Année politique Suisse 1977 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Bei den Arbeitnehmerverbänden kamen weiterhin innere Gegensätze zum Ausdruck. So stiess die vom Ausschuss des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) beschlossene Ja-Parole zum Finanzpaket vor allem in welschen Kantonen auf Opposition. Die Gewerkschaftskartelle von Waadt und Genf riefen zur Verwerfung der Vorläge auf, was ihnen von der Zentrale als Kompetenzanmassung verwiesen wurde. Die Delegierten der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) hatten ihrerseits dem SGB eine Nein-Parole empfohlen; der Verband fügte sich aber dem Entscheid des Bundesorgans [22]. Das Verhältnis zwischen den oft kämpferisch vorgehenden Zweigverbänden und der mehr auf die bestehenden Institutionen ausgerichteten Dachorganisation wird von Insidern offensichtlich als spannungsreich empfunden [23].
Spannungen traten aber namentlich zwischen Kader und Basis auf. Das spektakulärste Beispiel bot der bisher als Hauptstütze einer friedlichen Sozialpartnerpolitik betrachtete Schweizerische Metall- und Uhrenarbeitnehmer-Verband (SMUV). Im Sommer setzte eine Gruppe von welschen Mitgliedern, darunter einige lokale Sekretäre, ein «Manifest 77» im Umlauf, das sowohl die Struktur wie die Politik der Gewerkschaft einer grundlegenden Kritik unterzog. Im Manifest und in einem ausführlichen Kommentar dazu erscheint die Organisation des SMUV als eine Oligarchie, welche die Information und die Mitwirkung der Basis sowohl in den Versammlungen wie in der Presse so weit wie möglich unterbindet; der Führung wird aber auch zum Vorwurf gemacht, dass sie auf eine Änderung der Gesellschaft im Sinne einer wirtschaftlichen wie politischen Demokratie verzichtet habe und einen Mythus des absoluten Arbeitsfriedens pflege, der den Streik aus dem Gesichtskreis des Arbeiters verdränge. Der Gewerkschaft wird die Rolle zugedacht, Basis einer Union der Linken zu sein [24]. Die SMUV-Leitung erklärte das Vorgehen der Opponenten als statutenwidrig und verlangte die Einstellung der Unterschriftensammlung für das Manifest. Dessen Urheber, die nicht nur von kommunistischen, sondern auch von sozialistischen Kreisen der Westschweiz unterstützt wurden, entsprachen diesem Verlangen und bekundeten ihre Bereitschaft zum Gespräch. Die Gewerkschaftsleitung nahm aber eine wenig konziliante Haltung ein und unterstrich diese noch mit der Massregelung von oppositionellen Funktionären [25].
Ungeduld der Basis regte sich auch in Organisationen des Bundespersonals. Die Delegierten der Eisenbahner empfahlen ihrer Verbandsleitung gegen deren Willen die Durchführung einer Demonstration für die Erhaltung des Schienenverkehrs: dabei wurde eine 48stündige Stillegung des Eisenbahnnetzes vorgeschlagen. Am Kongress der PTT-Union übernahm der scheidende Generalsekretär, Nationalrat R. Müller (sp, BE), selber die Rolle des Protestträgers und drohte, den vom Bundesrat im Sommer vorenthaltenen Teuerungsausgleich auf der Strasse zu fordern [26].
Der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG), dessen westschweizerische Metallarbeitersektionen mit ihrer radikalen Konkurrenz an der Entwicklung im SMUV nicht unbeteiligt waren, stimmte an seinem Kongress einer Grundsatzerklärung zu; diese bestätigte die Ausrichtung auf die christliche Soziallehre und desavouierte damit laizistische Tendenzen. Sie trat für den Gewerkschaftspluralismus und für eine reformistische Politik ein, unterliess es aber nicht, für die Arbeitnehmer eine gleichwertige Mitbestimmung an den wirtschaftlichen Entscheidungen sowie Teilhabe am Besitz der Produktionsmittel zu fordern. Bei der Diskussion eines Aktionsprogramms machte sich unter welscher Führung eine breite Opposition gegen weitere Produktivitätssteigerungen geltend [27].
Unter den Angestelltenverbänden verstärkte der Schweizerische Kaufmännische Verein seine Organisation durch eine Statutenrevision; diese begründet ein vollamtliches Generalsekretariat neben dem Zentralpräsidium und bietet die Möglichkeit, durch Stützpunktsekretariate die regionale Tätigkeit zu intensivieren [28].
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P.G.
 
[22] Ausschuss: NZZ (sda), 80, 5.4.77. Waadt und Genf: Vorwärts, 16/17, 28.4.77; 24 Heures, 99, 29.4.77. Bau und Holz: FOBB/L'ouvrier sur bois ei du bâtiment, 16, 18.4.77; 23, 6.6.77. Die Sektion Zürich-Bau beklagte sich über die Missachtung der Empfehlung durch die GBH-Vertreter im Ausschuss des SGB ( Vorvärts, 16/17, 28.4.77).
[23] So B. Kappeler, der dem zum Delegierten für Konjunkturfragen ernannten W. Jucker im SGB-Sekretariat nachfolgte, in FA, 217, 17.9.77. Zur Nachfolge vgl. BaZ, 62, 2.4.77; gk, 38, 3.11.77. Vgl. auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturpolitik).
[24] Manifest: VO, 154. 16.7.77. Kommentar: Vorwärts, 41. 13.10.77. Vgl. dazu 24 Heures. 235. 10.10.77; NZZ. 241. 14.10.77.
[25] 24 Heures, 241, 17.10.77; 246, 22.10.77; 261, 9.11.77; NZZ, 252, 27.10.77; BaZ. 282, 14.11.77. Unterstützung: VO, 247, 5.11.77; 249, 8.11.77. Für das Manifest traten auch mehrere Nationalräte ein, insbesondere R. Besuchet (sp. VD). Die Delegiertenversammlung des SMUV vom 26.11. beschloss, die Frage an einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung zu behandeln (NZZ, sda, 279. 28.11.77).
[26] Eisenbahner: NZZ, 122, 27.5.77; 123. 28.5.77. PTT-Union: NZZ, 250, 25.10.77; 251, 26.10.77. Neuer Generalsekretär der PTT-Union wurde G. Eggenberger. Zum Teuerungsausgleich vgl. oben. Teil I, 7a (Salaires).
[27] NZZ, 261, 7.11.77;265, 11.11.77: Aktiv, 22. 16.11.77. Vgl. SPJ, 1976, S. 182 f. B. Clément trat als Sekretär der waadtländischen Metallarbeitersektion zurück. Zur Konkurrenzhaltung gegenüber dem SMUV vgl. Äusserungen G. Tissots in Lib., 244. 22.7.77, die an das Manifest 77 anklingen.
[28] NZZ, 130, 6.6.77. Zentralpräsident wurde anstelle von R. Maier-Neff der Berner Sozialdemokrat H.-U. Hug. Generalsekretär A. Hubschmid.