Année politique Suisse 1976 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Aussenhandel
Die schweizerische Aussenwirtschaft, die seit Ende 1974 zunehmend in den Sog weltweiter depressiver Kräfte geraten war, hat sich im Jahre 1976 zumindest konjunkturell weitgehend erholt ; ihre strukturellen Probleme sind indessen noch kaum gelöst
[76]. Konjunkturentwicklung und Währungsgeschehen haben die internationale Verflechtung unserer Volkswirtschaft und damit auch die Abhängigkeit der Schweiz von weltwirtschaftlichen Bedingungen noch verstärkt : 1976 stieg das auf ausländischen Märkten verdiente Einkommen von 40 auf 44 % des Bruttosozialproduktes, während das Schweizer Vermögen im Ausland um 33,1 Mia Fr. anwuchs
[77]. Gleichzeitig setzte jedoch die Währungssituation dem tendenziellen Interessengegensatz zwischen Industriestandort Schweiz und Finanzplatz Schweiz besondere Akzente, indem gerade die Sicherheit des Schweizer Frankens die Stabilität unserer Wirtschaft zu gefährden schien
[78].
Die konjunkturelle Erholung in den USA, in der Bundesrepublik Deutschland und in Japan hat das weltwirtschaftliche Klima seit Mitte 1975 leicht verbessert. Getragen von voraussichtlich nur vorübergehenden Auftriebskräften wie der Wiederaufstockung der Lager und einer Belebung des privaten Konsums, stiegen Produktion und Aussenhandelsumsätze in allen wichtigen Industrieländern wieder an, so dass sich das reale Bruttosozialprodukt des gesamten OECD-Raumes im Jahre 1976 um 5 % erhöhte. Niedrige Gewinnaussichten und geringe Kapazitätsauslastung verhinderten jedoch in fast allen Ländern eine Investitionstätigkeit, die dazu ausreichen könnte, diesem Konjunkturaufschwung eine dauerhafte und selbsttätige Basis zu verleihen. Die weltwirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven blieben zudem getrübt durch immer noch hohe Inflationsraten und wachsende Ungleichgewichte im internationalen Zahlungsverkehr. Trotz der unverändert prekären Arbeitsmarktsituation, die expansive Massnahmen erfordert hätte, sahen sich manche Länder aufgrund ihres Budgetdefizits und eines sprunghaften Währungszerfalls zu wirtschaftspolitischen Restriktionen veranlasst und zeigten vermehrt jene für die liberale Weltwirtschaft gefährliche Tendenz, das Problem ihrer negativen Ertragsbilanzen in zunehmend protektionistischer Haltung anzugehen
[79].
Die Belebung der internationalen Nachfrage ermöglichte es der schweizerischen Exportwirtschaft, ihre Umsätze erheblich auszuweiten. Neben den Aufwendungen der öffentlichen Hand stellte die Ausfuhr praktisch den alleinigen Konjunkturmotor für unsere Wirtschaft dar ; der Exporterfolg vermochte den anhaltenden Rückschlag in der binnenwirtschaftlichen Entwicklung denn auch beinahe auszugleichen
[80]. Wenn diese beachtliche Absatzsteigerung im Ausland trotz des erhöhten Frankenkurses möglich war, so ist das auf verstärkte private und staatliche Anstrengungen zur Exportförderung sowie auf die weltweit niedrigste Teuerungsrate und das tiefe Zinsniveau der Schweiz zurückzuführen ; die Verbilligung der Importpreise fiel wohl weniger stark ins Gewicht, zeichnet sich doch unsere Aussenwirtschaft aufgrund ihres Verarbeitungsgrades durch eine hohe Wertschöpfung im Inland aus
[81]. Der Exportaufschwung kam allerdings nur dank einem namhaften Mehraufwand zustande und trug typische Züge einer Mengenkonjunktur. Jedenfalls klagten viele Unternehmen über konkurrenzbedingte Gewinnkomprimierung und Aushöhlung ihrer Substanz, die weitere Investitionen in der Hochpreisinsel Schweiz als unrentabel erscheinen liessen
[82].
