Année politique Suisse 1977 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Regierung
Die Wirksamkeit der Regierung stand weiterhin im Schatten der Finanzlage. In seinen Richtlinien für die Amtsperiode 1975-1979 hatte der Bundesrat mit Nachdruck auf eine neue Finanzordnung mit Mehrwertsteuer gesetzt. Um dieser in der Volksabstimmung vom 12. Juni zum Durchbruch zu verhelfen, betonte er schon zu Beginn des Jahres seinen Sparwillen; der entsprechenden Änderung des Finanzplans mussten auch die Richtlinien angepasst werden. Man beschloss, sich vor allem auf die erste Prioritätsstufe, die sog. Schwerpunkte, zu konzentrieren und für die Vorhaben der dritten Stufe bis 1979 überhaupt keine Anträge ans Parlament zu stellen [1]. Als dann das Volk die Finanzvorlage verwarf; konnten auch die Schwerpunkte nicht mehr alle aufrechterhalten werden [2]. Für solche Änderungen strebte die Nationalratskommission, die sich mit der Initiative Weber (sp, TG) befasste, eine parlamentarische Kontrolle an: sie wünschte, dass der Bundesrat dem Parlament jeweils in der Mitte der Legislaturperiode einen Zwischenbericht vorlege, der die Richtlinien an veränderte Bedingungen anzupassen hätte. Die Bundesversammlung sollte ihrerseits die Exekutive durch Motionen zu Abweichungen vom Programm veranlassen können [3].
Über der Frage, welche Konsequenzen aus dem Finanzverdikt des 12. Juni zu ziehen seien, kam es zu Spannungen zwischen den Regierungsparteien, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird. Trotz einigem «Knacken im Koalitionsgebälk» dachte man jedoch in keiner der vier Parteileitungen ernstlich an einen Rückzug in die Opposition [4].
Die Erneuerung der Landesregierung scheint sich auf die Legislaturhalbzeit zu konzentrieren. Nachdem es bereits 1969 und 1973 zu Mehrfachrücktritten gekommen war, reichten Ende September die Bundesräte Brugger und Graber, beide nach achtjähriger Amtszeit, ihre Demission ein [5]. Von verschiedener Seite wurde der Ruf laut, dass auch Bundesrat Gnägi zurücktrete, doch dieser liess sich nicht unter Druck setzen. In Bündner SVP-Kreisen, wo man mit Ständerat und Preisüberwacher Schlumpf zum Zuge zu kommen wünschte, deutete man das Ausharren des Berners als Versuch, den Regierungssessel der SVP weiterhin der bernischen Kantonalpartei zu sichern [6]. Gleichsam in Umkehrung der Vorgänge von 1969 konnte die freisinnige Fraktion ihren Kandidaten diesmal rasch präsentieren, während die Sozialdemokraten mit der Auslese mehr Mühe hatten. Ständerat Fritz Honegger, Präsident der FDPS und dem Zürcher Unternehmertum nahestehend, begegnete auch ausserhalb seiner Partei nur geringem Widerstand [7]. Auf sozialdemokratischer Seite gab es jedoch einen lebhaften Wettbewerb zwischen Regionen und Personen. Der Genfer Staatsrat Donzé verzichtete allerdings im Oktober mit Rücksicht auf die in seinem Kanton unmittelbar bevorstehenden Regierungswahlen. Der in der Nähe von Zürich lebende Gewerkschaftsführer Canonica wurde von der Kantonalpartei seiner tessinischen Heimat in Vorschlag gebracht, fand aber in der Westschweiz wenig Sympathie, da seine Kandidatur die welsche Zweiervertretung beschnitten hätte und obendrein das Gewicht der Limmatmetropole zu verstärken schien [8]. Im Kanton Neuenburg, dem der bisherige Chef des EPD aufgrund seines Heimatortes zugerechnet wurde, nominierte die SP überraschend den wenig bekannten Nationalrat René Felber, Stadtpräsident von Le Locle, da die profilierteren Neuenburger Sozialdemokraten in der Partei umstritten waren [9]. Die sozialdemokratische Bundeshausfraktion wollte vor allem vermeiden, dass ihr wie 1973 ein nichtoffizieller Kandidat aufgedrängt würde, und entschied sich im November für den neuenburgischen Ständerat Pierre Aubert, der auf bürgerlicher Seite anerkannt und vom Vorstand der SPS neben René Felber empfohlen worden war [10]. Die Bundesversammlung stimmte am 7. Dezember beiden Fraktionsvorschlägen mit starken Mehrheiten zu [11].
Neben der Personenwahl beschäftigte auch die Departementsverteilung die Öffentlichkeit. Bald nach seiner Nominierung gab der Freisinnige Honegger seine Vorliebe für das von seinem Parteifreund Brugger hinterlassene EVD bekannt. Für dieses Departement bekundete jedoch auch die CVP Interesse; ihr Allroundman Furgler, dem bisher namentlich Neigungen zur Aussenpolitik nachgesagt worden waren, sollte es der FDP-Obhut entziehen. Der SP-Vertreter Aubert machte mit Berufung auf seine Tätigkeit im Europarat seine Eignung für das seit zwölf Jahren sozialdemokratisch verwaltete EPD geltend [12]. Noch im Dezember entschieden sich alle bisherigen Bundesräte für Beibehaltung ihrer Ressorts; die neuen übernahmen das Erbe, wie es praktische Erfahrung, Partei- und Kantonszugehörigkeit nahelegten [13].
