Année politique Suisse 1976 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
Landesverteidigung und Gesellschaft
Die äusseren und inneren Voraussetzungen der schweizerischen Landesverteidigung entwickelten sich 1976 in denselben Richtungen, die wir schon für 1975 angedeutet haben. Trotz den Empfehlungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verstärkte sich das bedrohliche Wettrüsten in Ost und West. Anderseits nahm die Bereitschaft zu militärischen Dienstleistungen in der wehrpflichtigen Jugend weiter zu. Dies äusserte sich nicht nur in einem Rückgang der Dienstverweigerungsfälle ; verschiedentlich wurde auch ein grösseres Interesse an der Ausbildung zum Unteroffizier oder Offizier festgestellt. Dazu mag freilich die wirtschaftliche Rezession beigetragen haben. Diese hatte auch eine einschränkende Wirkung : infolge der sich verschärfenden Finanznot des Bundes blieb das EMD von Budgetkürzungen nicht verschont. Standen ihm 1976 einschliesslich der Konjunkturzusätze 3041 Mio Fr. zur Verfügung, so wurden für 1977 nur 2932 Mio. Fr. vorgesehen. Noch grössere Sorgen als die Finanzknappheit bereitete den für die Wehrangelegenheiten Verantwortlichen der andauernde Geburtenschwund, der sich von 1983 an auf die Zahl der Stellungspflichtigen auswirken wird
[1].
Unter diesen Gegebenheiten waren Bundesrat und Verwaltung bestrebt, die Landesverteidigung im Sinne des vom Parlament 1973/74 gutgeheissenen Berichtes über die Sicherheitspolitik auszubauen. Für den militärischen Bereich war 1975 das Armeeleitbild 80 vorgelegt worden. In den Richtlinien der Regierungspolitik für die neue Legislaturperiode stützte sich der Bundesrat im wesentlichen auf diese Grundlage, deren bedeutendste Konsequenz vorerst der Ankauf des Raumschutzflugzeugs « Tiger » darstellte
[2]. Die Landesregierung ergänzte jedoch die technischen und organisatorischen Aspekte des Armeeleitbildes durch eine gesellschaftspolitische Zielsetzung : neben das bereits 1971 aufgenommene Postulat, einen Zivildienst für Dienstverweigerer einzuführen, traten Revisionen des Dienstreglements, des Militärstrafgesetzes und der Militärstrafgerichtsordnung
[3]. Für die Planungstätigkeit des EMD setzte Bundespräsident Gnägi eine neue Konzeption in Kraft. Diese sieht einen Planungsausschuss vor, dessen ständigen Kern der Generalstabschef, der Rüstungschef und der Direktor der Eidg. Militärverwaltung bilden ; sie legt vermehrtes Gewicht auf die finanziellen Erfordernisse
[4].
Eine in ihrem Ausmass noch nicht abzuschätzende Beeinträchtigung erfuhr die wehrpolitische Situation durch die
Affäre Jeanmaire. Eine nachhaltige Welle der Beunruhigung ergriff Armee und Öffentlichkeit, als das EJPD im August bekanntgab, der frühere Chef der Abteilung für Luftschutztruppen, Brigadier J.-L. Jeanmaire, sei wegen Preisgabe militärischer Geheimnisse an die Sowjetunion verhaftet worden. Noch nie war in der neueren Schweizergeschichte ein so hoher Offizier in einen Verratsfall verwickelt gewesen. Dass der als Haudegen und scharfer Antikommunist bekannte Truppenführer ein Sowjetspion sei, erschien seiner nächsten Umgebung unverständlich. Da die Behörden mit Informationen vorerst sehr zurückhielten, zirkulierten allerlei Mutmassungen und Gerüchte : der Verrat sei durch den westdeutschen Nachrichtendienst entdeckt worden und er beziehe sich auf Absprachen mit der NATO für einen Ernstfall. Das Bestehen solcher Absprachen wurde von den amtlichen Stellen entschieden dementiert
[5].
