Année politique Suisse 1977 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Der Gebrauch der Volksrechte intensivierte sich wieder. Die Menge der anstehenden Initiativen konnte zwar abgebaut werden: acht kamen zur Abstimmung, eine wurde ungültig erklärt, eine von Parlament und Volk abgeschrieben und bloss zwei neue liefen ein. So blieben zu Ende des Jahres noch deren elf hängig
[28]. Dafür brachte 1977 einen absoluten Rekord für das fakultative Referendum: zu acht Vorlagen wurde das erforderliche Unterschriftenquorum erreicht. Diese plebiszitären Aktionen gingen sowohl von linken. wie von rechten Gruppen aus. Erstmals aber seit der Geltung der Zauberformel schritt auch eine Bundesratspartei zum Rekurs ans Volk: die SPS organisierte den Nachentscheid über eine Herabsetzung der Brotpreissubvention und dokumentierte auf diese Weise ihre Distanzierung von den bürgerlichen Regierungspartnern in der Finanzpolitik
[29]. Die Zahl der zur Abstimmung gebrachten Gegenstände stieg 1977 auf die bisher nie erreichte Höhe von 14
[30].
Doch die Entwicklung dürfte damit ihren Kulminationspunkt erreicht haben. In drei Entscheiden billigten nämlich die Stimmbürger die von den Behörden angestrebte Einschränkung der plebiszitären Demokratie. Sowohl die Erhöhung der in der Verfassung festgelegten
Unterschriftenzahlen für Referendum und Initiative (auf 50 000 bzw. 100 000) wie auch die im Gesetz über die politischen Rechte enthaltene
Befristung der Unterschriftensammlung für Volksbegehren auf 18 Monate wurden mit deutlichen Mehrheiten akzeptiert. Gegen die beiden Verfassungsänderungen, über die am 25. September abgestimmt wurde, wandten sich die Linke und fast alle Mittel- und Kleinparteien: Sozialdemokraten, Kommunisten, Unabhängige, Evangelische, welsche Liberaldemokraten und neue Rechte. Bei den Gewerkschaften war freilich eine Tendenz zur Erschwerung des Referendums zu erkennen, während in der Waadt auch alle bürgerlichen Parteien dieses Kontrollinstrument unangetastet sehen wollten?
[31]. Die Gegner betonten namentlich, dass die quantitative Einschränkung einseitig die finanziell und organisatorisch Schwächeren treffe, ja gerade die politisch aktiven Bürger bestrafe. Die Befürworter machten dagegen geltend, dass eine zu grosse Zahl von Abstimmungen eine ernsthafte Meinungsbildung verunmögliche; dieses Argument wurde wirksam durch die Tatsache illustriert, dass der Bürger am 25. September gleich sechs Fragen zu beantworten hatte
[32]. Immerhin kam die
Annahme beider Vorlagen eher überraschend
[33].
Der Erfolg der beiden einschneidenderen Beschränkungen hinderte nicht die Durchsetzung der dritten Vorlage, gegen die im Frühjahr von verschiedenen Linksgruppen das Referendum eingereicht worden war. Die Front der Gegner präsentierte sich leicht reduziert, da Liberaldemokraten, Evangelische und Republikaner ausscherten. Am Gesetz über die politischen Rechte wurden ausser der Sammelfrist für Initiativen auch die Kompetenz der Exekutive zur Abfassung von Abstimmungserläuterungen sowie der Verzicht auf eine Änderung des Verfahrens bei Doppelvorlagen (Initiative und Gegenentwurf) beanstandet
[34]. Doch am 4. Dezember erzielte das Gesetz, in welchem es nicht an Erleichterungen für den Stimmbürger fehlte, eine noch deutlichere Mehrheit als die beiden Verfassungsänderungen im September
[35].
Die Erhöhung der Unterschriftenzahlen wurde auf den Weihnachtstag in Kraft gesetzt. Sieben lancierte Volksbegehren erreichten das niedrigere Quorum nicht mehr rechtzeitig, darunter je eines des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und eines der SPS. Beide sind seither aufgegeben worden, ein Zeichen dafür, dass die Neuerung auch Grossorganisationen zu schaffen machen kann
[36].
Zum zweitenmal seit Einführung .der Partialrevisionsinitiative
erklärte das Parlament ein Volksbegehren ungültig. Die Initiative der PdA gegen Teuerung und Inflation verletzt nach Ansicht des Bundesrates die von der Verfassung geforderte Einheit der Materie, weil sie sowohl die Konjunkturpolitik wie die Strukturpolitik. und die Sozialrechte betrifft. Im Nationalrat plädierten ausser den Sprechern der PdA auch diejenigen der SP, des Landesrings und der Liberaldemokraten für Zulassung des Begehrens; sie sahen dessen Einheit in der staatswirtschaftlichen Zielsetzung und erinnerten an den Präzedenzfall der Kriseninitiative von 1935. Bundespräsident Furgler verwies demgegenüber auf die Einführung präziserer gesetzlicher Bestimmungen im Jahre 1962. Beide Räte entsprachen dem Regierungsantrag, nicht ohne kritisches Echo aus der Presse
[37].
