Année politique Suisse 1978 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Öffentliche Ordnung
Die öffentliche Ordnung wurde im Berichtsjahr weniger durch innenpolitische Konflikte als durch den internationalen Terrorismus belastet. Im Vorfeld gewichtiger eidgenössischer Volksabstimmungen — über die Bundessicherheitspolizei sowie über die Voraussetzungen für den Bau von Atomkraftwerken — begnügten sich die oppositionellen Kräfte im allgemeinen mit geordneten Demonstrationen
[25]. Dagegen sah sich die Schweiz infolge der Festnahme zweier Deutscher nach dem Zwischenfall im Jura vom Dezember 1977 stärker in den Kampf gegen den Terrorismus einbezogen als zuvor. Die rigorose Isolierung und Überwachung der beiden Häftlinge im Berner Amthaus löste ungewohnte Reaktionen aus: Hungerstreiks der Delinquenten, Protestrücktritte ihrer Vertrauensanwälte, Bombenanschläge auf bernische Gerichtsgebäude
[26]. Im Juni wurde der Prozess vor den Geschworenen in Pruntrut ohne Angeklagte und bloss mit Pflichtverteidigern durchgeführt. Das Gericht verhängte langjährige Zuchthausstrafen
[27]. Deren Vollzug glaubte man aber den regulären Strafanstalten aus Sicherheitsgründen nicht zumuten zu können. So blieben die Verurteilten einstweilen im Berner Untersuchungsgefängnis
[28].
lier aussergewöhnliche Gerichtsfall löste eine eingehendere Diskussion über die Problematik des
Terrorismus aus. Kann man Terroristen moralische und politische Motive zubilligen oder ist Verständnis für die terroristische Auflehnung bereits Ausdruck moralischer Korruption? Soll man dem Terrorismus mehr mit sozialen Reformen und demokratischer Gelassenheit begegnen oder mit Verschärfung der Strafen und Abwehrmassnahmen?
[29] Sind anderseits die strengen Haftbedingungen und die Einschränkung der Verteidigerrechte zur Gewährleistung der Sicherheit unumgänglich oder trifft entsprechende Anordnungen der Vorwurf, sie bewirkten die psychische und physische Vernichtung der Häftlinge? Während solche Fragen eine breitere Öffentlichkeit bewegten, befand man sich auf der äussersten Linken im Dilemma zwischen realistischer Respektierung der Legalität und antibürgerlicher Solidarität
[30].
Die wiederholten Anschläge und die Androhung weiterer Gewaltakte — dies auf dem Hintergrund der spektakulären Entftihrungs- und Mordfälle im nördlichen und südlichen Nachbarland — gaben Anlass zu Sicherheitsmassnahmen, insbesondere in öffentlichen Gebäuden
[31]. Die Furcht vor dem Terror führte auch zu unbegründeten Verdächtigungen oder zu Vorkehren, deren Verhältnismässigkeit hinterher bezweifelt wurde
[32]. Aufsehen erregte vor allem die Einbeziehung ausländischer Helfer durch den vom Chef des EJPD geleiteten Krisenstab während eines Zwischenfalls in Genf-Cointrin. Der Bedrohung eines amerikanischen Verkehrsflugzeugs durch einen Unbekannten begegnete man nicht nur durch die Entsendung eines Truppenverbandes und einer Antiterroreinheit der Berner Kantonspolizei, sondern — unter Zustimmung des Bundesrates — zudem durch die Bereitstellung von Spezialisten des westdeutschen Grenzschutzes in Payerne (VD). Ein Einsatz dieser Kräfte erübrigte sich jedoch, da die Drohung nicht wahrgemacht wurde
[33].
Das Auftreten deutscher Antiterrorkräfte auf Schweizerboden war Ausdruck einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, welcher mehrere Treffen der für die öffentliche Sicherheit zuständigen Minister dienten
[34]. Im Europarat wurde eine Konvention über die Kontrolle des privaten Handels mit Feuerwaffen ausgearbeitet. Voraussetzung für die Anwendung einer solchen in der Schweiz wäre aber ein eidgenössisches Waffengesetz. Die Vernehmlassungen der Kantone zu einem im Vorjahr versandten Fragebogen lauteten fast alle grundsätzlich positiv; sie liessen freilich Bedenken gegen eine Regelung hervortreten, die den Jägern, Schützen und Waffensammlern ungewohnte. Einschränkungen auferlegen würde
[35].
