Année politique Suisse 1977 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Entwicklungshilfe
Der negative Ausgang der im Vorjahr über den IDA-Kredit durchgeführten Volksabstimmung prägte auch noch 1977 die schweizerische Diskussion über die Entwicklungshilfe, auf deren weltwirtschaftliche Bedeutung wir in anderem Zusammenhang zu sprechen kommen
[48]. Aufgrund dieses Volksverdikts war es nicht möglich, die öffentliche Hilfe an die Dritte Welt über 0,19% des Bruttosozialproduktes anzuheben, womit die Schweiz auf den hintersten Rängen der Industrieländer verblieb, obwohl sie, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, mehr als jede andere Industrienation nach Entwicklungsländern exportiert
[49]. Der Bundesrat bestellte eine Beratende Kommission, die sich mit allen Fragen der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit befassen soll
[50].
Gemäss den Intentionen des neuen Bundesgesetzes über Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, das auf Mitte des Jahres in Kraft trat, versuchte die Schweiz mit ihren Projekten die ärmeren Regionen und Bevölkerungsschichten der Dritten Welt bevorzugt zu unterstützen
[51]. Diesem Zweck dienten verschiedene Beschlüsse über die Finanzhilfe, die dem neuen Rahmenkredit belastet wurden, und namentlich der Beitritt zum Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (FIDA), an welchem sich die Schweiz vorerst mit 22 Mio Fr. beteiligt
[52]. Der FIDA ist eine neue Organisation, welche von den westlichen Industrieländern und den Mitgliedern der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) gemeinsam finanziert wird und über die Förderung der agrarischen Nahrungsmittelproduktion die Welternährungssituation verbessern will. Das Parlament genehmigte die Beteiligung der Schweiz an einer beim Pariser Nord-Süd-Dialog vereinbarten Sonderaktion zugunsten der einkommensschwachen Entwicklungsländer, denen Schulden in der Höhe von insgesamt 1 Mia Dollar erlassen werden sollen
[53]. Nach dem IDA-Nein von 1976 und der von der Schweiz — im Unterschied zu allen anderen Industriestaaten — in Paris abgelehnten Verpflichtung, die Aufwendungen für Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttosozialproduktes zu erhöhen, hätte sich unser Land dieser Aktion unmöglich entziehen können, ohne in eine gefährliche Isolation zu geraten. Der auf die Schweiz entfallende Anteil, ein Schuldenerlass von 67 Mio Fr., nimmt sich neben den 2,5 Mia Fr. schweizerischer Exportkredite und Anleihen für die Dritte Welt im besten Fall symbolisch aus; er belastet zudem das laufende Budget nicht, da bereits früher ausbezahlte Kredite in Geschenke umgewandelt werden.
Mit Ausnahme des zukünftigen Kantons Jura, dessen Verfassung eine entsprechende Bestimmung enthält, verfügt bisher keiner der Schweizer Kantone über eine gesetzliche Regelung der Entwicklungshilfe. Der Grosse Rat des Kantons Thurgau wies einen diesbezüglichen Gesetzesvorschlag an den Regierungsrat zurück, obwohl dieser Entwurf Möglichkeiten und Aufgaben eines Kantons in der solidarischen Entwicklungszusammenarbeit wegweisend aufgezeigt und geregelt hätte
[54]. Der Kanton Schaffhausen beschloss, ab 1978 jährlich einen mit 10 000 Fr. dotierten Preis auszusetzen, der um die Entwicklungshilfe verdienten Personen oder Institutionen zugesprochen werden soll und wiederum in der Entwicklungszusammenarbeit Verwendung finden muss
[55].
Die privaten und kirchlichen Entwicklungsorganisationen hatten mit ihren Sammelaktionen grossen Erfolg
[56]. Sie verstärkten ihre Zusammenarbeit vor allem hinsichtlich der Aufklärung und Information in der Schweiz über den Zusammenhang zwischen unserem Lebensstil und dem Elend in der Dritten Welt. Zu diesem Zweck gründeten sie unter anderem eine Import- und Informationszentrale in Bern, die entwicklungsbezogene Konsumentenaktionen fördert und die rund 25 Dritte-Welt-Läden in der Schweiz versorgt
[57]. Lokale Arbeitsgruppen und verstärkter Kontakt zu Schulstellen sollen bei breiten Bevölkerungskreisen Interesse und Verständnis für die Probleme der Entwicklungsländer wecken
[58].
[48] Vgl. unten, Wirtschaftsbeziehungen zu Entwicklungesländem. Vgl. auch SPJ, 1976, S. 43 f.
[49] Vgl. Entwicklung — Développement, Sondernummer, September 1977; TA, 59, 11.3.77; 247, 22.10.77. TAM, 19, 14.5.77; Presse vom 3., 4. und 30.6.77; wf, Artikeldienst, 27.12.77.
[50] Vgl. TA, 291, 13.12.77.
[51] Vgl. D. de Pussy, «Notre politique étrangère comme moyen de défense générale: La Suisse dans le dialogue Nord-Sud», in Bulletin d'information (DPF), 25.4.77. Vgl. SPJ, 1976, S. 43.
[52] Vgl. Gesch.ber., 1977, S. 25 ff. FIDA: BBl, 1977,1, S. 1241 ff.; Amtl. Bull. StR, 1977, S. 311 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 770 ff.; BBI, 1977, 11, S. 1029 f. Vgl. auch NZZ (sda), 20, 25.1.77; Bund, 35, 11.2.77; Presse vom 19.3.77 und 14.6.77; TA, 134, 11.6.77.
[53] Vgl. BBl, 1977, Ill, S. 161 ff.; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1495 ff.; Amtl. Bull. StR, 1977, S. 687 f.; BBI, 1978, 1, S. 45 f. Vgl. auch LNN, 165, 19.7.77; Presse vom 15.9.77 und 11.10.77; TA, 295, 17.12.77.
[54] Vgl. Presse vom 29.3.77 und 5.4.77. Vgl. auch unten, Teil II, 2d.
[55] Vgl. TA, 203, 1.9.77.
[56] Vgl. JdG, 43-45, 21.-23.2.77; NZZ, 139, 16.6.77. Vgl. auch F. Demmel, «Aufbruch der Herzen. 15 Jahre Fastenopfer», in Civitas, 32/1976-77, S. 467 ff.; Kirche im Entwicklungskonflikt, Bem/Adliswil 1977 (Entwicklungspolitische Diskussionsbeiträge, 9).
[57] Vgl. TG, 145, 28.6.77; TW, 149, 29.6.77. Zum Grosserfolg der Aktion «Jute statt Plastic » vgl. Tat, 165, 16.7.77 und Beilage zu Erklärung von Bern, Rundbrief, 1977, Nr. 3.
[58] Vgl NZ, 28, 27.1.77; FA, 41, 18.2.77; 51, 2.3.77; NZZ, 32, 8.2.77; BaZ, 30, 1.3.77.
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