Der hohe Frankenkurs fördert die
Multinationalisierung der schweizerischen Unternehmungen, indem er eine Verlagerung der Produktion in kostengünstigere Länder erzwingt und gleichzeitig auch Direktinvestitionen im Ausland stark verbilligt. Neben der engen Verflechtung von Industrie- und Finanzinteressen ist es wohl diesem Investitionsvorteil zuzuschreiben, dass sich unsere Wirtschaft dem Internationalisierungstrend ohne lautstarken Protest anzupassen schien
[83]. Grundsätzliche Kritik an der staatlichen Währungs- und Wirtschaftspolitik, die sich diese Entwicklung aufzuhalten ausserstande sah, blieb praktisch auf struktur- und finanzschwache, vorwiegend kleinbetrieblich organisierte Industriezweige sowie ihnen nahestehende akademische und politische Kreise beschränkt
[84]. Eine profitorientierte Auslagerung der Produktion könnte jedoch beschäftigungsmässig für die Schweiz fatale Folgen haben, wie linke Stimmen zu bedenken gaben
[85]. Zudem dürften die Direktinvestitionen im Ausland wie überhaupt der Kapitalexport den Währungsdruck zwar kurzfristig mildern, längerfristig aber dadurch wieder erheblich vergrössern, dass die rückfliessenden Kapitalerträge die ohnehin sehr hohe Ertragsbilanz noch stärker aktivieren könnten, ein Zirkel, der die Schwierigkeiten der schweizerischen Exportwirtschaft und das Dilemma ihrer multinationalen Anpassungsstrategie illustriert
[86].
In verschiedenen internationalen Gremien wird zur Zeit die Frage diskutiert, auf welche Weise sich eine bessere Kontrolle der multinationalen Unternehmungen bewerkstelligen liesse
[87]. Die schweizerischen Multis sind, gemessen an internationalen Massstäben, zwar nur kleinere und mittlere Firmen ; dennoch sind sie in ihrer Undurchschaubarkeit Zielscheibe vor allem linker Kritik
[88]. Anlass zu latentem Unbehagen bot nicht zuletzt die Giftgaskatastrophe im italienischen Seveso, die durch eine Tochterfirma des Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche verursacht worden war
[89].
Der schweizerische
Aussenhandel hat 1976 den schweren Rückschlag des Vorjahres (Importe - 20 %, Exporte - 5 %) mehr als nur wettgemacht
[90]. Das Volumen der ausgeführten Waren erhöhte sich um 12 %, während die Importe einen Anstieg von real 14 % verzeichneten. Da sich die Preisverhältnisse zwischen Import- und Exportgütern (terms of trade) im Gefolge der Frankenverteuerung und der Rohstoffpreisbaisse weiter zugunsten der Schweiz entwickelten, nahmen die Ausfuhren nominal um 11 % auf 37 045 Mio Fr. zu und erreichten damit einen neuen Rekordstand, wogegen der Wert der eingeführten Waren nur um 8 % auf 36 871 Mio Fr. stieg und die Höchstmarke des Jahres 1974 nicht erlangte. Erstmals seit 1953 ergab somit die normalerweise stark defizitäre Handelsbilanz einen Ausfuhrüberschuss, was für die Entwicklung der Ertragsbilanz ausschlaggebend war ; deren Aktivsaldo dürfte sich schätzungsweise auf 8-9 Mia Fr. belaufen haben.
Nach Produktengruppen unterschieden, trugen die Rohstoffe und Halbfabrikate sowie die Konsumgüter massgeblich zur Erhöhung sowohl der Einfuhren als auch der Ausfuhren bei ; Ankauf und Versand von Investitionsgütern sind dagegen praktisch konstant geblieben. Branchenmässig wiesen die Textil- und Bekleidungsindustrie, die chemische wie auch die Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie die Metallbranche und andere baunahen Bereiche, die angesichts der schwachen Inlandnachfrage auf ausländische Märkte auszuweichen suchten, hohe Exportzuwachsraten auf. Hingegen konnte die Maschinen- und Apparateindustrie ihr gutes Vorjahresergebnis nur knapp erreichen, und die von der Rezession schon 1975 am stärksten getroffene Uhrenindustrie musste einen weiteren Rückgang ihrer Exporte hinnehmen. Regional betrachtet, stiegen die Exporte in die EG, in die Entwicklungsländer (hier vor allem in die OPEC-Staaten) und in die USA überdurchschnittlich an, während der Versand nach den Staatshandelsländern und nach der EFTA nur noch minim zunahm. 45 % unserer gesamten Auslandverkäufe fanden ihren Weg in die EG ; wichtigster Handelspartner blieb nach wie vor die Bundesrepublik Deutschland
[91].
[76] Vgl. P. R. Jolles, «Welche Auswirkungen hat die Lage der Weltwirtschaft auf die Schweiz ? », in Documenta, 1976, Nr. 2, S. 10 ff. ; Mitteilungsblatt des Delegierten für Konjunkturfragen, 32/1976, Heft 2 (« Probleme der schweizerischen Exportwirtschaft ») ; W. Jucker, « Währung, Beschäftigung und Ausfuhr», in Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 14. Vgl. auch BBl, 1976, III, S. 1425 ff.; 1977, I, S. 533 ff. (7. und 8. Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik) ; H. Rüegg, « Schweizer Export — wohin ? », in Politische Rundschau, 55/1976, S. 163 ff.
[77] Vgl. SBG, Die Schweiz in Zahlen, Ausgabe 1977. Vgl. auch Gesch.ber., 1976, S. 219 ; NZ, 156, 20.5.76 ; 220, 17.7.76 ; 352, 11.11.76.