Der zweite Versuch innerhalb von zwölf Jahren, ein Sicherheitsinstrument des Bundes zu schaffen, das bei Ungenügen der kantonalen Polizeikräfte eingreifen könnte, scheiterte in der Volksabstimmung. Im März wurde die neue Vorlage für eine
Bundessicherheitspolizei von beiden Räten gutgeheissen. Ausser den Kommunisten opponierte praktisch nur eine Minderheit der SP-Fraktion
[36]. Nachdem aber bereits im Vorjahr verschiedene linke Organisationen ein
Referendum angekündigt hatten, entschied sich jetzt auch der Vorstand der SPS für den Appell ans Volk, ohne sich allerdings mit den erwähnten Gruppen zu verbinden. Gegnerschaft regte sich jedoch nicht nur auf der Linken. In der Westschweiz hatte sich schon im Januar ein Komitee gebildet, das vom jurassischen Sozialisten Béguelin bis zu den Wortführern der konservativ-föderalistischen Ligue vaudoise reichte und nun seinerseits den Kampf aufnahm
[37]. Beim Sammeln der Unterschriften hatten freilich die linken Aussenseiter am meisten Erfolg; dabei erwiesen sich die welschen Kantone am ergiebigsten
[38].
In der
Abstimmungskampagne nahmen alle bürgerlichen Landesparteien zugunsten der Vorlage Stellung und nur die Linke und der Landesring gegen sie. Mehrere bürgerliche Kantonälformationen, namentlich westschweizerische, scherten jedoch aus der Front der Befürworter aus
[39]. Während für die «Busipo» in erster Linie das Ungenügen der Terrorabwehr ins Feld geführt wurde, wandten sich die Gegner je nach Standort mehr gegen mögliche Eingriffe in die kantonale Polizeihoheit oder eher gegen die Gefahr einer Beeinträchtigung der Demonstrations- und Streikfreiheit. Die Opposition richtete sich aber meist nicht gegen die in der Botschaft des Bundesrates auf 200 Mann und 100 Ersatzleute begrenzte Antiterrortruppe, sondern allein gegen die 1000 Mann, die für Einsätze zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vorgesehen waren
[40]. In der Westschweiz scheint das forsche Vorgehen Bundesrat Furglers beim Genfer Flugzeugzwischenfall wesentlich zur Abneigung gegen die «Fupo» beigetragen zu haben.Ungünstig wirkten auch allzu spät widerlegte Befürchtungen, eine Vollzugsverordnung werde dem neuen Instrument einen zentralistischeren Charakter verleihen, als der Gesetzestext annehmen lasse
[41]. So wurde die vom Chef des EJPD unermüdlich verteidigte Vorlage
[42] am 3. Dezember
von 56% der Stimmenden abgelehnt. Nur die ostschweizerischen Kantone, Zürich und Tessin erbrachten annehmende Mehrheiten; die Waadt verwarf mit nahezu 80, das Gebiet des neuen Kantons Jura sogar mit 84%. Wie eine Umfrage ergab, wiesen ausser der französischen Sprachgruppe die jüngere Generation und die Arbeiterschaft besonders hohe Verwerfungsquoten auf. Häufigstes Ablehnungsmotiv war die Abneigung gegen einen Ausbau der Polizei; föderalistische Bedenken traten weit weniger hervor
[43].
Das Volksverdikt wurde vielfach dahin gedeutet, dass es sich nicht gegen eine reine Antiterrortruppe richte, sondern nur gegen ein Bundesinstrument zur Bekämpfung von Unruhen. Die FDP-Fraktion postulierte deshalb unverzüglich die Ausarbeitung einer neuen Vorlage, die sich auf den erstgenannten Gegenstand zu beschränken hätte
[44]. Die Vorbereitung eines zentralen kriminalpolizeilichen Informationssystems mit elektronischer Datenspeicherung (KIS) trat in die Entscheidungsphase: nach mehreren Kantonsregierungen sprach sich im September auch der Bundesrat grundsätzlich für eine Beteiligung aus
[45].
