Année politique Suisse 1977 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
 
UNO
Diese scharfe Kritik bezog sich unter anderem auch auf das bundesrätliche Lavieren in der Frage des Beitritts der Schweiz zu den Vereinten Nationen. Nachdem bereits 1969 und 1971 zu diesem Thema rapportiert worden war, unterbreitete nun der Bundesrat dem Parlament einen dritten Bericht über das Verhältnis der Schweiz zur UNO [24]. Gestützt auf die Empfehlungen der Konsultativkommission, die ihre Arbeiten 1976 abgeschlossen hatte, tat er seine Überzeugung kund, dass unsere Mitgliedschaft in der Weltorganisation eine notwendige Ergänzung zur bisherigen Aussenpolitik darstellen und dem wohlverstandenen Interesse des Landes dienen würde. Im Ausland schwinde das Verständnis für den Sonderfall Schweiz, und wenn wir unsere wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt bewahren wollten, so sei ein weiteres Fernbleiben von diesem nunmehr universalen Forum nicht mehr länger verantwortbar. Diese deutlich formulierte Einsicht in die internationale Notwendigkeit verband der Bundesrat allerdings mit einer um nichts weniger ausdrücklichen Rücksicht auf die isolationistische Volksmeinung, welche einem UNO-Beitritt noch negativ gesonnen scheint, weshalb sich denn die Exekutive vorbehielt, den geeigneten Zeitpunkt für das Abstimmungsprozedere erst später zu bestimmen. Vorerst sollten nun Einstellungen und Beweggründe der Stimmbürger anhand einer wissenschaftlichen Meinungsumfrage getestet und die Wissenslücken mit Hilfe einer populär gehaltenen, sachlich orientierenden Broschüre geschlossen werden [25].
Wie isolationistisch die öffentliche Meinung in der Schweiz auch immer sein mag, die veröffentlichte Meinung jedenfalls begrüsste bis auf wenige konservative Stimmen den Grundsatzentscheid des Bundesrates, den Beitritt unseres Landes zu den Vereinten Nationen anzustreben [26]. Die meisten Blätter kritisierten indessen die landesväterliche Mutlosigkeit, die weder emotionelle Vorurteile gegen die UNO noch grundsätzliche Gegnerschaft abbauen helfe. Eine Volksabstimmung sei immer noch die beste Form der Meinungsumfrage, und erst in ihrem Vorfeld könnten Aufklärung und Willensbildung tatkräftig gefördert werden. Es gehe auch nicht darum, durch die Verhinderung eines negativen Volksverdikts aussenpolitisch das Gesicht zu wahren, da die Schweiz ein solches kaum mehr zu verlieren habe. Die Volkskammer nahm als Erstrat in zustimmendem Sinne Kenntnis vom dritten UNO-Bericht, verband diese Billigung aber mit der unmissverständlichen Bitte, der Bundesrat möge den Souverän «im nächstmöglichen geeigneten Zeitpunkt» über die Beitrittsfrage befinden lassen. Damit einigte sich der Nationalrat auf eine Kompromissformel, die die Regierung zur beschleunigten Behandlung des Geschäfts ermuntern sollte, ohne sie jedoch vorschnell unter massiven Druck zu setzen [27].
Die Räte genehmigten ein Zusatzdarlehen an die Immobilienstiftung für internationale Organisationen (FIPOI), um die Vollendung des Sitzgebäudes der Weltorganisation für geistiges Eigentum in Genf zu finanzieren [28]. Der Austritt der USA aus der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird wohl den Abzug einer ganzen Anzahl von Beamten aus Genf zur Folge haben [29]. Die Befürchtungen, Wien könnte mit der neuen UNO-City der Rhonestadt die Rolle als internationales Zentrum streitig machen, haben sich indes weitgehend gelegt [30].
