Année politique Suisse 1977 : Allgemeine Chronik / Öffentliche Finanzen / Direkte Steuern
Eine formelle Steuerharmonisierung war auch in der sozialdemokratischen Reichtumsteuerinitiative vorgesehen. Der Bund wurde beauftragt, verbindliche Vorschriften für die Steuerbemessungsgrundlage und das Veranlagungsverfahren zu erlassen. Das Kernstück der 1974 eingereichten Vorlage lag aber bei der materiellen Angleichung der Steuerbelastung. Bei den Staatssteuern sollten für Einkommen ab 100 000 Fr. und für Vermögen ab 1 Mio Fr. Mindestsätze fixiert und Einkommen auf dem Existenzminimum von der Besteuerung befreit werden. Gleichzeitig wurde für die direkte Bundessteuer eine Progressivskala mit einem Höchstsatz von 14% und einer vollumfänglichen Entlastung für Einkommen unter 40 000 Fr. vorgeschlagen. Mit einer Verschiebung der Kompetenzen von den Kantonen zum Bund bei der Besteuerung der juristischen Personen wollte man zusätzlich die interkommunale und interkantonale Steuerflucht erschweren. Die Zeit zwischen der Annahme der Vorlage und dem Inkrafttreten der Dauerordnung sollte mit einer Übergangsordnung überbrückt werden
[46].
Die meisten bürgerlichen Parteien sowie die Arbeitgeberverbände entschieden sich gegen die Initiative; der Landesring, die EVP und der Christlichnationale Gewerkschaftsbund beschlossen Stimmfreigabe. Die Initianten wurden vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, den Christlichen Metallarbeitern, den Parteien der extremen Linken sowie einzelnen Kantonalsektionen der Jungen CVP, des Landesrings und der NA unterstützt
[47]. Bürgerliche Kreise bekämpften in der Reichtumsteuer eine «Klassensteuer». Die Initiative schaffe auf der einen Seite «Gratisbürger» und mute auf der anderen Seite der Wirtschaft und dem für die Kapitalbildung bzw. die Investitionstätigkeit massgeblichen privaten Eigentum untragbare Fiskalbelastungen zu. Durch die Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der schweizerischen Wirtschaft, den Ruin ertragsschwacher Unternehmungen und die Steuerflucht ins Ausland würden letztlich auch Arbeitsplätze gefährdet. Zudem nehme die Vorlage auf die Verschiedenartigkeit der Finanz- und Steuerkraft der einzelnen Stände keine Rücksicht und benachteilige finanzschwache und mittelstarke Kantone
[48]. Die von verschiedenen Finanzdirektoren veröffentlichten Zahlen über die für den eigenen Kanton zu erwartenden Ertragseinbussen wurden von SP-Seite aber ebenso zurückgewiesen wie die Behauptung des eidgenössischen Finanzministers, die Reichtumsteuer bringe praktisch keine Mehreinnahmen. Ob und allenfalls mit wie vielen Millionen die neue Fiskalordnung zusätzlich zu ihren primären Zielen (stärkere Besteuerung des Reichtums, Entlastung der unteren Einkommen und Steuerharmonisierung) auch zur Sanierung der Bundesfinanzen beitragen würde, blieb bis zuletzt umstritten. In einem öffentlichen Brief an Bundesrat Chevallaz verwies die SP auf eine von der Wirtschaftsförderung herausgegebene Studie, die Mehreinnahmen in der Grössenordnung von über 500 Mio Fr. vorausgesagt hatte. Steuerexperten der Initianten kamen auf ein ähnliches Ergebnis
[49].