[25] So am 15.4. gegen die Bundesssicherheitspolizei in Bern (Presse vom 16.4.78) und am 12.11. gegen den Atomkraftwerkbau in Gösgen (Presse vom 13.11.78); vgl. dazu unten sowie Teil I. 6a (Energie nucléaire). Erwähnt sei auch eine Demonstration der Uhrenindustrie in Bern am 11.11. (vgl. unten. Teil I, 7a, Marché du travail und Teil IIIb, Sozialpartner).
[26] Zum Zwischenfall im Jura vgl. SPJ 1977, S. 16. Haftbedingungen: TA, 9,12.1.78; 55, 7.3.78; 130, 8.6.78 (teilweise Gutheissung von Beschwerden durch das Bundesgericht); Zeitdienst. 10, 10.3.78. Hungerstreiks: BaZ, 76, 18.3.78 ; TA, 67, 21.3.78 ; NZZ (sda). 150. 1.7.78 ; 264, 13.11.78 ; NZZ, 297, 21.12.78. Protestrücktritte : TA, 118. 25.5.78. Bombenanschläge: Bund, 11. 14.1.78; 12, 16.1.78 (Obergericht); 163, 15.7.78 (Amthaus).
[27] Gabriele Kröcher-Tiedemann wurde des Mordversuchs, ihr Komplize der Mittäterschaft schuldig erklärt. Die Presse anerkannte im allgemeinen Prozess und Urteil (Presse vom 1.7.78); für Kritik vgl. Lib., 227, 3.7.78 ; Tat, 158, 11.7.78. Nach Abweisung einer Nichtigkeitsbeschwerde durch die kantonale Instanz wurde das Urteil beim Bundesgericht angefochten (NZZ. 259, 7.11.78; Gesch. ber., 1978, S. 133). Ein im Mai gestelltes Begehren der Bundesrepublik um Auslieferung G. Kröchers kann erst nach dem Strafvollzug wirksam werden (TA, 103. 6.5.78 ; NZZ, sda, 153. 5.7.78).
[28] Ww, 28, 12.7.78; BN, 274. 23.11.78.
[29] Vgl. dazu H. Lübbe, Endstation Terror, Rückblick auf lange Märsche, Stuttgart 1978 (vgl. dazu Ww, 4, 25.1.78); G. Däniker, Antiterror-Strategie, Frauenfeld 1978 (vgl. dazu TA, 13, 17.1.79); Vr, 29, 4.2.78 (Stellungnahme der SPS) ; NZZ, 45, 23.2.78 (Podium an der Universität, Zürich); Schweizer Rundschau, 77/19 78, Nr. 9.
[30] Verteidigerrechte: TA, 133, 12.6.78 ; Ww, 25, 21.6.78 ; LNN, 152, 4.7.78. Äusserste Linke: «Stammheim in Bem?» in Focus, Nr. 98, Juli/Aug. 1978, S. 9 ff.; Das Konzept, 7/8, 4.7.78; Vorwärts, 32, 10.8.78.
[31] Z. B. Eintrittskontrollen und vorübergehende Einstellung der Besichtigungen im Bundeshaus (TA, 164, 18.7.78; 24 Heures, 166, 19.7.78; TLM, 262, 19.9.78; BaZ, 245, 21.9.78; NZZ, sda, 241, 17.10.78). Vgl. auch NZZ, 275, 25.11.78.
[32] Vgl. den unabgeklärten Tod eines Aspiranten des Waffenplaties Bure (JU) (Amtl. Bull. NR, 1978, S. 300, 328, 736 ff.; TW, 250, 25.10.78) und die Erschiessung eines bernischen Polizeikorporals bei Pruntrut (JU) (JdG, 130, 7.6.78; 155, 6.7.78).
