Année politique Suisse 1976 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Der Druck der Volksrechte auf die Behörden liess nur wenig nach. 1976 wurden fünf neue Initiativen eingereicht, zwei ältere allerdings zurückgezogen. Am Jahresende warteten noch ihrer 19 auf einen Entscheid
[19]. Die 1975 zur parlamentarischen Behandlung vorgelegten Beschränkungsmassnahmen konnten somit weiterhin aktuell erscheinen. Der Nationalrat beharrte dabei auf der Priorität einer Befristung der Unterschriftensammlung für das Volksbegehren. Diese war neben der Einführung einer Rückzugsmöglichkeit für alle Initiativen die einzige bedeutsame Ergänzung, die der Entwurf des Bundesrates zu einem umfassenden Gesetz über die politischen Rechte erfuhr ; dem Antrag ihrer Kommission, Bundesbeamte als Volksvertreter zu akzeptieren, folgte die Grosse Kammer nicht. Eine Sammelfrist von bloss einem Jahr erachtete der Ständerat freilich als zu kurz, und er setzte eine Verlängerung auf 18 Monate durch
[20]. Erst nach Abschluss der Differenzenbereinigung für das neue Gesetz nahm der Nationalrat zur Frage der Unterschriftenzahlen, die in der Verfassung fixiert sind, Stellung. Gegen die Opposition der Sozialdemokraten, des Landesrings und der Vertreter kleinerer Gruppen stimmte er dem Entscheid des Ständerates vom Vorjahr zu und erhöhte das Quorum für die Initiative auf 100 000 und für das Referendum auf 50 000. Ein Antrag, die Erhöhung mit der Einführung der Gesetzesinitiative zu verbinden, unterlag
[21].
Bei der Behandlung des
Gesetzes über die politischen Rechte äusserten sich beide Kammern auch zu Vorschlägen, die — zum Teil kantonalen Regelungen folgend — für den Fall einer Gegenüberstellung von Initiative und Gegenentwurf die Privilegierung des Status quo zu verhindern strebten ; durch
Zulassung eines doppelten Ja, durch zeitliche Staffelung des Entscheids über Initiative und Gegenentwurf oder durch Einführung einer Eventualfrage sollte einer reformbereiten Mehrheit von Volk und Ständen der Sieg über die beharrende Minderheit erleichtert werden. Da die Verfassungsmässigkeit aller vorgeschlagenen Varianten zweifelhaft erschien, nahm man davon Abstand, das Problem auf Gesetzesstufe zu lösen, und beauftragte den Bundesrat mit seiner Prüfung
[22].
Das Parlament tendierte jedoch nicht einseitig auf eine Einschränkung der Volksrechte ; wenn es auch ihre quantitativen Voraussetzungen verschärfte, so bot es doch Hand zu einem qualitativen Ausbau, indem es das
Referendum gegenüber Staatsverträgen erweiterte. Der Nationalrat liess es überdies nicht zu, dass die Initiative der Nationalen Aktion zum Staatsvertragsreferendum der Volksabstimmung entzogen wurde. Ein neuer Versuch, die plebiszitären Kontrollrechte auf dem Initiativweg auszudehnen, liegt im Begehren um Mitsprache beim Bau von Atomanlagen vor, das mit seinen 120 000 Unterschriften auch eine erhöhte Schranke hätte überspringen können
[23].
[19] Vgl. Gesch.ber., 1976, S. 3 ; SPJ, 1975, S. 20 f., ferner unten, Teil I, 4a (Konjunkturpolitik). Ein einziges Referendum wurde lanciert, kam aber nicht zustande (vgl. unten, Teil I, 7d, Droit de la famille).
[20] Amtl. Bull. NR, 1976, S. 2 ff., 67 ff., 101 ff. u. 1485 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1976, S. 514 ff., 541 ff. u. 673 ff. Vgl. SPJ, 1975, S. 21. Definitiver Text : BBI, 1976, III, S. 1450 ff.
[21] Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1670 ff. ; Vgl. SPJ, 1975, S. 21. Die unterlegene Minderheit wollte den BR mit der Ausarbeitung einer kombinierten Vorlage beauftragen (Stimmenverhältnis : 65 : 57. Vgl. dazu SZ, 294, 17.12.76.
[22] Amtl. Bull. NR, 1976, S. 80 ff. (insbes. Motion Muheim, sp, LU und Postulat Trottmann, cvp, AG) ; Amtl. Bull. StR, 1976, S. 539 ff. (Motion Weber, sp, SO). Die Motionen wurden in Postulate umgewandelt. Vgl. dazu NZZ, 92, 21.4.76 ; 156, 7.7.76 ; NZ, 163, 26.5.76 ; W. A. Jöhr, Das Abstimmungsproblem bei Initiativen, St. Galien 1975 ; Chr. Haab, « Abstimmung über Initiative und Gegenvorschlag : Das Verfahren mit bedingter Eventualabstimmung », in Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 77/1976, S. 377 ff., ferner SPJ, 1974, S. 20 f. Als Beispiel der Blockierung einer Reform durch einen Gegenentwurf vgl. die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung (unten, Teil I, 7a, Participation).
[23] Zum Staatsvertragsreferendum vgl. unten, Teil I, 2 (Participation démocratique), zur Gültigkeit der Initiative insbes. Amtl. Bull. NR, 1976, S. 315 ff. Atomanlagen : vgl. unten, Teil I, 6a (Kernkraftwerke). Vgl. SPJ, 1975, S. 21 f. Über Erhöhung der Unterschriftenzahlen in den Kantonen vgl. unten, Teil II, 1h.
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