Année politique Suisse 1979 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Regierung
Das Auslaufen der Legislaturperiode von 1975—1979 gab Anlass zur Feststellung, dass in den vier vergangenen Jahren die Institutionen des Bundesstaates besonders belastet worden seien. Zwar legte der Bundesrat im Blick auf eine Neuregelung der staatlichen Planungspraxis noch keinen Rechenschaftsbericht über den Vollzug der Richtlinien der Regierungspolitik vor, doch stellten politische Beobachter fest, dass nur etwa die Hälfte der 1976 angekündigten Vorhaben verwirklicht worden sei [1]. Anderseits hat es noch nie in einer Legislaturperiode so viele Volksabstimmungen gegeben [2].
Mit der Problematik der politischen Planung in der halbdirekten Demokratie befasste sich eine Studie des Instituts für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich. Darin wurde festgestellt, die Regierungsplanung sei bis zum Einbruch der Rezession noch einigermassen gelungen, weil sie sich mit einer Bewältigung des Wachstums begnügt habe, wobei man allerdings kaum über eine Fortschreibung der bestehenden Strukturen hinausgegangen sei. Seither seien nun aber Fragen der Rationalisierung und der Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft in den Vordergrund getreten. Diese Fragen verstärkten die Konflikte und überforderten die Institutionen. Die Studie empfahl deshalb eine Beschränkung aufdie wirtschaftlichen und sozialen Hauptprobleme, da für diese eine wirksame Mobilisierung politischer Kräfte leichter erscheine. Zugleich wurde auf die vermehrte Einbeziehung des Parlaments und der Stimmbürger in die politische Planung Gewicht gelegt. Jenes sollte zu den Regierungsprogrammen Gegenvorschläge einbringen können; diesen hätte man vor allem Gelegenheit zu Vor- und Alternativabstimmungen zu bieten, um die Gefahr eines Scherbenhaufens am Ende jahrelanger behördlicher Vorbereitungen zu vermeiden [3].
Eine stärkere Beteiligung des Parlaments an der politischen Planung erstrebt die neue Regelung für die Richtlinien der Regierungspolitik und den Finanzplan, die im Frühjahr nun auch vom Ständerat ohne wesentliche Abänderungen gutgeheissen wurde. Sie verankert nicht nur die 1974 provisorisch eingeführte Verbindung der beiden Planungsinstrumente, sondern gibt zudem dem Parlament die Möglichkeit. mit beschleunigt zu behandelnden Motionen zu den Absichtserklärungen des Bundesrates Stellung zu nehmen und damit auf ihre Durchführung unmittelbarer einzuwirken. Schliesslich wird die Exekutive verpflichtet, in der Mitte der Legislaturperiode über Abweichungen von den Richtlinien Bericht zu erstatten. Die Rechenschaftsablage über die abgelaufene Periode soll jeweils in die neuen Richtlinien eingebaut werden [4]. Regierungsprogramme werden seit einigen Jahren zunehmend auch auf kantonaler Ebene aufgestellt. Die Schweizerische Staatsschreiberkonferenz hat dafür ein Hilfsmittel ausgearbeitet [5].
Das Herannahen der eidgenössischen Wahlen intensivierte die Diskussion über die Frage. ob die Regierung des Bundesstaates weiterhin auf der Zusammenarbeit aller grossen Parteien beruhen solle. Da die verschlechterte Wirtschafts- und Finanzlage die politischen Konflikte verschärft hatte, sah sich die SP mehr und mehr in eine Oppositionshaltung innerhalb der Vierparteienkoalition gedrängt, forderten doch starke Kräfte in ihren Reihen einen entschiedeneren Kampf für eine Veränderung der Gesellschaftsordnung. Zwar vermochte die Parteileitung. wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, den namentlich aus welschen Sektionen erhobenen Ruf nach einem Rückzug aus dem Bundesrat zu dämpfen. Sie beanspruchte jedoch Freiheit zur Opposition im Parlament und eine Lockerung der Kollegialitätspflichten für ihre Regierungsvertreter [6]. Von bürgerlicher Seite wurde demgegenüber das wiederholte Ausscheren der Sozialdemokraten aus der Koalition als ein Verhalten gewertet, das die Vierparteienregierung grundsätzlich in Frage stelle [7]. Von einer Reduktion der Vierergemeinschaft sprach man aber nicht nur im Blick auf einen Rückzug der SP. Die CVP-Führung, die sich nach wie vor gegen die Bildung eines Bürgerblocks wandte. erwog vor den Wahlen einen Ausschluss der SVP. falls sich deren Anhang weiter verringern sollte [8].
