Année politique Suisse 1978 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Totalrevision der Bundesverfassung
Den Hauptansatzpunkt zur Diskussion über Grundfragen der Staatsordnung bot jedoch der Expertenentwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung, der im Februar veröffentlicht und einem Vernehmlassungsverfahren zugeleitet wurde, an dem sich über Kantone, Parteien und Verbände hinaus jeder Bürger beteiligen konnte [9]. Wie bereits vorher bekannt geworden war, kennzeichnet diesen Entwurf eine Tendenz, die Verfassung gegenüber der Gesetzgebung zu entlasten, die. Dichte ihrer Regelungen zu verringern. Der Staat, vor allem der Bund, erhält mehr Spielraum für sein Handeln; ein Teil der Schranken, welche die Individualrechte, die Volksrechte und die kantonalen Hoheitsrechte diesem Handeln bisher gesetzt haben, wird abgebaut [10]. Es sind immerhin einige Gegengewichte vorgesehen: ein ausgebauter Katalog der Grundrechte, die Ausdehnung der Volksinitiative auf die Gesetzgebung (freilich nur in der Form der allgemeinen Anregung) sowie die Möglichkeit, dass drei Kantone eine Initiative oder ein Referendum ergreifen [11]. So weit verstärken die Neuerungen den «instrumentalen», . «offenen» Charakter der Verfassung, bleiben also in bezug auf die Ziele der Staatstätigkeit neutral. Der Entwurf ist aber zugleich einem «materialen», auf Zielsetzungen ausgerichteten Verfassungsverständnis verpflichtet. Dies kommt in einem umfänglichen Katalog von gesellschaftspolitischen Staatsaufgaben zum Ausdruck. Die Verbindung der beiden Komponenten mag den politisch ganz verschieden orientierten Mitgliedern der Kommission Furgler die Verständigung erleichtert haben; sie bot jedoch auch eine doppelte Angriffsfläche.
Der Entwurf fand in der Presse zunächst ein sehr wohlwollendes Echo und erfreute sich ungewöhnlicher Aufmerksamkeit [12]. Bald aber setzte auch die Kritik in voller Schärfe ein und richtete sich gegen beide Arten von Neuerungen. Angesichts der Kombination von erleichterter gesetzgeberischer Aktivität des Bundes einerseits und sozialstaatlichen Zielsetzungen anderseits signalisierten konservative Gegner die Gefahr technokratischer Machtentfaltung des Staates und damit einer Beeinträchtigung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Je nach Standort und Stil wandten sich die Kritiker mehr gegen die Einschränkung der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheit oder ' mehr gegen die Einführung einer mindestens für Rahmengesetze geltenden Kompetenz des Bundes auf allen Sachgebieten, welche die Zahl der Verfassungsänderungen mit ihrem obligatorischen Referendum stark reduzieren würde; dieser Effekt erschien sowohl als Abbau der Volksrechte wie als weitgehende Ausschaltung des Ständemehrs und deshalb untragbar. Den Experten wurde überdies eine'illusionäre Staatsgläubigkeit zum Vorwurf gemacht und ihrem Werk ein revolutionärer Charakter, ja ein Zug zum Totalitarismus bescheinigt [13].
Es waren einerseits Vertreter eines wirtschaftlichen Liberalismus und Antietatismus, anderseits föderalistische Kreise, die dem Entwurf eine interventionistische Tendenz ankreideten. Die föderalistische Opposition kam am stärksten in der Waadt zum Ausdruck, wo schon der Begriff «Etat suisse» (Art. 1, deutsch: Schweizerische Eidgenossenschaft) als zentralistisches Fanal wirkte, und zwar bis in sozialdemokratische Kreise hinein [14]. Es gab aber auch eine Kritik von links, die den Entwurf für eine gesellschaftsverändernde Politik gerade als untauglich betrachtete, weil er mit der Beibehaltung des Ständerats und des Gesetzesreferendums noch zuviele Bremsvorrichtungen enthalte; er würde im Gegenteil im Sinn eines aufgeklärten Kapitalismus systemerhaltend wirken [15]. Im Bestreben, die Gesellschaft zu «demokratisieren», d.h. für alle zu öffnen und zu aktivieren, fordert man auf dieser Seite eine Unterordnung der wirtschaftlichen Entwicklung unter die Politik. Die Möglichkeit, diese Entwicklung politisch zu steuern, betrachtet man gerade als Bedingung dafür, dass die verschiedenen Komponenten des politischen Systems — Regierung, Parlament und Volksrechte — gleichzeitig gestärkt werden können und dass die Aufwertung der einen nicht mehr die Handlungsfähigkeit der andern schmälert. Als Triebkraft fir eine solche politische Entwicklung wird allerdings ein allgemeiner Wandel des Bewusstseins für erforderlich gehalten, die «Politisierung» aller gesellschaftlich bedeutsamen Probleme und die stärkere Beteiligung der Betroffenen, eine Voraussetzung, die ausserhalb des Bereichs einer Verfassungsrevision liegt [16].
