Année politique Suisse 1976 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
Konjunkturlage
Im Gegensatz zu den bei Jahresbeginn geäusserten Erwartungen brachte das Jahr 1976
keine Besserung der allgemeinen Konjunkturlage. Wohl konnte der wirtschaftliche Rückgang beinahe zum Stillstand gebracht werden ; die Abnahme des realen Brutto-Inlandproduktes um 0,8 % (1975 : — 7,4 %) zeigte aber, dass die Schweiz die konjunkturelle Talsohle zwar erreicht hat, ein Wiederaufschwung jedoch — im Gegensatz zu den übrigen kapitalistischen Industrieländern — noch nicht eingetreten ist
[6]. Eine Aufteilung des Bruttosozialproduktes nach Verwendungsarten ergibt einen erneuten massiven Rückgang bei den Anlageinvestitionen und eine leichte Rückbildung beim privaten Konsum von Gütern und Diensten. Dieser negativen Entwicklung steht eine positive Zuwachsrate bei den laufenden Käufen des Staates und der Sozialversicherungen sowie vor allem bei den Exporten gegenüber. Auf eine einfache Formel gebracht lässt sich sagen, dass sich die schweizerische Wirtschaft dank der nachhaltigen Belebung der Auslandnachfrage und der gesteigerten Tätigkeit der öffentlichen Hand auf niedrigem Niveau stabilisiert hat. Die trotz des hohen Frankenkurses expansive Exporttätigkeit, welche nun auch von Firmen betrieben wurde, welche sich bisher auf den Binnenmarkt beschränkt hatten, reichte allerdings nicht aus, um der Inlandnachfrage die erhofften Impulse zu vermitteln
[7].
Die
Investitionstätigkeit war 1976 zum dritten Mal hintereinander rückläufig, wobei allerdings laut den Zahlen über die Planvorlagen für industrielle Betriebe gegen Jahresende eine leichte Erholung feststellbar war
[8]. Ob die lustlose Investitionstätigkeit im Inland auf die ungenügenden Erträge aus dem Exportgeschäft zurückzuführen sind, oder ob — wie es die Linke vermutete — die Gewinne für die Reservenbildung und für Investitionen im kostengünstigeren Ausland verwendet wurden, lässt sich laut Aussage der Nationalbank anhand der veröffentlichten Zahlen nicht schlüssig beantworten
[9]. Eine lebhaftere Investitionstätigkeit würde sich allerdings kurzfristig kaum positiv auf die Beschäftigungslage auswirken, da es sich bei den zukünftigen Vorhaben wohl in erster Linie um Rationalisierungsbestrebungen handeln wird. Im übrigen blieb der
Arbeitsmarkt infolge der massiven Rückwanderung von ausländischen Arbeitskräften nach wie vor relativ angespannt. Im Berichtsjahr ging der Beschäftigungsindex um weitere 4 bis 5 % zurück ; damit sind zwischen dem 3. Quartal 1973 und dem 3. Quartal 1976 rund 340 000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Dass diese Entwicklung nicht zu Massenarbeitslosigkeit wie in den anderen westlichen Industrieländern führte, verdankt die Schweiz allein der Tatsache, dass es sich bei den Betroffenen zu zwei Dritteln um Ausländer handelte, die in der Zwischenzeit unser Land verlassen haben
[10]. Der Rückgang der Beschäftigung drückte sich ebenfalls in einer Anzahl von Betriebsschliessungen aus, wobei es bei einigen zu Protestaktionen der Belegschaft kam
[11]. Um den Arbeitnehmern bei Betriebsschliessungen mehr Schutz zu gewähren, reichte Nationalrat C. Jelmini (cvp, TI) eine Motion ein, welche vor allem eine Informationspflicht der Unternehmen über ihre Stillegungspläne und einen speziellen Kündigungsschutz für ältere Arbeiter fordert
[12].
Da trotz der abnehmenden Beschäftigtenzahl die
industrielle Produktion auf dem Vorjahresstand verharrte (unter Ausschluss der infolge ungenügender Wasserführung beeinträchtigten Produktion der Kraft-, Gas- und Wasserwerke ist sie sogar leicht gestiegen), ergab sich 1976 eine Verbesserung der Arbeitsproduktivität um 2 bis 3 %
[13]. Die Produktionsentwicklung verlief aber für die einzelnen Branchen recht unterschiedlich
[14]. Den grössten Aufschwung erlebte die Chemie, aber auch die Textil- und Bekleidungsindustrie konnte sich weiter erholen. Weniger erfolgreich verlief die Entwicklung in der Maschinen- und Apparateindustrie, wo sich infolge der auch international zaghaften Investitionstätigkeit die Jahresproduktion um 11 % zurückbildete und der Auftragsvorrat zu Jahresende mit 7,2 Monaten (1975 : 7,8) einen neuen Tiefstand erreichte. Weiter verschlechtert, wenn auch nicht mehr im Ausmass des Vorjahres, hat sich die Lage in der Uhrenbranche. In dieser auf die Nordwestschweiz konzentrierten Branche machte sich neben den allgemeinen Rezessionserscheinungen die rasante technologische Entwicklung äusserst negativ bemerkbar. Immerhin sprachen gewisse Anzeichen dafür, dass die schweizerische Uhrenindustrie im Begriffe ist, ihren Rückstand auf dem Gebiet der Herstellung von elektronischen Uhren aufzuholen, wobei allerdings damit gerechnet werden muss, dass sich der Beschäftigungsabbau infolge der neuen Produktionsmethoden auch in den kommenden Jahren fortsetzt
[15]. Leicht rückläufig war das Jahresergebnis im weiteren beim Fremdenverkehr, was namentlich auf die weltweite Rezession und die Währungsverhältnisse zurückzuführen ist. Der Detailhandel konnte sich trotz der Abnahme der ausländischen Wohnbevölkerung knapp auf dem Vorjahresniveau halten
[16]. Immer noch nicht zum Abschluss gekommen war die Redimensionierung im Baugewerbe. Obwohl der Staat mit seinen Konjunkturprogrammen den Rückgang im Tiefbau weitgehend bremsen konnte, fiel der Anteil des gesamten Bausektors am Brutto-Inlandprodukt auf rund 14 % (1972/73: 20 %)
[17].