Der Sitz der SVP im Bundesrat geriet freilich nicht ernstlich in Gefahr, konnte doch die Partei in den Nationalratswahlen kräftig aufholen [9]. Doch seine personelle Besetzung wurde durch die Demission Rudolf Gnägis zu einem Politikum. Der Chef des EMD war infolge der Auseinandersetzungen um die Landesverteidigung sowie verschiedener Pannen seit einiger Zeit ins Schussfeld der Kritik geraten. Er kündigte seinen Rücktritt am Ende der parlamentarischen Sommersession an. nachdem der Ständerat einen Rüstungskredit zurückgewiesen und die Aufdeckung ernsthafter Mängel am Panzer 68 einen Produktionsstopp für die laufende Serie veranlasst hatte. Der Demissionär betonte, dass er seinen Entschluss schon am Anfang der Amtsperiode gefasst habe, bestritt aber nicht, dass der Zeitpunkt der Bekanntgabe mit den aufgetretenen Schwierigkeiten zusammenhänge [10]. Während die SVP ihre Stellungnahme aufdie Zeit nach den Wahlen verschob, begann in der Öffentlichkeit sogleich die Diskussion um die Nachfolge. Im Vordergrund stand von Anfang an der als Preisüberwacher populär gewordene Bündner Ständerat Leon Schlumpf, dem die Berner Kantonalpartei keinen chancengleichen Kandidaten entgegensetzen konnte [11]. Ende Oktober nominierte sie immerhin den eben zum Nationalrat gewählten kantonalen Finanzdirektor W. Martignoni. Erst Mitte November stellte sich Schlumpf zur Verfügung. worauf ihn die Bündner SVP sogleich auf den Schild erhob. Nachdem der Thurgauer Regierungs- und Nationalrat H. Fischer zugunsten Schlumpfs verzichtet hatte, entschied sich die Bundeshausfraktion zu einem Doppelvorschlag, da sich die Stimmen fast gleichmässig auf den Berner und den Bündner verteilten [12]. Die Bundesversammlung wählte jedoch am 5. Dezember mit Zweidrittelmehrheit Leon Schlumpf [13]. Damit sah sich der Kanton Bern. kaum ein Jahr nach dem Verlust des Nordjuras. erstmals in der Geschichte des Bundesstaates ohne Vertreter in der Landesregierung [14].
Eine Zeitlang schien es, als werde es mit der einen Vakanz nicht sein Bewenden haben. Willi Ritschard musste 1979 wegen Krankheit wiederholt die Arbeit aussetzen. Er liess sich dadurch aber nicht zum Rücktritt bewegen [15]. Dagegen betrachtete man eine neue Verteilung der Departemente in verschiedener Hinsicht als wünschbar. So verlangte die Leitung der CVP nach der Verwerfung der Finanzvorlage am 20. Mai einen Wechsel im EFD [16], Der Präsident der SPS, die der Kritik am Militärdepartement ein wenig respektvolles «Schwarzbuch» widmete, schlug bei dessen Veröffentlichung im September Kurt Furgler als neuen Verteidigungsminister vor [17]. Zensuren teilte auch die Bundesversammlung aus: bei den Gesamterneuerungswahlen für den Bundesrat erzielte zunächst der freisinnige Finanzchef Chevallaz nur ein mässiges Resultat, worauf der sozialdemokratische Aussenminister Aubert infolge einer Art Retourkutsche gerade noch auf das absolute Mehr der Parlamentsmitglieder kam [18]. Die Lösung freilich, die von der neubestellten Landesregierung kurz vor Weihnachten getroffen wurde, wirkte überraschend. Chevallaz trat das Finanzdepartement ab und erhielt dafür das EMD. Zur Übernahme des EFD wurde der ehemalige Solothurner Finanzdirektor Ritschard gedrängt, der nach Rücksprache mit SPS-Präsident Hubacher zusagte und das EVED dem neuen Kollegen Schlumpf überliess. Er hoffte, dadurch weiteren Auseinandersetzungen mit seiner Partei in der Atomenergiefrage aus dem Wege zu gehen und zugleich den sozialdemokratischen Anliegen in der Finanzpolitik mehr Nachdruck verleihen zu können [19]. Während man in SP-Kreisen diese Chance verschieden beurteilte [20], versprach man sich auf bürgerlicher Seite eine stärkere finanzpolitische Mitarbeit des linken Koalitionspartners [21]. Die im November aufgenommenen Gespräche der vier Bundesratsparteien über gemeinsame Legislaturziele hatten namentlich in der Finanz- und Wirtschaftspolitik wesentliche Differenzen ergeben [22].
