterschiedlich beurteilt. Insbesondere in rechtsbürgerlichen Kreisen verteidigte man die Dokumentations- und Informationstätigkeit Cinceras, die man im grossen und ganzen als notwendige Ergänzung behördlicher Wachsamkeit gegenüber staatsfeindlichen Umtrieben wertete ; die Aktion des « Demokratischen Manifests » wurde gerade als ein Beispiel subversiver Betätigung und zugleich als Manöver zu ihrer Tarnung gedeutet
[8]. Auf der Linken billigte man zwar nicht überall die bei der Aktion verwendete Methode ; man wandte sich aber hauptsächlich gegen Cincera und die ihm nahestehenden Kreise in Wirtschaft und Verwaltung und warf ihnen vor, sie erzeugten ein Klima der Angst und Verdächtigung und gefährdeten durch ein unkontrolliertes Denunziantentum die von der Verfassung garantierten Menschenrechte
[9]. Ein Unbehagen über die Aktivitäten Cinceras und ihre Wirkungen kam auch in führenden bürgerlichen Blättern zum Ausdruck : so warnte man einerseits vor einer sich abzeichnenden Verfilzung zwischen amtlicher und privater Dokumentationstätigkeit und anderseits vor der unrealistischen Vorstellung einer umfassenden kommunistischen Weltverschwörung, die vom Kern der bedrängenden Probleme ablenke
[10]. Der ungeklärte Verdacht, ein Teil des Subversionsarchivs sei elektronisch gespeichert, verstärkte überdies das Bedürfnis nach einem Schutz der Persönlichkeit gegenüber Datenbanken
[11]. Mit der Affäre und ihrer Tragweite befassten sich verschiedene parlamentarische Vorstösse im Bund und in mehreren Kantonen
[12]. Gleichzeitig gründete das « Demokratische Manifest » weitere Sektionen in anderen Landesteilen
[13].
Der Expertenentwurf für eine Verstärkung des
Persönlichkeitsschutzes, zu dem der Bundesrat im Vorjahr ein Vernehmlassungsverfahren eröffnet hatte, fand kein günstiges Echo. Vor allem das Recht auf Gegendarstellung,. das jedem zustehen sollte, der durch Äusserungen in den Massenmedien in seinen persönlichen Verhältnissen betroffen würde, stiess auf verbreitete Ablehnung ; man befürchtete von der vorgeschlagenen Fassung eine allzu starke Beengung der Presse
[14]. Meinungsverschiedenheiten ergaben sich auch über das parlamentarische Begehren, das den Schutz der Persönlichkeitssphäre nicht nur gegenüber Privaten; sondern auch gegenüber Eingriffen der Strafverfolgungsorgane zu verbessern strebte. Gegen den Entwurf der Nationalratskommission, die sich mit der Initiative Gerwig (sp, BS) von 1973 befasst hatte, erhob der Bundesrat Einwände ; erzbefürwortete zwar die Einführung einer nachträglichen richterlichen Kontrolle der Überwachungsmassnahmen, lehnte aber eine zusätzliche Überprüfung durch eine ständige parlamentarische Delegation ab. Da die Initiative auch eine Anpassung der kantonalen Strafprozessordnungen verlangt, welche einige Zeit erfordern würde, schlug der Bundesrat zudem den Erlass einer einheitlichen Übergangslösung und ein Vernehmlassungsverfahren über eine solche vor. Die Kommission stimmte diesem Vorschlag zu, beharrte aber auf dem parlamentarischen Kontrollorgan
[15]. Während sich somit die Entscheidungen auf Bundesebene verzögerten, kam in Genf ein erstes kantonales Gesetz über den Datenschutz zustande, das alle Datenspeicher der Verwaltung unter die Aufsicht eines von Parlament und Regierung gewählten Gremiums stellt
[16].
[1] Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen Staatsschutz und Bürgerfreiheit NZZ, 274, 22.11.76 (Vortrag von Prof. K. Eichenberger in der Vereinigung für Rechtsstaat und Individualrechte) sowie J. Zellweger, Die strafrechtlichen Beschränkungen der politischen Meinungsäusserungsfreiheit, Propagandaverbote, Zürich 1975.
[2] Presse vom 29.4.76 und 7.5.76 ; NZZ, 116, 19.5.76. Vgl. auch SAZ, 71/1976, S. 398 ff. (Vorbehalte), und gk, 25, 29.7.76 ; 26, 12.8.76 ; 30, 16.9.76 (Zustimmung) ; ferner SPJ, 1975, S. 13 u. 46. Erforderlich ist vor allem die Anerkennung von fünf der folgenden sieben Sozialrechte : Recht auf Arbeit, auf Vereinigung, auf Kollektivverhandlungen, auf soziale Sicherheit, auf Fürsorge, auf Schutz der Familie sowie Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand. Zur Menschenrechtskonvention vgl. SPJ, 1974, S. 13.
[3] Presse vom 20.5.76. Vgl. dazu SPJ, 1974, S. 13 ; NZZ, 115, 18.5.76 sowie E. Bannwart, Das Recht auf Bildung und das Elternrecht, Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Bern-Frankfurt a. M. 1975. Zum Recht auf Bildung vgl. auch SPJ,. 1972, S. 127 f. ; 1973, S. 126 ff. ; zum Numerus clausus unten, Teil I, 8a (Hautes écoles).