Die Bereitschaft des scheidenden Chefs des EVD, ins Verwaltungsratspräsidium der Schweizerischen Volksbank hinüberzuwechseln, gab erneut zur Frage Anlass, ob ehemaligen Regierungsmitgliedern hohe Posten der Wirtschaft wohl anständen [14]. Auf eine Anfrage Nationalrat Hubachers (sp, BS) lehnte es der Bundesrat jedoch ab, seinen Mitgliedern einen Ehrenkodex für den Ruhestand aufzuerlegen. Eine Meinungsumfrage ergab, dass auch die Mehrzeit der Bevölkerung einen solchen nicht wünschte [15].
 
[1] NZZ, 76, 31.3.77. Vgl. Richtlinien der Regierungspolitik 1975-1979, Bem 1976, S. 6, 45 (3. Stufe) und 47 (1. Stufe); ferner SPJ, 1976, S. 20 sowie unten, Teil I, 5 (Finanzplanung). Vgl. dazu auch U. Klöti, «Zum Werdegang der Richtlinien der Regierungspolitik für die Legislaturperiode 1975 bis 1979», in Schweiz. Jahrbuch für Politische Wissenschaft, 17/1977, S. 77 ff.
[2] Bundespräsident Furgler stellte namentlich die Ausarbeitung eines neuen Bildungsartikels sowie die gesetzgeberische Verwirklichung der Gesamtverkehrs- und der Gesamtenergiekonzeption zurück (LNN, 236, 10.10.77). Die BR-Parteien wünschten auch eine Überprüfung des Konzepts der Entwicklungszusammenarbeit (NZZ, 270, 17.11.77). Zur Abstimmung vgl. unten, Teil I, 5 (Finanzpaket).
[3] NZZ (sda), 251, 26.10.77. Vgl. SPJ, 1976, S. 20. Einen internen Zwischenbericht sah auch der BR vor (NZZ, 76, 31.3.77). Zur Beteiligung des Parlaments in der politischen Planung vgl. Chr. Lanz, Politische Planung und Parlament. Bern 1977 (Kritik dazu: NZZ, 195, 22.8.77).
[4] Knacken: H. Braunschweig in Leserzeitung, 57, 14.6.77; NZZ, 141, 18.6.77; Ldb, 203, 2.9.77. Kein Rückzug: LNN, 134, 13.6.77; 205, 3.9.77; NZZ (sda), 139, 16.6.77; Vat., 234, 7.10.77.
[5] Presse vom 30.9.77. In allen übrigen Fällen seit 1959 kam es zu Einzelrücktritten, die mit einer Ausnahme (1971) nicht auf den Ablauf einer Legislaturperiode erfolgten (1961, 1962, 1965, 1966). Vgl. SPJ, 1969, S. 20 ff.; 1973, S. 18.
[6] BüZ, 232, 1.10.77; 234, 4.10.77; TA, 230, 3.10.77; SVP-Pressedienst, 5.10.77; TW, 233, 5.10.77; Zofinger Tagblatt, 262, 8.11.77.
[7] NZZ, 233, 5.10.77; Presse vom 7.10.77. Sozialdemokratische Stimmen: TW, 236, 8.10.77 (positiv); Vr, 251, 27.10.77 (kritisch).
[8] Donzé: 24 Heures, 232, 6.10.77; JdG, 245, 20.10.77; vgl unten, Teil I, 1e (Elections des autorités cantonales, Genève). Canonica: TLM, 284, 11.10.77; 304, 31.10.77; 311, 7.11.77; TA, 237, 11.10.77; CdT, 239, 18.10.77; 265, 18.11.77; 24 Heures, 264, 12.11.77.
[9] Presse vom 22.10.77; 24 Heures, 265, 14.11.77; TW, 278, 26.11.77. StR P. Aubert wurde die gerichtliche Verteidigung jurassischer Antiseparatisten und das Präsidium der Gesellschaft Schweiz-Israel, Staatsrat R. Meylan seine ablehnende Haltung gegenüber der PdA zur Last gelegt (vgl. Bund, 248, 22.10.77). Vgl. auch Kritik R. Béguelins an P. Aubert (Jura libre, 1369, 24.11.77).
[10] BaZ, 288, 20.11.77; Presse vom 21.11.77.
[11] Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1761 f. Honegger erhielt 173, Aubert 190 Stimmen.
[12] Honegger: SZ (sda), 235, 10.10.77; TA, 243, 18.10.77. Furgler: Tat, 250, 25.10.77; Vat., 253, 29.10.77: Ostschw., 297, 20.12.77. Aubert: TA, 281, 1.12.77. Vgl. auch BaZ, 315, 17.12.77.
[13] Presse vom 20.12.77.
[14] Der Republikaner, 10, 12.8.77; Lib., 278, 3.9.77; 24 Heures, 232, 6.10.77; Blick, 237, 10.10.77; vgl. Presse vom 10. u. 11.10.77; SP-Information, 20, 23.11.77; Schweizer Monatshefte, 57/1977, S. 594 f. sowie SPJ, 1970, S. 20; 1974, S. 19.
[15] Ehrenkodex: Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1731 f. Die Einfache Anfrage wurde eingereicht, bevor BR Bruggers Absicht publik war. Die Umfrage ergab, dass 58% einem alt BR nichts vorschreiben möchten, dass aber nur 49% die Übernahme von Verwaltungsratssitzen billigen (LNN, 283, 3.12.77). Eine Motion Jaeger (Idu, SG) verlangte für die Übernahme privater Verwaltungsratsmandate eine Sperrfrist von drei Jahren (Verhandl. B.vers., 1977, V, S. 34).