 
[1] TA, 235. 10.10.79; LNN, 237. 12.10.79; SGT, 240. 13.10.79. Vgl. dazu auch SPJ, 1974. S. 17 u. 20. Zur Neuregelung vgl. unten.
[2] 50 Gegenstände (15 obligatorische und 15 fakultative Referenden. 16 Initiativen, davon 3 mit Gegenentwurf. 1 weiterer Gegenentwurf) in 15 Urnengängen (1971-1975: 28 Gegenstände). Vgl. auch A. Auer / J.-D. Delley. «Le référendum facultatif– La théorie à l'épreuve de la réalité», in Zeitschrift für schweiz. Recht. NF. 98/1979. S. 113 ff.
[3] W. Linder / B. Hotz / H. Werder. Planung in der schweizerischen Demokratie. Bern 1979. insbes. S. 151, 206 ff. u. 245 ff. Von der für die Behörden verbindlichen Vorabstimmung zu unterscheiden ist die unverbindliche Konsultativabstimmung (vgl. J.P.Müller / P. Saladin. «Das Problem der Konsultativabstimmung im schweizerischen Recht», in Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979, hrsg. v. E. Bucher u. P. Saladin. Bern 1979. S. 405 ff.). Vgl. auch M. Lendi / W. Linder (Hrsg. ). Politische Planung in Theorie und Praxis. Ein Kolloquium des Instituts für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich. Bern 1979 sowie R. Reich. «Parlament und politische Planung». in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 35, 1979. Nr. 12.
[4] Ratsverhandlungen: Amtl. Bull. StR, 1979. S. 2 ff.; Amtl. Bull. NR, 1979. S. 249; vgl. SPJ, 1978. S. 21. Definitiver Text: AS 1979, S. 1318 ff.
[5] Anhaltspunkte fuir die Ausarbeitung von kantonalen Regierungsprogrammen, Luzern 1978; vgl. auch LNN, 16. 220.1.79.
[6] Infragestellung der BR-Beteiligung: TLM, 71. 12.3.79 (SP von GE); 112. 12.4.79 (SP von VD). NR J. Ziegler forderte ausdrücklich den Rückzug (BaZ, 119. 23.5.79; 128. 5.6.79). Über die Diskussionen am Parteitag und an einer Arbeitstagung vgl. unten, Teil lIla (Sozialdemokratische Partei) sowie NZZ (sda). 215. 17.9.79 (Stellungnahme der Geschäftsleitung).
[7] NR Friedrich (fdp. ZH) in NZZ, 14.18.1.79 ; JdG, 47. 26.2.79; SVP-Pressedienst, 20. 16.5.79; A. Fisch in Schweizer Monatshefte, 59/1979. S. 501 ff. ; E. Hugentobler. ebenda. S. 601 ff. Vgl. auch SPJ, 1978. S. 20. Ein Koalitionssvstem mit Opposition skizziert M. Bucheli. Die direkte Demokratie im Rahmen eines Konkordanz- oder Koalitionssystems. Bern 1979. Zu Funktion und Formen der Opposition vgl. auch R. Zwahlen. Opposition in der direkten Demokratie. Zürich 1979.