Ein Missbehagen über den kargen Informationsstand blieb jedoch bestehen
[6]. Es äusserte sich in parlamentarischen Vorstössen, in denen verschiedene Gegenstände der Besorgnis zur Sprache kamen : Stand des Staatsschutzes, Geheimhaltungspraxis, Beförderungsverfahren, Verkehr von Beamten und Offizieren mit ausländischen Botschaften sowie Umfang und Bewegungsfreiheit des Personals östlicher Missionen. Dies veranlasste Bundesrat Furgler im Oktober zu konkreten Auskünften : der Geheimnisverrat reiche bis ins Jahr 1962 zurück und betreffe u.a. die Organisation der Gesamtverteidigung und die Kriegsmobilmachung. Der Chef des EJPD wandte sich gegen die Einführung polizeistaatlicher Methoden zur Erhöhung der Sicherheit, räumte aber ein, dass psychologische Faktoren bei der Besetzung hoher Kommandostellen stärker gewichtet werden sollten
[7]. Nachdem die Bundesanwaltschaft ihre Ermittlungen abgeschlossen hatte, übertrug der Bundesrat den Fall im November der Militärgerichtsbarkeit
[8]. Als Hauptmotiv des Verrats wurde Enttäuschung über das Misslingen einer infanteristischen Karriere genannt. Zur Behebung des Schadens nahm man im EMD eine Revision der Mobilmachungs pläne und die Umstrukturierung der Nachrichtenabteilung in Aussicht
[9]. Schwerer wog jedoch da und dort der Verlust an Vertrauen in die Institutionen, deren Wachsamkeit und Strenge sich zu sehr auf offene Militärgegner zu konzentrieren schien
[10].
Verschiedene Stimmen erhoben im Oktober den Ruf nach einer parlamentarischen Untersuchung der politischen und administrativen Aspekte der Affäre. Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates nahm sich der Sache an und bildete gegen Jahresende eine Arbeitsgruppe, die auch Vertreter der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates und beider Militärkommissionen umfasste und sich in erster Linie der Beförderungspraxis und der Organisation der Spionageabwehr zuwandte
[11].
Als Planungsgrundlage für die militärische Landesverteidigung hatte der Bundesrat 1975 dem Parlament das
Armeeleitbild 80 unterbreitet. Dieses war in der ersten Hälfte des Jahres 1976 Gegenstand einer eingehenden Diskussion. Im Brennpunkt der Kritik standen die Umdispositionen, die zum Teil mit dem erwarteten Rückgang der Zahl der Stellungspflichtigen begründet wurden, die man aber da und dort als Ausdruck einer merklichen Änderung der Einsatzkonzeption wertete. Vorgesehen sind vor allem eine Verlagerung von Panzerverbänden aus den mechanisierten Divisionen in die Feld- und Grenzdivisionen sowie eine gewisse Reduktion des Gebirgsarmeekorps. Kreise, die das dynamische Element in der Kampfführung betonten, äusserten die Besorgnis, das Leitbild schwäche die strategische Reserve ; die Tendenz zum Bau von permanenten Unterständen in operativ wichtigen Räumen des Unterlandes gab Anlass zur Warnung vor einem unbeweglichen « Maginot-Geist »
[12]. Die Regierungen dreier ostschweizerischer Gebirgskantone sahen dagegen die Verteidigung ihres Gebiets gefährdet und verlangten vom EMD Ersatz in qualitativer Hinsicht. Alt Nationalrat N. Jaquet redete vollends einer Rückkehr zur Reduitidee das Wort, da er befürchtete, ein verstärkter Widerstand im Mittelland würde den Einsatz von Atomwaffen provozieren
[13]. Kritische Stimmen machten dem Leitbild auch zum Vorwurf, es berücksichtige mehr die Bedrohungen der 70er als diejenigen der 80er Jahre
[14]. Betont wehrfreudige Kreise zeigten sich ferner darüber enttäuscht, dass der Bundesrat nicht mit einer substantiellen Erhöhung der Militärausgaben rechnet
[15]. Von sozialdemokratischer Seite wurden Hinweise auf eine Reform der Rechtsordnung in der Armee vermisst
[16].