Die Schöpfer des Entwurfs, voran Kommissionspräsident Furgler, blieben gegenüber dem Ansturm der Kritiker nicht müssig: sie erläuterten und verteidigten ihr Werk [17]. Man diskutierte auch über das Entscheidungsverfahren und fasste verschiedentlich eine Aufteilung des Textes in einzelne Pakete ins Auge, um die Verwerfung des Ganzen in einer einzigen Volksabstimmung zu vermeiden [18].
 
[9] Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Verfassungsentwurf und Bericht, beide Bern 1977. Vgl. dazu Presse vom 24.2.78, ferner SPJ, 1977, S. 12.
[10] Das Eigentum und die private wirtschaftliche Betätigung sind nur noch im Rahmen der Gesetzgebung gewährleistet. Dadurch, dass der Bund auf allen Gebieten mindestens die Kompetenz erhält, Rahmengesetze zu erlassen, unterstehen Beschränkungen der Individualrechte und der kantonalen Hoheitsbefugnisse weithin nicht mehr dem obligatorischen Referendum und dem Ständemehr. Vgl. auch unten, Teil I, 1d (Confédération et cantons) und 4a (Einleitung).
[11] Grundrechte: Erwähnte sind u. a. Gleichberechtigung von Mann und Frau, ein beschränktes Demonstrationsrecht, Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung sowie der künstlerischen Betätigung, rechtliches Gehör insbesondere für Inhaftierte und Internierte. Die Initiative, für welche wieder 50 000 Unterschriften genügen, wird vom Parlament der Verfassungs- oder der Gesetzesstufe zugewiesen und entsprechend behandelt (Einheitsinitiative).
[12] Vgl. ausser der Presse vom 24.2.78 folgende Artikelreihen: TA, 53, 62, 70, 73, 80 u. 201, 4.3.-31.8.78; 205-208, 5.-8.9.78 ; Bund, 59, 65, 73, 77, 81, 87, 96, 104, 107, 115, 121, 127, 145, 159, 162 u. 163, 11.3.-15.7.78; LNN, 77, 95, 110, 130, 148, 162, 190, 230, 237, 263 u. 291, 4.4.-16.12.78; Vat., 93, 99, 132, 156 u. 239, 22.4.-14.10.78. Die Bundeskanzlei gab bis im September 250 000 Gratisexemplare des Textes ab; in einer Meinungsumfrage erklärte sich die grosse Mehrheit für eine Totalrevision (Amtl. Bull. NR, 1978, S. 1474; 24 Heures, ats, 130, 7.6.78).
[13] Vgl. Verfassung mit halber Substanz und falscher Tendenz, Kritische Stimmen zum Expertenentwurf für eine neue Bundesverfassung, Zürich, Redressement National (1978); ferner zwei Schriften des Vororts (H. Sieber. Wirtschaftspolitische Betrachtungen zur Revision der Bundesverfassung, Zürich 1978; A. Meier-Hayoz, Verfassungsentwurf und Eigentumsgarantie, Zürich 1978); ferner SGZ, 9, 2.3.78 u. 35, 31.8.78 (O. Fischer); NZZ, 84, 12.4.78 (M. Lendi); 107, 11.5.78 (F. Renner); 125, 2.6.78 (R. Rohr); 200, 30.8.78 (R. Friedrich); BT, 157, 8.7.78 (H. G. Giger); TA, 175, 31.7.78 (Ph. de Weck); 205, 5.9.78 (R. Broger).
[14] Vgl. 24 Heures, 72, 29.3.78 (A. Gavillet, sp) ; 104, 6.5.78 (M. Regamey); GdL, 108, 11.5.78 u. 180, 4.8.78 (L. Guisan); ferner NZZ, 124, 1.6.78.
[15] So R. Bäumlin (nach Vr, 268, 15.11.78) und P. Vollmer (in Bund, 65, 18.3.78). Vgl. ferner A.-C. Menetrey in VO, 136, 23.6.78 und R. Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie ? Demokratisierung, Verfassung und Verfassungsrevision, Basel 1978, S. 119 ff.
[16] Vgl. R. Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie? Basel 1978.
[17] Vgl. vor allem Totalrevision der Bundesverfassung— Notwendigkeit oder Wunschtraum ? Der Entwurf der Expertenkommission im Spiegel ihrer Mitglieder, Zürich 1978; Zeitschrift für schweiz. Recht. NF 97/1978, 1, S. 225 ff. (Totalrevision der Bundesverfassung — zur Diskussion gestellt); O. Reck, Brauchen wir eine neue Bundesverfassung? Bern 1978.
[18] Vgl. Chr. Leuenberger, Die Abstimmungsmodalitäten bei der Totalrevision der Bundesverfassung, Eine rechtsvergleichende Untersuchung..., Bern 1978 ; J.-Fr. Aubert in Zeitschrift für schweiz. Recht, NF, 97/1978,1, S. 249 f.; ferner L. Neidhart, «Hat die Totalrevision eine Chance?» in Totalrevision der Bundesverfassung — Notwendigkeit oder Wunschtraum? Zürich 1978, S.47 ff.