[8] JdG, 207. 5.9.79; NZZ, 237. 12.10.79. Vgl. SPJ, 1978. S. 171.
[9] Vgl. unten, Teil I, 1e (Résultat des élections au Conseil national).
[10] Rücktrittserklärung: Amtl. Bull. NR, 1979. S. 865; Bund, 144, 23.6.79; NZZ (ddp). 143, 23.6.79. Zur Kritik vgl. BaZ, 135, 13.6.79; SGT, 135. 13.6.79; ferner Presse vom 23.6.79 und SPJ, 1977, S. 19. Rüstungskredit und Panzer: vgl. unten, Teil I. 3 (Rüstung).
[11] SVP: TA, 143, 23.6.79. Nachfolge: Presse vom 23.6.79. Preisüberwacher: SPJ, 1974. S. 59; 1978. S. 56 sowie unten, Teil I, 4a (Konjunkturpolitik).
[12] Martignoni: LNN, 254. 2.11.79; NZZ, 255. 2.1 1.79. Schlumpf: NZZ (sda). 266. 15.11.79; Presse vom 19.11.79. Fischer: TA, 271. 21.11.79. Bundeshausfraktion: Presse vom 28.11.79. Der Doppelvorschlag einer Fraktion stellt in der neueren Bundesstaatsgeschichte ein Novum dar.
[13] Amtl. Bull. NR, 1979. S. 1745. Schlumpf erhielt 159 Stimmen. Martignoni 72. sonstige 10.
[14] Die bernischen Reaktionen waren gelassen (BaZ, 286, 6.12.79; Bund, 286. 6.12.79; LNN, 283, 6.12.79; TW, 286, 6.12.79). Vgl. dagegen frühere Äusserungen: BaZ, 210. 8.9.79; NZZ, 272. 22.11.79.
[15] BaZ, 108. 10.5.79; 206. 4.9.79; TA, 153. 5.7.79; NZZ (sda). 204. 4.9.79.
[16] Vat.. 117, 21.5.79; 118, 22.5.79; 122, 28.5.79; vgl. unten, Teil I, 5 (Réforme des finances fédérales). Über die «stoische» Grundhaltung BR Chevallaz vgl. seine Schrift Les raisons de l'espoir, Lausanne 1979.
[17] TA, 208.8.9.79 ; SPS, Schwarzbuch EMD, Notizen zur « Panzerschlacht », Bern 1979. Der BR warf der SPS vor, mit dem Schwarzbuch «das landesübliche Mass an Kritik überschritten» zu haben (Presse vom 13.9.79).
[18] Stimmen erhielten: Furgler 206. Ritschard 212. Hürlimann 214, Chevallaz 170. Honegger 198. Aubert 124 (Amtl. Bull. NR, 1979, S. 1744 f.). Vgl. dazu TA, 284.6.12.79. Das Zurückbleiben der welschen Regierungsmitglieder gab in der Westschweiz zu Verstimmung Anlass (JdG, 285, 6.12.79 ; Lib., 57. 6.12.79 ; TLM, 340. 2.79 ; 24 Heures, 284. 6.12.79). Zur Kritik an Aubert vgl. unten, Teil I, 2 (Führung des EDA).
[19] Presse vom 20.12.79. Vgl. dazu Interview Ritschards in Vr, 295. 27.12.79.
[20] Positiv: TW. 299. 21.12.79 (NR Hubacher); 24 Heures. 297. 21.12.79 (NR Hubacher. NR R. Müller); NZZ (sda). 298. 22.12.79 (Büro der Geschäftsleitung). Kritisch : SGT, 298.21.12.79 (NR H. Schmid); TLM, 355. 21.12.79 (NR J.Ziegler). Vgl. ferner Vr, 293. 21.12.79.
[21] Vat.. 294. 20.12.79; JdG, 298. 21.12.79; NZZ, 297. 21.12.79 (auch FDPS).
[22] Presse vom 15.11.79 und 14.12.79.