Année politique Suisse 1976 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
 
Zivildienst
Die von der sog. Münchensteiner Initiative angestrebte Einführung eines Zivildienstes für Dienstverweigerer trat in die Entscheidungsphase. Zu dem in Form einer allgemeinen Anregung gehaltenen Volksbegehren, das schon 1973 vom Parlament gutgeheissen worden war, legte der Bundesrat im Juni eine Formulierung vor, welche Wehrpflichtigen, die den Militärdienst aus religiösen oder ethischen Gründen mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes eröffnet. Die Einschränkung auf religiöse und ethische Motive, die der Vorschlag der Expertenkommission nicht enthalten hatte, entspricht dem Erfordernis, die das Militärstrafgesetz seit 1967 für ein milderes Strafmass erhebt und zu dessen Auslegung die Militärgerichte eine Praxis entwickelt haben. Die Ausführung des neuen Grundsatzes bleibt der Gesetzgebung überlassen, doch skizzierte der Bundesrat dazu in seiner Botschaft konkrete Vorschläge. So sollen zivile Expertenausschüsse die einzelnen Bewerber prüfen, der Dienst soll insgesamt 18 Monate (6 Monate länger als der Wehrdienst) dauern und in einer vom EMD unabhängigen, hierarchisch gegliederten Bundesorganisation geleistet werden [34]. Der Ausschluss politischer Motive stiess in Kreisen, die sich nachdrücklich für einen Zivildienst eingesetzt hatten, auf Ablehnung ; bereits sprach man von der Lancierung einer neuen Initiative [35]. Anderseits fehlte es nicht an Stimmen, die sich — insbesondere mit finanziellen Argumenten — überhaupt gegen einen zivilen Ersatzdienst wandten [36].
Die Willensbildung im Nationalrat, wo die Vorlage im Herbst zur Debatte stand, gestaltete sich schwierig. Die Mehrheit der vorberatenden Kommission die sich vor allem auf CVP- und SVP-Kreise stützte, sekundierte den Bundesrat. Die Linksparteien griffen demgegenüber auf den Expertenentwurf zurück, der keine Differenzierung des Gewissens vorgenommen hatte. Aus bürgerlichen Kreisen wurden dagegen zusätzliche Einschränkungen für die Zulassung zum Ersatzdienst gewünscht ; ein republikanischer Antrag wollte vollends die grundsätzliche Zustimmung zur Initiative wieder rückgängig machen. Gegen alle diese Varianten setzte sich jedoch mit 92 : 86 Stimmen eine Fassung durch, die der Präsident der Expertenkommission, P. Dürrenmatt (lib., BS), mit dem christlichdemokratischen Psychiater Condrau (ZH) ausgearbeitet hatte und die den Gewissensentscheid an ein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit knüpfte ; dieses sollte die Ernsthaftigkeit der Gewissensnot zuverlässiger dartun als andere Kriterien. Der Beschluss der Grossen Kammer, der in der Presse ein gutes Echo fand und auch vom Initiativkomitee begrüsst wurde, stiess jedoch im Dezember bei den Ständevertretern auf Ablehnung ; hier drang die Formel des Bundesrates durch [37]. Der starke Rückgang der Dienstverweigerungsfälle mochte das Problem weniger dringlich erscheinen lassen [38], Anderseits äusserten sich bei einer gesamtschweizerischen Meinungsumfrage 73 % positiv zur Einführung eines zivilen Ersatzdienstes [39].
 
[34] BBI, 1976, II, S. 961 ff. Vgl. dazu SPJ, 1967, S. 49 ; 1973, S. 48 ; 1974, S. 50 f. ; 1975, S. 57.
[35] TW, 209, 7.9.76 (Schweiz. Zivildienstkonferenz) ; NZ, 290, 17.9.76 (Initiativkomitee).
[36] So empfahl Korpskommandant Senn, Dienstverweigerer untauglich zu erklären (NZ, 150, 15.5.76). In Lausanne wurde ein « Comité d'action contre le rétablissement de la corvée en Suisse » gegründet (VO, 148, 1.7.76 ; BN, 172, 27.7.76).
[37] Nationalrat : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1099 ff. u. 1122 ff. Echo : Presse vom 6.10.76. Initiativkomitee : NZ, 314, 9.10.76. Ständerat : Amtl. Bull. StR, 1976, S. 687 ff. u. 725.
[38] 1976 wurden 367 Dienstverweigerer verurteilt (1975 : 520), davon beriefen sich 181 (227) auf ethische oder religiöse und 35 (59) auf politische Gründe (24 heures, 22, 27.1.77).
[39] NZZ (sda), 302, 24.12.76. Dabei fand das Kriterium der Gewaltlosigkeit gleich viele Befürworter wie die Beschränkung auf ethische und religiöse Motive. Zum Thema Dienstverweigerung vgl. auch Les Cahiers protestants, 1976, Nr. 5.