Mit
637 994 Ja zu 800 138 Nein erzielte die Reichtumsteuerinitiative einen Achtungserfolg. Die Westschweiz (mit Ausnahme des Wallis), das Tessin und die Nordwestschweiz wiesen bedeutende Ja-Kontingente auf; in drei Kantonen (BE, BS und NE) wurde die Vorlage sogar angenommen. Die Gegnerschaft war am stärksten in der Innerschweiz und der Ostschweiz
[50]. Das Volksbegehren hatte nicht zuletzt von einzelnen «Steuerskandalen» profitiert, die im Laufe des Jahres an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Berichte über steuerfreie Millionäre im Kanton Zürich, über angebliche Steuerdelikte bekannter Politiker in den Kantonen Freiburg und Tessin sowie über entgangene Fiskaleinnahmen beim Handwechsel der Bally und im Fall des Chiasso-Skandals der Schweizerischen Kreditanstalt verstärkten den Ruf nach grösserer Steuergerechtigkeit
[51]. In verschiedenen Vorstössen erkundigten sich Parlamentarier denn auch nach Lücken in der Steuergesetzgebung von Bund und Kantonen
[52].
[46] SPS, Erläuterungen zur Reichtumsteuer-Initiative, Bern 1977; Gewerkschaftliche Rundschau, 69/1977, S. 305 ff.; R. Rohr, Zur Reichtumsteuer-Initiative der SPS, Zürich 1977 (Stimmen zur Staats- und Wirtschaftspolitik, 63); A. Margairaz, L'impôt sur la richesse: une erreur, Bern 1977. Vgl. SPJ, 1977, II, S. 1504.
[47] NZZ, 268, 15.11.77; 282, 1.12.77.
[48] Vat., 258, 4.11.77; NZZ, 266, 12.11.77; 278, 28.11.77; 284, 3.12.77. Inserate der «Vereinigung zum Schutze der Steuerzahler», der «Aktion Freiheit und Recht» und der «Aktion für gesunde Staatsfinanzen» (Presse vom 28.11.-3.12.77).
[49] Finanzdirektoren von Bern (Bund, 278, 26.11.77), Graubünden (BüZ, 272, 17.11.77), Luzern (Vat., 275, 24.11.77), Solothurn (SZ, 273, 24.11.77) und St. Gallen (Ostschw., 266, 14.11.77). BR Chevallaz: TA (ddp), 259, 5.11.77; BaZ, 276, 8.11.77; SP-Information, 19, 3.11.77; Bund, 281, 30.11.77. Vgl. auch TA, 265, 12.11.77; BaZ, 280, 12.11.77; Tat, 280, 29.11.77; 281, 30.11.77.
[50] Presse vom 5.12.77; TW, 287, 7.12.77; NZZ, 292, 12.12.77; BBI, 1978, I, S. 320 ff.
[51] Zürich: Blick, 197, 24.8.77; TA, 249, 25.10.77; 250, 26.10.77; 274, 23.11.77; 277, 26.11.77; NZZ. 281, 30.11.77; Vr, 237, 11.10.77; 249, 25.10.77; 273-281, 22.11.-1.12.77 («Galerie der Steuerkünstler»). Freiburg: Tat, 151-153, 30.6.-2.7.77; 159, 9.7.77; 286, 6.12.77; 298, 20.12.77; La Gruyère, 80, 14.7.77; NZZ, 155, 5.7.77; 159, 9.9.77; 298, 20.12.77. Tessin: CdT,18, 24.1.77; 41, 19.2.77; NZZ, 42, 19.2.77; 234, 6.10.77. Bally (Rey): Vr, 219, 20.9.77; 267, 15.11.77; Vorwärts, 38, 22.9.77; TA, 219, 20.9.77; 267, 15.11.77; Vgl. auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage). Kreditanstalt: TA, 108, 10.5.77; Vorwärts, 19, 12.5.77; vgl. auch oben, Teil I, 4b (Banken).
[52] Einfache Anfragen der Nationalräte Hubacher (sp, BS) (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1737 ff.; BaZ, 294, 26.11.77), Grobet (sp, GE) (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 952), Meier (cvp, LU) (Amtl. Bull NR, 1977, S. 949 f.) und Ziegler (sp, GE) (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 439 f., 960 f.). Interpellation der SP-Fraktion (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 795 6.).
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