[4] Zur Frage des scharfen Arrests vgl. unten, Teil I, 3 (Innere Ordnung der Armee). Bezirksanwalt : TA, 162, 15.7.76 ; LNN, 274, 23.11.76.
[5] Zur Diskriminierung wegen abweichender Haltung vgl. SPJ, 1975, S. 139 f. u. 145 sowie unten, Teil I, 8a (Enseignement primaire et secondaire) und c (Presse), ferner die als Anklage konzipierte Faktensammlung von M. Schmid, Demokratie von Fall zu Fall, Repression in der Schweiz, Zürich 1976. Das Thema bildete Gegenstand mehrerer Tagungen im evangelischen Studienzentrum Boldern (ZH) ; vgl. Subversion, Repression, Arbeitspapiere und Arbeitsbericht..., Männedorf 1976.
[6] Presse vom 22.4.76. Zu den Erstunterzeichnern gehörten u.a. die NR E. Canonica, Doris Morf und W. Renschler (alle sp, ZH), der spätere Präsident der Zürcher SP, H. Braunschweig, die Hochschulprofessoren A. Muschg und P. Noll, die Schriftsteller W. M. Diggelmann und M. Frisch sowie der Künstler Max Bill.
[7] Abfolge der Ereignisse : Presse vom 24.11.-8.12.76 ; vgl. insbes. TA, 287, 8.12.76 ; NZZ, 24, 29.1.77. Zur Entwicklung des « Demokratischen Manifests » vgl. TA, 282, 2.12.76 ; über E. Cincera und die von ihm geleiteten Gruppen (Gruppe für zeitkritische Analysen, Informationsgruppe Schweiz) vgl. TA, 276, 25.11.76. Vgl. auch SZ, 277, 27.11.76 ; TG, 278, 27.11.76 ; ferner SPJ, 1972, S. 17 f. (Anm. 58 u. 61) ; 1975, S. 15 (Anm. 23). Publikationen der Beteiligten : Demokratisches Manifest, Dossier Cincera, Dokumente und Materialien, Zürich 1976 ; E. Cincera, Unser Widerstand gegen die Subversion in der Schweiz, Lugano, o.J. (1977).
[8] Vgl. Erklärungen der FDP des Kantons ZH (NZZ, 284, 3.12.76) und der Schweiz. Republikanischen Bewegung (Der Republikaner, 17, 17.12.76) sowie Inserate der Aktion Freiheit und Verantwortung (TA, 288, 9.12.76 ; 24 heures, 288, 9.12.76) ; ferner Aktion für freie Meinungsbildung, Mitteilungsblatt, Nr. 214, Jan. 1977.
[9] Vgl. Erklärungen der SPS (TW, 291, 11.12.76), der PdAS (VO, 282, 6.12.76), des SGB (NZZ, sda, 297, 18.12.76), der Jungen CVP (Ostschw., 281, 1.12.76) und des Schweiz. Schriftstellerverbandes (NZZ, 292, 13.12.76). Kritik an der Aktionsmethode übte NR Canonica (TA, 277, 26.11.76).
[10] Bund, 278, 26.11.76 ; BN, 278, 27.11.76 ; Ostschw., 278, 27.11.76 ; Vat., 280, 30.11.76 ; NZZ, 285, 4.12.76.
[11] Vgl. TA, 280, 30.11.76 ; 289, 10.12.76.
[12] Vgl. Interpellationen Friedrich (fdp, ZH) und Schmid (sp, SG) im NR sowie Wenk (sp, BS) im StR (Verhandl. B.vers., 1976, IV, S. 29, 37 u. 42), ferner Vorstösse in den Kantonsparlamenten von ZH (NZZ, 281, 30.11.76), BE (TW, 283, 2.12.76) und BS (NZ, 385, 10.12.76).
[13] Bern : Bund, 291, 11.12.76 ; TW, 291, 11.12.76 ; Aargau : FA, 196, 17.12.76 ; Genf : JdG, 298, 21.12.76. Vgl. dazu FA, 185, 4.12.76.
[14] Vgl. NZZ, 9, 13.1.76 ; TG, 37, 38, 43 u. 44, 14.-23.2.76 ; Bund, 77, 1.4.76 ; ferner SPJ, 1975, S. 12 f., sowie H.-R. Staiger, Genugtuungsansprüche gegen Massenmedien, Diss. Zürich 1975.
[15] Bundesrat : BBI, 1976, II, S. 1569 ff. Kommission : LNN, 204, 2.9.76 ; TG, 206, 3.9.76. Vgl. SPJ, 1973, S. 16 ; 1975, S. 15.
[16] TG, 127, 2.6.76. Vgl. SPJ, 1975, S. 13, sowie unten, Teil II, 1f. Zu den Fragen des Datenschutzes vgl. TG, 127, 128, 131, 132, 134 u. 136, 2.-14.6.76 ; NZZ, 245, 19.10.76.
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