Die eidgenössischen Räte nahmen von der Vorlage Kenntnis ; in ihren Debatten kamen dieselben Vorbehalte zur Sprache. Beide Militärkommissionen empfahlen, die Frage einer Differenzierung der Diensttauglichkeit zu prüfen, um dem Rückgang der Bestände entgegenzuwirken. Bundespräsident Gnägi bezweifelte jedoch, dass auf diesem Wege viel zu gewinnen sei. Zurückhaltend beantwortete er auch das Begehren nach Schaffung einer Einsatztruppe für die Wahrung der Ordnung im Innern des Landes
[17]. Den Vorschlag, die Verwirklichung des Leitbildes mit Hilfe einer neuen Wehranleihe zu beschleunigen, lehnte er ab
[18].
Auf Ende des Jahres demissionierte der Schöpfer des Armeeleitbildes 80, der intellektuelle Basler J. J. Vischer, der auch um die Versachlichung der Diskussion über militärische Fragen bemüht gewesen war, vom Amt des Generalstabschefs, das er 1972 übernommen hatte. Sein Nachfolger wurde H. Senn, Kommandant des Feldarmeekorps 4
[19].
[1] Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit : vgl. SPJ, 1975, S. 47. Wettrüsten : C. Gasteyger, in NZ, 390, 14.12.76 ; (H. R.) Kurz, « Das Militärjahr 1976 », in Der Fourier, 50/1977, S. 41 ff. Dienstverweigerung : vgl. unten, Zivildienst. Weiterausbildung : Bund, 160, 12.7.76 ; NZZ (sda), 180, 4.8.76 ; TA, 278, 27.11.76 ; H. R. Kurz, a.a.O., S. 46. Budget : H. R. Kurz, a.a.O., S. 42 ; vgl. unten, Teil I, 5 (Budget des Bundes). Geburtenschwund : vgl. unten, Teil I, 7a (Politique démographique) ; BBl, 1975, II, S. 1709, ferner Prognose für die Rekrutenbestände in BBl, 1976, III, S. 401. — Es fehlte freilich nicht an neuen armeekritischen oder armeegegnerischen Publikationen : E. P. Gerber, Achtung — links, geradeaus — Marsch, Schweizer Armee und Demokratieverständnis..., Bern 1976 ; Soziale Verteidigung, Eine gewaltfreie Alternative zur militärischen Verteidigung der Schweiz, Zürich 1976.
[2] Sicherheitspolitik : vgl. SPJ, 1973, S. 43 f. ; 1974, S. 46. Armeeleitbild 80 : vgl. SPJ, 1975, S. 57 f. sowie unten. Richtlinien : BBl, 1976, I, S. 470 ff. ; vgl. oben, Teil I, 1c (Regierung). Tiger : vgl. unten, Rüstung.
[3] Zivildienst : vgl. SPJ, 1971, S. 62 f. sowie unten. Revisionen : vgl. unten, Innere Ordnung der Armee.
[4] NZZ (sda), 89, 15.4.76 ; 273, 20.11.76 ; W. Dürig / G. Stefanoni, « Die neue Planungskonzeption des EMD“, in Verwaltungspraxis, 30/1976, Nr. 9, S. 5 ff. ; H. Senn, in Allgemeine schweizerische Militärzeitschrift, 142/1976, S. 454. Zu den finanziellen Aspekten der Planung vgl. die als Postulat überwiesene Motion Baumann (svp, AG) für einen Ausgleich der durch Teuerung und technische Entwicklung bedingten Substanzverluste im Investitionsprogramm des EMD (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1093 ff.).
[5] J.-L. Jeanmaire war 1969-1975 Chef der Luftschutztruppen. Bekanntgabe : Presse vom 17. und 18.8.76. Weitere Informationen der Behörden : Presse vom 26.8.76. Westdeutscher Nachrichtendienst : TA, 204, 2.9.76 ; IdG, 237, 11.10.76. Absprachen : Ww, 35, 1.9.76. Dementi : Ww, 36, 8.9.76 ; Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1233 (BR Furgler). Das Armeeleitbild 80 erklärt die operative Zusammenarbeit mit ausländischen Armeen im Frieden für unzulässig (BBl, 1975, II, S. 1707).
[6] Ww, 33, 18.8.76 ; BZ, 193, 19.8.76 ; NZZ, 236, 8.10.76 ; SZ, 234, 8.10.76 ; Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1228 ff.
