Année politique Suisse 1977 : Infrastruktur und Lebensraum / Boden- und Wohnwirtschaft
 
Mietwesen
Die kommunizierende Röhre zwischen Wohnungsbau und Mietwesen blieb auch 1977 einseitig verstopft. Trotz hohen Leerwohnungsbeständen und sinkenden Hypothekarzinsen ist eine marktgerechte Verbilligung der Mietzinsen in neun von zehn Fällen ausgeblieben. Abschläge bei 13% der statistisch erfassten Mieten genügten allerdings, um den Mietpreisindex erstmals seit 35 Jahren unter den Stand der Vorerhebung zu bringen [25].
In Übereinstimmung mit Bundesrat und Nationalrat beschloss die Kleine Kammer eine Verlängerung der Missbrauchsgesetzgebung im Mietwesen um weitere fünf Jahre. In den leicht verschärften Bestimmungen wird den Mietern neu das Recht zugesprochen, bei einer wesentlichen Änderung der Berechnungsgrundlage ihren Mietzins als missbräuchlich anzufechten. Am Tag des Inkrafttretens des neuen Beschlusses (7. Juli) war allerdings noch nicht klar, ob die im Frühjahr erfolgte Hypothekarzinssenkung bereits darunter falle. Im Gegensatz zur Meinung des Hauseigentümerverbandes und eines Teils der Schlichtungsstellen vertrat das Bundesamt für Wohnungswesen die Ansicht, eine rückwirkende Anwendung des Erlasses sei möglich [26].
Gleichzeitig mit der Zustimmung zum Missbrauchsbeschluss empfahl der Ständerat das aus welschen Mieterschutzkreisen lancierte Volksbegehren « für einen wirksamen Mieterschutz» zur Ablehnung und hiess den Gegenvorschlag des Bundesrates gut. Die Anträge zweier Westschweizer Parlamentarier, dem angespannten Wohnungsmarkt in einzelnen Regionen Rechnung zu tragen und den Gegenvorschlag mit einem Kündigungsschutz zu erweitern, blieben erfolglos. Die Initiative forderte eine umfassende Mietzinskontrolle mit Bewilligungspflicht für Erstvermietungen sowie eine Erweiterung des Kündigungsschutzes. Der Gegenvorschlag begnügte sich damit, das Einschreiten gegen Missbräuche vom Kriterium der Wohnungsnot unabhängig zu machen [27].
Initiative und Gegenvorschlag kamen am 25. September zur Abstimmung. Die meisten bürgerlichen Parteien, die Arbeitgeberverbände und der Schweizerische Hauseigentümerverband hatten sich im Abstimmungskampf für den Gegenvorschlag entschieden. Sämtliche Linksparteien und die Nationale Aktion, Mieterschutzorganisationen, der Schweizerische Gewerkschaftsbund und der Pächterverband unterstützten das Volksbegehren. Ein doppeltes Nein empfahlen die Liberaldemokraten, die Republikaner und die Westschweizer Hauseigentümer [28]. Die Gegner staatlicher Eingriffe in den Wohnungsmarkt versuchten die Initiative als Angriff auf die soziale Marktwirtschaft und das Privateigentum zu entlarven. Sie warnten vor einer weiteren Bürokratisierung des Mietwesens, die den Verwaltungsapparat aufblähen, die Privatinitiative lahmlegen und das bestehende Überangebot an Wohnungen in eine allgemeine Wohnungsnot verwandeln würde [29]. Demgegenüber betonten die Befürworter der Initiative die schwache Position der Mieter im sog. freien Wohnungsmarkt. Nachdem die Vermieter jahrelang den bestehenden Wohnungsmangel bei der Auswahl der Mieter und der Preisgestaltung zu ihren Gunsten ausgenützt hätten, seien sie nun nicht bereit, Mietzinsen und Vermietungspraxis der veränderten Situation anzupassen [30].
Die Abstimmung endete mit einer Überraschung. Zwar wurde die Initiative «für einen wirksamen Mieterschutz» wie erwartet verworfen. Annehmende Mehrheiten gab es nur in den drei Westschweizer Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt sowie im Kanton Basel-Stadt [31]. Abgelehnt wurde aber auch der von den Gegnern der Initiative kaum bestrittene Gegenvorschlag der Bundesversammlung [32]. Während einige Kommentatoren im Resultat eine deutliche Absage an jegliche Art von Staatsintervention im Wohnungswesen erblickten [33], machten andere mit Recht darauf aufmerksam, dass sich im doppelten Nein weniger der Wille zur Zementierung des gegenwärtigen Zustandes als die Eigenheit des Abstimmungsverfahrens widerspiegle. Weil der gültige Abstimmungsmodus ein Ja zur Initiative und zum Gegenvorschlag verbietet, wurden die Befürworter einer Neuerung auf die beiden Vorlagen aufgesplittert. Obwohl sich 86% der Stimmbürger gegen den Status quo ausgesprochen haben, bleibt in Sachen Mieterschutz auf eidgenössischer Ebene vorläufig alles beim alten [34].