Nachdem es interessierten Kreisen trotz eines massiven Lobbyismus nicht gelungen war, den Beitritt der Schweiz zum Atomsperrvertrag im Parlament zu Fall zu bringen, versuchten der Verein Schweizerischer Maschinen-Industrieller und der Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins auf das bundesrätliche Ratifikationsverfahren Einfluss zu nehmen, was die Hinterlegung der Urkunden verzögerte [31]. Man einigte sich schliesslich auf drei Interpretationsvorbehalte zum fraglichen Abkòmmen, und der Bundesrat gab anlässlich der Ratifikation eine Erklärung ab, wonach Forschung, Produktion und Nutzung der friedlichen Kernenergie von den Verboten des Atomsperrvertrages nicht erfasst, keine neuen Materialien ohne Zustimmung der Schweiz unter den Vertrag subsumiert und Schweizer Industriefirmen gegenüber der ausländischen Konkurrenz nicht diskriminiert werden dürfen [32]. Wenig später gab die Regierung jedoch ihren Beschluss bekannt, dem sog. Londoner Klub beizutreten, jener informellen und spekulationsumwitterten Vereinigung Nukleargüter exportierender Staaten, die sich einer besonderen Verantwortung hinsichtlich der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen bewusst fühlen. Die Mitglieder dieses Klubs erklären sich auf Zusehen hin bereit, für die Ein- und Ausfuhr nuklearer Materialien, Ausrüstungen und Technologien Kontrollbestimmungen anzuwenden, die noch restriktiver sind als die im Atomsperrvertrag enthaltenen Abmachungen. Die Beitrittsfrage verschärfte die Kontroverse zwischen Handelskreisen und Industriebranchen auf der einen Seite, die ihre Exportinteressen auf nukleartechnologischem Gebiet gefährdet glaubten, und Kraftwerkindustrie sowie EPD auf der anderen Seite, die innerhalb des Londoner Atomklubs die schweizerischen Versorgungsinteressen besser aufgehoben sahen und die Chance einer internationalen Mitsprache wahrzunehmen wünschten. Da es sich bei den Londoner Richtlinien nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, muss der Beitritt vom Parlament nicht bestätigt werden [33].
 
[24] Vgl. BBl, 1969, I, S. 1449 ff.; 1972,1, S. 1 ff.; 1977, II, S. 813 ff. Vgl. auch SPJ, 1969, S. 40; 1971, S. 55 f.; 1972, S. 41 f.; 1975, S. 48; 1976, S. 41 f.
[25] Vgl. BR Graber, «Die Schweiz und die Vereinten Nationen», in Documenta, 1977, Nr. 6, S. 15 ff.; ders. in LNN, 279, 29.11.77; M. von Grünigen, «Friedenserhaltende Aktionen und schweizerische Aussenpolitik», in Informationsbulletin (EPD), 1.6.77. Vgl. auch Presse vom 16.5.77 sowie Documenta, 1977, Nr. 4, S. 7 ff. Meinungsumfrage: vgl. TLM, 262-265; 19.-22.9.77.
[26] Vgl. Presse vom 1.7.77. VO, 142, 2.7.77; JdG, 152, 4.7.77; 263, 10.11.77; Ww, 27, 6.7.77; 36, 7.9.77; 48, 30.11.77; 50, 14.12.77; TA, 155, 6.7.77 (mit Presseschau); 265, 12.11.77; NZZ, 158, 8.7.77; 220, 20.9.77; 228, 29.9.77; 276, 24.11.77; SZ, 196, 25.8.77; Bund, 224, 24.9.77 (Prof. Haug); TW, 281, 30.1 1.77. Vgl. auch O. Reck in Schweizer Monatshefte, 57/1977, S. 334 und NR Schürch (fdp, BE) in Reformatio, 26/1977, S. 670 ff.
[27] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1459 ff. Vgl. auch Presse vom 1.9.77 und 1.-6.12.77.
[28] Vgl. BBl, 1977, I, S. 1292 ff.; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 777 ff.; Amtl. Bull. StR, 1977, S. 513 ff.; BBI, 1977, III, S. 254 f.
[29] Vgl. Presse vom 3.11.77; wf, Dok., 11, 13.3.78.
[30] Vgl. Presse vom 9.-11.2.77 (Besuch des österreichischen Aussenministers in der Schweiz) und 24.2.77. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1977, S. 446 f. (Einfache Anfrage Waldvogel, fdp, SH).
[31] Vgl. Presse vom 13.1.77; 10.2.77; TA, 68, 22.3.77; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 941 f. (Einfache Anfrage Renschler, sp, ZH). Vgl. auch SPJ, 1976, S. 40.
[32] Vgl. Presse vom 11.3.77.
[33] Vgl. Presse vom 21.4.77 und Amtl. Bull NR 1977, S. 1371 f. (Einfache Anfrage Eisenring, cvp, ZH).