[33] Presse vom 26., 29., 30. und 31.8.78 ; ferner NZZ (sda), 246, 23.10.78 ; NZZ, 8, 11.1.79 sowie Amtl. Bull. NR, 1978, S. 1590 ff. u. 1942 f. Die deutschen Spezialisten wurden von der Bundesrepublik angeboten. Der Urheber des Zwischenfalls entkam zunächst unerkannt, wurde aber später in New York verhaftet.
[34] Presse vom 11.4., 20.5. und 11.-13.9.78. Vgl. unten, Teil I, 2 (Westliches und neutrales Europa).
[35] Europarat: BaZ, 26, 27.1.78. Waffengesetz: Ldb, 118, 26.5.78; BaZ, 145, 1.6.78; vgl. SPJ, 1977, S. 16.
[36] Differenzbereinigung: Amtl. Bull. StR, 1978, S. 88. Schlussabstimmungen: Amtl. Bull. NR, 1978, S. 410 f. (135:20); Amtl. Bull. StR. 1978, S. 145 (37: 2); vgl. JdG, 58, 10.3.78. Definitiver Text: BBI, 1978, I, S. 652 ff. Vgl. SPJ, 1977, S. 16 f.
[37] Linke Organisationen: SPJ, 1977, S. 17, Anm. 30. SPS: TA (ddp), 60, 13.3.78; TW, 65, 18.3.78. Westschweiz: 24 Heures (ats), 11, 14.1.78 ; NZZ (sda), 70, 25.3.78 ; NZZ, 73, 30.3.78.
[38] Von total 108 840 gültigen Unterschriften brachten die linken Gruppen rund 71 000 (davon 33 000 aus der welschen Schweiz), die SPS etwa 28 000 und die welschen Föderalisten etwa 9000 zusammen (BBI, 1978, I, S. 1672 f.; Presse vom 20.6.78; TLM, 183, 2.7.78).
[39] Abweichende Kantonalparteien: FDP von OW, VD, VS und GE; SVP von SZ, FR, AR und VD; LP von VD und NE (alle negativ); FDP von TI, CVP von VD, EVP von AG, NA von BL (Stimmfreigabe); SP von AR, LdU von GR und AG (positiv). Der SGB gab die Stimme frei, der CNG, die VSA und der SGV empfahlen ein Ja (LNN. 277, 29.11.78; NZZ, sda, 279, 30.11.78).
[40] Befürworter: vgl. NZZ, 257, 4.11.78 oder Inserat in Blick, 275, 24.11.78. Föderalistische Gegner: vgl. 24 Heures, 270, 20.11.78 (J.-F. Leuba, Polizeidirektor von VD), La Nation, 1068, 2.12.78 (M. Regamey). Linke Gegner: vgl. TW, 259, 4.11.78 (H. Hubacher); 265, 11.11.78 (A. Gerwig); Vr, 265, 11.11.78; VO, 264, 24.11.78. Vgl. dazu BBl, 1977, II, S. 1294.
[41] Westschweiz : NZZ, 273, 23.11.78. Verordnung: Vorwärts, 40, 5.10.78 ; TA. 233, 7.10.78 ; 24 Heures, 278, 29.11.78; vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1978, S. 1573 ff. (Interpellation Gerwig, sp, BS).
[42] Vgl. BaZ, 300, 24.11.78.
[43] BBI, 1979, I, S. 213; Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen, 3.12.78.
[44] Verhandl. B.vers., 1978, VII, S.25 f.; BaZ, 310, 6.12.78. Vgl. dazu BaZ, 308, 4.12.78; JdG, 283, 4.12.78; Ostschw., 283, 4.12.78; TA. 282, 4.12.78.
[45] Presse vom 7.9.78 ; Gesch.ber., 1978, S. 138. Vgl. R. Gerber, «KIS — das Kriminalpolizeiliche Informationssystem», in Verwaltungspraxis, 32/1978, Nr. 6, S. 9 ff.; BaZ, 305, 30.11.78 sowie SPJ, 1977, S. 17.
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