[7] BR Furgler beantwortete eine Dringliche Interpellation der SVP, Interpellationen Allgöwer (ldu, BS) und Schwarzenbach (rep., ZH) sowie eine Einfache Anfrage Schalcher (evp, ZH) im NR (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1226 ff.), ferner eine Interpellation Heimann (ldu, ZH) im StR (Amtl. Bull. StR, 1976, S. 543 ff.).
[8] Presse vom 11.11.76 über Pressekonferenz der Chefs des EMD und des EJPD. Ein Gesuch Jeanmaires um Entlassung aus der Wehrpflicht wurde abgewiesen.
[9] Presse vom 23.12.76 über Erklärungen Bundespräsident Gnägis und Generalstabschef Vischers. Befürchtungen amerikanischer Stellen, die den Fall Jeanmaire mit der Beschaffung des Kampfflugzeugs «Tiger» in den USA in Zusammenhang brachten, gaben Anlass zu Klarstellungen durch Vertreter des EMD in Washington (NZ, 351, 10.11.76 ; TA, 263, 10.11.76).
[10] Vertrauensverlust : 24 heures, 223, 24.9.76 ; NZZ, 273, 20.11.76 ; Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1228 f. Militärgegner : TW, 201, 28.8.76.
[11] Stimmen : BZ, 236, 8.10.76 ; Wir Brückenbauer, 41, 15.10.76 ; NZZ (sda), 244, 18.10.76 (CVP) ; BN, 248, 23.10.76 ; BZ (sda), 250, 25.10.76 (SVP). Arbeitsgruppe : Presse vom 13.11.76 ; Bund, 289, 9.12.76 ; LNN, 300, 23.12.76. Den Vorsitz übernahm der Präsident der Geschäftsprüfungskommission des NR, A. Müller (cvp, LU) (NZZ, sda, 290, 10.12.76).
[12] Armeeleitbild : BBI, 1975, II, S. 1706 ff. ; vgl. auch Ansprache Generalstabschef Vischers vor der Schweiz. Offiziersgesellschaft (Documenta, 1976, Nr. 2, S. 32 ff.). Kritik : 24 heures, 30, 6.2.76 (P. Henchoz) ; NZZ, 41, 19.2.76 (G. Däniker) ; 42, 20.2.76 (E. A. Kägi) ; 100, 30.4.76 (FDP des Kantons ZH) ; 109, 11.5.76 (P. Bourgeois) ; H. Wanner, « Mehr oder bessere Mechanisierung?“, in Allgemeine schweiz. Militärzeitschrift, 142/1976, S. 271 ff.
[13] Ostschweizer Kantone (GL, GR, SG) : BüZ, 52, 2.3.76. Reduitidee : N. Jaquet, Strategie des Überlebens, Beitrag zu einer neuen Konzeption unserer Landesverteidigung, Basel 1976.
[14] TA, 13, 17.1.76 ; NZZ, 41, 19.2.76 ; 109, 11.5.76 ; 24 heures, 46, 25.2.76.
[15] TA, 13, 17.1.76 ; NZZ, 100, 30.4.76 (FDP des Kantons ZH) ; Allgemeine schweiz. Militärzeitschrift, 142/1976, S. 149 (Schweiz. Offiziersgesellschaft).
[16] TA, 13, 17.1.76 (G. Jakob).
[17] Debatte des StR vom 9.3. : Amtl. Bull. StR, 1976, S. 68 ff. Debatte des NR vom 17.6. : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 611 ff. Antworten BR Gnägis : Amtl. Bull. StR, 1976, S. 74 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1976, S. 820 ff. Positiver als der Chef des EMD äusserte sich der designierte Nachfolger des Generalstabschefs, Korpskommandant H. Senn, zur Abstufung der Tauglichkeit (NZ, 150, 15.5.76) ; vgl. auch NZZ, 2, 4.1.77.
[18] Vgl. Postulat Schalcher (evp, ZH) : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 822 f.
[19] Vgl. Presse vom 1.4.76 ; Allgemeine schweiz. Militärzeitschrift, 142/1976, S. 453 f.
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