[78] Vgl. BR Brugger in Documenta, 1976, Nr. 1, S. 6. Vgl. auch LNN, 44, 23.2.76 ; wf, Dok., 38, 20.8.76 sowie oben, Teil I, 4b.
[79] Vgl. Mitteilung Nr. 244 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 50/1977, Heft 2 (in der Folge zitiert : Mitteilung/Konjunkturfragen) ; SNB, Geschäftsbericht, 69/1976, S. 18 ff. ; SKA, Bulletin, 82/1976, Nr. 12 ; BBI, 1976, II, S. 1426 ff. ; 1977, I, S. 555 ff. Vgl. auch NZ, 258, 20.8.76 ; LNN, 259, 21.8.76 ; SBG, Wirtschafts-Notizen, Oktober 1976, S. 3 ff.
[80] Vgl. Mitteilung/Konjunkturfragen, Nr. 244 ; Gesch.ber., 1976, S. 219 ff. Vgl. auch unten, Teil I, 4a (Konjunkturlage).
[81] Vgl. SNB, Geschäftsbericht, 69/1976, S. 29 f.; NZ, 89, 20.3.76 ; 117, 13.4.76 ; TA, 85, 10.4.76.
[82] Vgl. SAZ, 71/1976, S. 438 f. und 653 f. ; wf, Dok., 9, 1.3.76 ; 17, 26.4.76 ; 39, 27.9.76 ; 51-52, 20.12.76 ; BüZ, 62, 13.3.76 ; NZ, 149, 14.5.76 ; NZZ, 147, 26.6.76 ; Bund, 176, 30.7.76. Vgl. aber auch NZ, 196, 26.6.76 und TW, 304, 28.12.76. Vgl. ferner unten, Teil I, 4a (Konjunkturlage).
[83] Vgl. LNN, 105, 6.5.76 ; 223, 24.9.76 ; NZZ, 201, 28.8.76 ; TA, 96, 26.4.77. Vgl. auch F. Höpflinger, Das unheimliche Imperium. Wirtschaftsverflechtung in der Schweiz, Zürich 1977.
[84] Vgl. unten, Exportförderung und unten, Teil I, 4b (Währung).
[85] Vgl. Bresche, 71/72, 14.6.76 ; NZ, 401, 24.12.76 ; gk, 3, 20.1.77. Der BR lehnte es ab, die unternehmerische Investitionsfreiheit aus beschäftigungspolitischen Gründen in Frage zu stellen ; vgl. Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1735 (Einfache Anfrage Morel, sp, FR).
[86] Vgl. LNN, 88, 14.4.76. Ein pessimistische Zukunftsperspektive zeichnet E. Küng in Krise ist nicht Schicksal, Frankfurt a. M. 1976 (Magazin Brennpunkte 1), S. 53 ff.
[87] Vgl. SAZ, 71/1976, S. 677 ff. (OECD-Leitsätze über multinationale Unternehmungsinvestitionen) ; TA, 75, 30.3.76 ; TG, 109, 11.5.76 ; Tat, 145, 22.6.76 ; 24 heures, 146, 25.6.76 ; NZ, 263, 24.8.76.
[88] Vgl. J. Ziegler, Une Suisse au-dessus de tout soupçon, Paris 1976 ; Arbeitsgruppe Dritte Welt, Exportinteressen gegen Muttermilch, Reinbek/Hamburg 1976 ; U. P. Gasche, Die « Strategie» der Multis gegen ihre Kritiker, Zürich 1976; Multinationale im Nord-Süd-Konflikt, Frankfurt a. M. 1976 (Magazin Brennpunkte 3) ; Ww, 24, 16.6.76 ; FA, 93, 19.8.76 ; 4, 6.1.77 ; Bresche, 75, 11.9.76 ; Zeitdienst, 1, 7.1.77.
[89] Vgl. Presse ab Ende Juli 1976. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1583 ff. (Interpellation der SP-Fraktion). Vgl. ferner oben, Traités und unten, Teil I, 6d (Luftverunreinigung und Lärm).
[90] Vgl. Mitteilung/Konjunktur/ragen, Nr. 244 ; wf, Dok., 7, 14.2.77 ; 10, 7.3.77. Vgl. auch SPJ, 1975, S. 79 f.
[91] Vgl. A. Rölli, « Die Exporte in die OPEC-Staaten : Ein Vergleich zwischen der Schweiz und andern OECD-Staaten », in Aussenwirtschaft, 31/1976, S. 217 ff. ; P. Arnold, « Der wichtigste Handelspartner der Schweiz », in Schweiz. Bankverein, Der Monat, 1976, Nr. 4, S. 2 f. ; wf, Dok., 37, 13.9.76.
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