Mehr Erfolg hatte eine Mieterschutz-Initiative in Genf. Ein von den Linksparteien und dem breit gelagerten «Rassemblement pour une politique sociale du logement» lanciertes Volksbegehren wurde deutlich angenommen. Im Anschluss an die in der Form einer allgemeinen Anregung gehaltene Initiative stimmte der Grosse Rat nach heftigen Debatten drei Gesetzen zu, von denen das eine der öffentlichen Hand ein weitgehendes Vorkaufs- und Expropriationsrecht gegenüber Privaten einräumt. Nur zwei Monate nach dem Ja zur Initiative wurden auch die Gesetze in der Volksabstimmung gutgeheissen, nachdem die Liberaldemokraten vergeblich wegen eines Verfahrensfehlers beim Bundesgericht rekurriert hatten [35]. Die angespannte Lage auf dem Genfer Wohnungsmarkt manifestierte sich aber nicht nur in Abstimmungsresultaten. In einer Vorortsgemeinde und in zwei Wohnsiedlungen der Stadt griffen Mieter zur Selbsthilfe und verweigerten die Zahlung ihrer Mieten [36].
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H.P.H.
 
[25] Von Mai 1977 bis November 1977 ist der Index um 0,1 Punkte gesunken (Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 725 ff.; Bund, 305, 29.12.77). Zum Problem ausbleibender Mietpreissenkungen vgl. LNN, 1, 3.1.77; TW, 15, 19.1.77; BaZ, 40, 11.3.77; 145, 29.6.77; NZZ, 104, 5.5.77; TA, 131, 8.6.77; Tat, 137, 14.6.77.
[26] StR: Amtl. Bull. S1R, 1977, S. 97 ff.; NZZ, 69, 23.3.77; Bund, 69, 23.3.77; vgl. SPJ, 1976, S. 112. Rückwirkende Anwendung: BaZ, 151, 5.7.77; 152, 6.7.77; 24 Heures, 156, 7.7.77.
[27] Amtl. Bull StR, 1977, S. 111 ff. ; NZZ, 69, 23.3.77; JdG, 69, 23.3.77. Vorstösse Kündigungsschutz: Donzé (sp, GE) und Debétaz (fdp, VD) (Amtl. Bull StR, 1977, S. 112). Vgl. auch SPJ, 1976, S. 113.
[28] BaZ, 230, 23.9.77; TA, 230, 23.9.77.
[29] NZZ, 100, 30.4.77; 205, 2.9.77 («Staatliche Wohnbewirtschaftung oder freies Spiel der Kräfte»); 217, 16.9.77 («Mehr Staat — Weniger Wohnungen»); wf, Dok., 29, 18.7.77; Bund, 113, 16.5.77; Inserate des «Schweiz. Aktionskomitees gegen staatliche Wohnbewirtschaftung» (NZZ, 223, 23.9.77). Der Direktor des SGV, O. Fischer, sprach von einer: «Offensive marxistischen Denkens, die letztlich auf Kollektivierung der Produktionsmittel abziele» (TA, 113, 16.5.77).
[30] TA, 141, 20.6.77; JdG, 148, 29.6.77; FA, 206, 5.9.77; 212, 12.9.77; BaZ, 218, 10.9.77; Tat, 221, 21.9.77; 222, 22.9.77; R. Lienhard, «Mieterschutzinitiative ohne Alternative», in Profil, 1977, S. 245 ff.
[31] Stimmbeteiligung 51,7%. Ja: 796 825; Nein: 1 043 798.
[32] Ja: 777 604; Nein: 944 806. Annehmende Mehrheiten in den Kantonen: Al, AR, BL, GL, GR, NW, OW, SH, SG, TG.
[33] wf, Dok., 39, 26.9.77; Schweiz. Gewerbe-Zeitung, 39, 29.9.77.
[34] Tat, 225, 26.9.77; 24 Heures, 224, 27.9.77; B. Hättenschwiler, «Schon wieder falsch abgestimmt», in BaZ, 252, 15.10.77. Vgl. auch Prof. W. A. Jöhr, «Das Abstimmungsproblem bei drei Alternativen», in Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 112/1976, S. 469 ff.; SPJ, 1976, S. 23.
[35] Initiative: NZZ, 212, 10.9.77; JdG, 212, 12.9.77; TG, 221, 26.9.77; VO, 215, 28.9.77. Gesetze: JdG, 229, 1.10.77; 277, 26.11.77; 284, 5.12.77; VO, 264, 25.11.77; 271, 5.12.77; NZZ, 281, 30.11.77. Rekurs: JdG, 278, 28.11.77; 280, 30.1 1.77. Vgl. unten, Teil II, 4e.
[36] TG, 52, 3.3.77; 102, 6.5.77; 138, 20.6.77; 170, 27.7.77; 230, 6.10.77; VO, 166, 30.7.77. Wohnungsmarkt in Genf: VO, 23, 29.1.77; 83, 15.4.77; vgl. Mietpreisstatistik (Die Volkswirtschaft, 50/1977, S. 725).