Auf kantonaler Ebene vollzog die Waadt eine Angleichung an die direktdemokratischen Formen der übrigen Stände. Nachdem man 1961 — bei der Einführung des Frauenstimmrechts — das fakultative Referendum auf Finanzbeschlüsse beschränkt hatte, wurde dieses nunmehr — durch einen Gegenvorschlag zu einer Initiative aus den Jahren 1967/68 — wieder auf alle Gesetze und auf die meisten Dekrete ausgedehnt. Zugleich begrenzte man das Initiativrecht auf Erlass (oder Aufhebung) von Gesetzen, erhöhte aber seine Wirksamkeit durch die Fixierung einer Frist für die Volksabstimmung sowie durch die Einführung eines Grundsatzentscheids bei Konkurrenz von Initiative und Gegenvorschlag
[38].
[28] Vgl. dazu SPJ, 1974, S. 20, Anm. 51; 1975, S. 21, Anm. 58; 1976, S. 22, Anm. 53; ferner Gesch.ber., 1977, S. 5. Ungültigerklärung (Teuerung und Inflation): vgl. unten. Abschreibung (Pressefreiheit): vgl. Anm. 75.
[29] Vgl unten, Teil I, 4c (Régulation des ventes), 5 (Finanzplanung, Finanzpaket), 6a (Conception globale de l'énergie), 7c und d (Avortement, Assurance-vieillesse et survivants) und 8a (Hautes écoles); ferner Gesch.ber., 1977, S. 5.
[30] Darunter zwei Doppelabstimmungen über Initiative und Gegenvorschlag. Die Zahl der Gegenstände betrug 1976 (ohne Gegenvorschläge zu Initiativen) 10, 1975 und 1952 je 9.
[31] NZZ, 222, 22.9.77; 24 Heures, 220, 22.9.77. Der SGB gab für das Referendum die Stimme frei (gk, 29, 8.9.77); der CNG befirwortete die Erhöhung. Für VD vgl. TLM, 254, 11.9.77. Vgl. ferner SPJ, 1976, S. 22.
[32] Gegner: vgl. TW, 204, 1.9.77; 215, 14.9.77; TG, 207, 8.9.77; Bund, 217, 16.9.77. Befürworter: wf, Dok., 31/32, 2.8.77; Ldb, 208, 8.9.77; Val., 209, 8.9.77.
[33] Referendum: Annahme mit 57,8% Ja-Stimmen; ablehnende Kantone: VD, VS, NE, GE. Initiative: Annahme mit 56,7% Ja-Stimmen; ablehnende Kantone: VD, NE, GE. Vgl. BBI, 1977, III, S. 841 f.; Presse vom 26.9.77; Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen, 25.9.77, S. 7.
[34] Referendum (50 911 Unterschriften): BBI, 1977, II, S. 208 f.; TA, 74, 29.3.77. Parolen: NZZ, 282, 1.12.77; 24 Heures, 280, 1.12.77. Gegnerische Argumente: JdG, 270, 18.11.77; Ldb, 273, 23.11.77. Vgl. SPJ, 1976, S. 22 f. Das Gesetz über die politischen Rechte überträgt ausserdem die Wahl der eidgenössischen Geschworenen den Kantonsparlamenten und schreibt die 1935 von der SPS eingereichte Pressefreiheit-Initiative im Einverständnis mit den Urhebern ab.
[35] Annahme mit 59,4% Ja-Stimmen; das Nein überwog nur in NE und GE (BBI, 1978, I, S. 325).
[36] TA, 299, 22.12.77; Ldb, 304, 30.12.77. Zum SGB vgl. unten, Teil I, 7a (Temps de travail), zur SPS, Teil I, 6c (Bodenrecht).
[37] BBl, 1977,11, S. 501 H:; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1221 fl.; Amtl. Bull. StR, 1977, S. 720 ff. 1962 wurde das Initiativengesetz erlassen und das Geschäftsverkehrsgesetz revidiert. Kritik: TA, 231, 4.10.77; 292, 14.12.77; BaZ, 313, 15.12.77; ferner PdA-Protest (VO, 282, 17.12.77). 1955 erklärte das Parlament die Initiative für eine Rüstungspause wegen Verletzung von Einheit der Materie und Formvorschriften ungültig.
[38] 24 Heures, 279, 30.11.77; 280, 1.12.77. Vgl. SPJ, 1967, S. 93 und unten, Teil II, 1g.
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