Année politique Suisse 1976 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
Verkehrspolitik
Nach wie vor im Dunkeln blieb die Zukunft der schweizerischen Verkehrspolitik. Zwar betonte Bundesrat Ritschard, dass die öffentlichen Verkehrsmittel als staatliche Infrastrukturleistungen zu betrachten seien, aber er beharrte darauf, dass vor dem Abschluss der Arbeiten der Kommission für die
Gesamtverkehrskonzeption (GVK) keine präjudizierenden Entscheide gefällt werden dürften
[1]. Dieses Abwarten wurde in Anbetracht der alarmierenden Defizite der öffentlichen Verkehrsunternehmen und des unerbittlichen Konkurrenzkampfes zwischen dem Strassen- und dem Schienengüterverkehr vielerorts als unerträglich empfunden
[2]. Im übrigen warnte der Sekretär der GVK-Kommission vor übertriebenen Illusionen in bezug auf die rasche Verwirklichung einer GVK : die Kommission könne nur mögliche Mittel und Ziele zur Darstellung bringen, die notwendigen Entscheide über die Verkehrspolitik müssten aber von den zuständigen politischen Instanzen getroffen werden
[3]. Die Dringlichkeit einer Gesamtkonzeption wurde durch den Umstand, dass in naher Zukunft der Gotthard-Strassentunnel eröffnet werden wird, deutlich ins Bewusstsein gerückt. Die SBB befürchten eine verstärkte Konkurrenzierung durch den Strassenverkehr, die Automobilisten und die Anwohner dagegen eine massive Zunahme der Durchfahrten von schweren ausländischen Lastwagen, welche zur Zeit die Schweiz auf den gebührenpflichtigen Transitrouten über den Brenner und durch den Mont-Blanc-Tunnel umfahren. Um diesen Gefahren zu begegnen, wurden in der Bundesversammlung diverse Motionen eingereicht, welche polizeiliche (Motion von Ständerat O. Andermatt, fdp, ZG) oder fiskalische Abwehrmassnahmen zum Ziele hatten
[4].
Einem oft geäusserten Bedürfnis entsprechend, wurde im Auftrag der GVK-Kommission zum erstenmal eine sog.
Kostenrechnung für die Eisenbahnen erstellt, woraus als vielleicht wichtigstes Ergebnis hervorging, dass die Bahnen bereits zu Beginn der siebziger Jahre keine volle Eigenwirtschaftlichkeit mehr hatten erzielen können. Diese Tatsache wurde allgemein dahingehend gedeutet, dass für die Probleme der Eisenbahnen keinesfalls allein die Konjunkturlage, sondern ebensosehr auch die Verkehrsstrukturen verantwortlich sind. Da bei der Eisenbahnrechnung verschiedene Faktoren, wie z.B. die erbrachten gemeinwirtschaftlichen Leistungen, sozialpolitisch bedingte Tarife oder konjunkturpolitisch bedingte Investitionen, kaum einwandfrei quantifiziert werden können — genausowenig wie bei der Strassenverkehrsrechnung die Faktoren Gewinn an Bewegungsfreiheit, aber auch Unfälle und Umweltbelastungen —, muss ein Vergleich der beiden Rechnungen fragwürdig bleiben. Immerhin ist als weiteres wichtiges Ergebnis festzuhalten, dass die erstmals nach Kategorien aufgeschlüsselte Strassenrechnung feststellte, dass auch der schwere Lastwagenverkehr alles andere als selbsttragend war. Da sich die Gesamtstrassenrechnung für das Jahr 1974 noch ausgeglichen präsentierte, konnte man von einer Subventionierung des privaten Güterverkehrs durch den Personenverkehr sprechen
[5]. Zur Verbesserung der Koordination zwischen dem eidgenössischen Strassenbau und der Eisenbahnpolitik dürfte anlässlich der Behandlung der Verwaltungsreform im Nationalrat eine wichtige Weiche gestellt worden sein. Entgegen dem Vorschlag des Bundesrates, der diesbezüglich noch keinen formalen Entscheid treffen wollte, sprach sich die Volkskammer für die Umbenennung des EVED in Eidg. Verkehrs-, Energie- und Baudepartement aus, womit insbesondere die Übernahme des für den Nationalstrassenbau zuständigen Amtes für Strassen- und Flussbau, welches bis anhin dem EDI angegliedert war, durch das EVED anvisiert wurde
[6]. Diese Koordinationsbestrebungen riefen Proteste der Automobilistenverbände hervor, welche darin einen Schritt zur Aufhebung der finanziellen Trennung zwischen Strassenbau- und Eisenbahnpolitik zu erkennen glaubten
[7].
[1] W. Ritschard, in Documenta, 1976, Nr. 3, S. 3 ff. und Nr. 5, S. 2 f.
[2] Zu den Defiziten vgl. unten (Eisenbahnen). Zum Güterverkehr vgl. H. U. Roth, « Schienen- und Strassenverkehr in der Rezession », in Schweiz. Archiv für Verkehrswissenschaft und Verkehrspolitik, 31/1976, S. 26 ff. ; vgl. dazu ebenfalls die vom NR als Postulat überwiesene Motion Seiler (cvp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1079 f.). Kritik am Abwarten : TA, 115, 19.5.76 ; 128, 4.6.76 ; Bund, 116, 19.5.76. Für die allgemeinen Zusammenhänge der Verkehrspolitik vgl. im weitern H. R. Meyer, Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik. Aktuelles und Grundsätzliches, Bern 1976, sowie LITRA, Jahresbericht, 1975/76, S. 5 ff., 37 ff. und 55 ff.
[4] Ldb, 267, 16.11.76. Motion Andermatt : Verhandl. B.vers., 1976, IV, S. 41. Zu den Fiskalmassnahmen vgl. unten (Eisenbahnen, Nationalstrassenbau).
[5] Bedürfnis : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 870. Presse vom 19.11.76. Zu den Methoden der Strassenkostenrechnung vgl. auch wf, Dok., 3, 19.1.76. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 88.
[6] BBI, 1975, I, S. 1453 ff. ; SPJ, 1975, S. 18 f. ; Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1164 ff., 1187 ff. und 1193 f. Vgl. oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[7] Auto (Organ des ACS), 1976, Nr. 11 ; TA (ddp), 250, 26.10.76 (TCS).
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