Als erfreulichstes Ergebnis der schweizerischen Wirtschaftsentwicklung wurde der erneute Rückgang der
Inflationsrate bewertet. Neben der Geldmengenpolitik der Nationalbank trugen vor allem die Importverbilligungen durch den hohen Frankenkurs dazu bei, den jahresdurchschnittlichen Anstieg des Index der Konsumentenpreise auf 1,7 % (1975: 6,7 %) zu begrenzen und damit der Schweiz die niedrigste Teuerungsrate aller OECD-Staaten zu bescheren
[18].
Wiederholt heftig unter den Beschuss der Kritik gerieten die im Laufe des Jahres mehrmals nach unten korrigierten Wachstumsprognosen, wobei insbesondere die meist sehr optimistischen Voraussagen der Grossbanken (der Schweizerische Bankverein hatte noch im Juni einen Anstieg des realen Bruttosozialproduktes um 3 % prophezeit) Arger und Verunsicherung bei den Unternehmern erzeugten
[19].
[6] Schätzung des Brutto-Sozialprodukts durch die Arbeitsgruppe für Wirtschaftsprognosen (vgl. dazu und zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung die Mitteilung Nr. 244 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 50/1977, Heft 2 (in der Folge zitiert : Mitteilung/Konjunkturfragen). Für Jahresüberblicke vgl. ebenfalls Schweizer Monatshefte, 56/1976-77, S. 47 ff. ; SNB, Geschäftsbericht, 69/1976 ; SKA, Bulletin, 82/1976, Nr. 12, S. 8 ff. ; E. Tuchtfeldt, « Die konjunkturelle Grosswetterlage », in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 33/1977, Nr. 3.
[7] Beteiligung von neuen Produzenten am Export : SAZ, 72/1977, S. 96. Zum Export vgl. oben, Teil I, 2 (Aussenhandel).
[8] Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 14 ff.
[9] SNB, Geschäftsbericht, 69/1976, S. 7 u. 9. Für die Behauptungen der Exportwirtschaft, dass es sich um eine ausgesprochene Mengenkonjunktur handelt, vgl. wf, Dok., 1/2, 10.1.77. Für die Linke vgl. TW, 304, 28.12.76.
[10] Beschäftigungswirkung von Neuinvestitionen : TA, 84, 9.4.76. Stellenabbau : Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 170 ; vgl. auch unten, Teil I, 7d (Situation de la femme, Politique à l'égard des étrangers).
[11] Insgesamt schlossen 237 Industriebetriebe mit 5849 Beschäftigten ihre Tore (1975 : 254, resp. 7228) (Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 11 ff. und 201 ff.) ; vgl. dazu auch unten, Teil I, 7a (Conflits du travail).
[12] Verhandl. B.vers., 1976, IV, S. 31. Eine ähnliche Motion vom selben Autor war zuvor vom NR nur als Postulat überwiesen worden (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 966 ff.). Vgl. zu diesem Thema auch das abgelehnte Postulat Muret (pda, VD), welches eine absolute Privilegierung der Arbeiterlöhne bei Konkursfällen anregte (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 962 ff.) sowie die als Postulat überwiesene Motion Hubacher (sp, BS) (Amtl. Bull. NR, 1975, S. 1492 f.).
[13] Mitteilung/Konjunkturfragen, Nr. 244, S. 7 ; Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 111 ff.; LNN, 172, 27.7.76.
[14] Für die Branchenentwicklung vgl. SKA, Bulletin, 49/1976, Nr. 12, S. 13 ff.; 50/1977, Nr. 1/2, S. 4, Nr. 3, S. 4 und Nr. 4, S. 7.
[15] NZZ, 37, 14.2.76 ; 24 heures, 235, 8.10.76 ; vgl. auch unten (Strukturpolitik).
[16] Zum Fremdenverkehr vgl. J. Krippendorf, « Tourismus », in Die Volkswirtschaft, 49/1976, S. 237 ff.
[17] Vgl. unten, Teil I, 6c (Wohnungsbau).
[18] SNB, Geschäftsbericht, 69/1976, S. 29 ; Gesch.ber., 1976, S. 222 ; Mitteilung/Konjunkturfragen, Nr. 244, S. 7. Generell zur Inflationsbekämpfung vgl. N. Celio (Hrsg.), Inflationsbekämpfung unter veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, Bern 1976 ; B. Gerber, « Stabilitätspolitik heute », in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 32/1976, Nr. 12. Zu den Importgüterpreisen vgl. M. Zumstein, «Zur Frage der Auswirkungen der Abwertung ausländischer Währungen auf die Preise der Importgüter », in Wirtschaft und Recht, 28/1976, S. 287 ff.
[19] TA, 150, 1.7.76; Ww, 46, 17.11.76. Zur Aussagekraft von Wirtschaftsprognosen vgl. NZ, 234, 29.7.76 ; LNN, 296, 18.12.76.
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