Année politique Suisse 1977 : Allgemeine Chronik
Überblick
Das Jahr 1977 stand in wirtschaftlicher Hinsicht im Zeichen einer leichten Erholung. Produktion und Beschäftigung wiesen eine steigende Tendenz auf, ohne dass eine nennenswerte Teuerung eingetreten wäre. Eine gewisse Entspannung war auch im Arbeitsverhältnis zu verzeichnen: Zahl und Bedeutung der Streiks nahmen ab. Allerdings blieben die Zukunftsaussichten unsicher. Diese Unsicherheit übertrug sich auf die Politik. Wohl versuchte der Bundesrat einen mässigen Ausbau des Sozialstaates weiterzuführen, und die Regierungsparteien liessen sich zu entsprechenden Kompromisslösungen herbei. Doch die Abstützung dieser Kompromisse auf eine Mehrheit der Stimmbürger erwies sich angesichts einer verbreiteten Skepsis als schwierig. Insbesondere fiel die von der Regierung umsichtig vorbereitete Finanzordnung, die den Haushalt des Bundes mit Hilfe einer Mehrwertsteuer wieder ins Gleichgewicht bringen sollte, einer doppelten Opposition zum Opfer; konservative und antiinterventionistische Sparneigungen verbanden sich mit dem Widerwillen gegen höhere Steuerlasten in den unteren Schichten. Die neunte AHV-Revision .und das neue Hochschulförderungs- und Forschungsgesetz, die beide einen zusätzlichen Aufwand von Bundesmitteln erfordern, wurden von den bürgerlichen Gegnern des Mittelkurses mit dem Referendum bedroht.
Die bisher unerreichte Häufung von Volksentscheiden — vorwiegend über Initiativen — brachte zwar dank der Kombination verschiedenartiger Gegenstände eine leichte Zunahme der Stimmbeteiligung, doch die Bereitschaft zu Neuerungen erwies sich weiterhin als gering. Die Volksbegehren wurden alle verworfen, ob sie nun fremdenfeindliche, umwelterhaltende oder sozialreformerische Ziele anstrebten. Die Behördenvorlagen setzten sich dagegen mehrheitlich durch, wobei allerdings weniger ein Bedürfnis nach Lösung sozialer Probleme als ein solches nach Entlastung des Bürgers zum Ausdruck kam: durch Einschränkungen der Volksrechte und durch Abstriche an Subventionen scheint man eine Reduktion der Beteiligungs- und Steuerpflichten erstrebt zu haben. Wenn man trotzdem einer Erweiterung des Staatsvertragsreferendums aufgrund des behördlichen Gegenvorschlags zustimmte, so betrachtete man dies Wohl meist als Konsequenz der Absage an die viel weiter gehende Initiative der Nationalen Aktion.
Das Scheitern des finanzpolitischen Kompromisswerks in der Volksabstimmung vom 12. Juni setzte die Regierungskoalition einer erheblichen Belastungsprobe aus. Die Sozialdemokraten waren nicht bereit, den Bundeshaushalt in erster Linie durch eine verschärfte Sparpolitik zu sanieren, namentlich wenn diese das Budget der Kleinverdiener treffen sollte. So opponierten sie nun dem zuvor gebilligten Subventionsabbau; diese allerdings nicht grundsätzlich gemeinte Opposition wurde durch die Abstimmungskampagne über die sozialdemokratische Reichtumsteuerinitiative noch unterstrichen, ebenso durch die Wendung der SPS gegen jede Beschränkung der Volksrechte. Auch in den parlamentarischen Beratungen über die Sicherheitspolizei und die Berufsbildungsreform zeichnete sich eine Scheidung zwischen den bürgerlichen Regierungsparteien und ihrem linken Partner ab.
Das wiederholte Auseinanderfallen der Konkordanzträger entsprach einer unverminderten Tendenz zur Polarisierung des allgemeinen politischen Bewusstseins. Zwischen der Verteidigung angefochtener Wert-, Gesellschafts- und Machtstrukturen und dem Drang nach Emanzipation, Demokratisierung und Umverteilung ist die Vermittlung schwieriger geworden. Mit Verdächtigung, Diskriminierung und Disziplinierung kämpfen Etablierte und Konservative, mit Anklage, Solidarisierung und Revolte die Veränderer. Dabei überschneiden sich die Fronten in den verschiedenen Konflikten, je nachdem es sich um den Anteil am Sozialprodukt, um die Erhaltung der Lebensqualität oder.um die Grenzen zwischen Freiheit und Ordnung handelt. Noch wirken Zusammenstösse mit Verletzungen von Leib und Gut als alarmierende Sonderfälle: die internationale Terroristenszene bildet jedoch dazu einen makabem Hintergrund.
Scheinbar unbelastet von der Anfechtung bestehender nationaler Strukturen entwickelt sich die Verflechtung unserer Wirtschaft in weltweite Prozesse. Der Ruf der inneren Stabilität erlaubt eine Ausweitung des Finanzplatzes Schweiz in einem Umfang, der das Normalmass kleinstaatlicher Aktivitäten übersteigt. Skandalöse Vorkommnisse des Berichtsjahres wurden da und dort als Warnzeichen aufgefasst, die im Interesse des binnenwirtschaftlichen Gleichgewichts von einer bedenkenlosen Expansion abhalten sollten.
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