Année politique Suisse 1979 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung
Auf dem Gebiet der Alters- und Hinterlassenenversicherung wandte man sich im Parlament nach der Durchsetzung der neunten AHV-Revision [10] vor allem dem Problem der Stellung der Frau zu. In einer Motion verlangte Nationalrätin Cornelia Füeg (fdp, SO) die Gleichstellung der Geschlechter und damit die Beendigung des bisherigen, familienpolitisch motivierten und nicht immer leicht verständlichen Zustandes [11]. Insbesondere postulierte sie, jeder Frau solle aufgrund eigener Beitragsleistungen ein Anspruch auf eine eigene AHV/IV-Rente erwachsen. Mit der vorgeschlagenen Reform war vor allem eine Verbesserung der Position der verheirateten, verwitweten oder geschiedenen Frau geplant, indem von nun an die Beiträge aufgrund der Einkünfte des Ehepaares berechnet und jedem Partner hälftig auf sein Konto gutgeschrieben würden. Nach Ansicht der Motionärin sollte gleichzeitig mit der Aufhebung der bisherigen Benachteiligung der Frau auch deren Privileg fallen: die angesichts der höheren Lebenserwartung des weiblichen Geschlechts verschiedentlich kritisierte, aber noch 1979 vom Bundesgericht als mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar bezeichnete [12] frühere Pensionsberechtigung. Allerdings forderte die Motion — vor allem wegen des Widerstandes der alleinstehenden Frauen gegen eine Erhöhung des AHV-Alters auf 65 Jahre — zugleich für gewisse Fälle einen frei wählbaren Eintritt ins Rentenalter. Schliesslich verlangte sie Solidaritätsbeiträge für Alleinstehende, die wegen Pflegeaufgaben keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, sowie eine Ergänzung bzw. eine Einschränkung der Witwenrente: einerseits sollten neu auch Männern mit unmündigen Kindern, die wegen des Todes der Gattin finanzielle Mehrleistungen zu tragen haben, Renten ausbezahlt werden, andererseits nicht berufstätige. kinderlose Verwitwete statt einer permanenten Pension bloss noch eine einmalige Abfindung erhalten, die ihnen den Übergang ins Berufsleben zu erleichtern hätte.
Der Bundesrat war der Auffassung. die hier angemeldeten Wünsche könnten mit Rücksicht auf den inneren Zusammenhang des Rentensystems und auf die finanziellen Konsequenzen nicht unabhängig voneinander geprüft werden; deshalb bestand er auf einer Umwandlung der Motion in ein Postulat. Damit drang er freilich nicht durch. Der Rat entschied sich, allerdings bei geringer Präsenz. in den meisten Punkten für die Beibehaltung der Motionsform. Nur im Fall des gleichen Rentenalters für Mann und Frau entsprach er — mit 38 zu 35 Stimmen — dem Begehren der Exekutive [13].
Wie bereits 1977 schloss die AHV/IV-Rechnung auch 1978 mit einem Defizit ab, das sich gegenüber dem Vorjahr allerdings von 727 Mio auf 504 Mio Fr. verringerte; damit verminderte sich auch erneut das Kapital des AHV-Ausgleichsfonds [14]. Diese Tendenz, die sich den Voraussagen zufolge in den nächsten Jahren fortsetzen wird, stellt das Sozialversicherungswerk vor ernste Probleme. Die Schwierigkeiten werden dabei durch den flüssigen Kapitalmarkt und die niedrigen Zinsen noch verstärkt [15]. Trotz der finanziell alles andere als sorgenfreien Zukunftsaussichten wurden die AHV-Renten, dem mit der 9. AHV-Revision eingeführten Automatismus entsprechend, auf den 1. Januar 1980 angepasst, und zwar die einfache minimale Altersrente von 525 auf 550 Fr. und die maximale von 1050 auf 1100 Fr. [16].
Im Zuge der Überprüfung der Sozialwerke war 1976 vom EDI eine Kommission eingesetzt worden, die den Auftrag hatte, die Organisation und das Verfahren der Invalidenversicherung genauer unter die Lupe zu nehmen. Die 1978 veröffentlichten Postulate des von Prof. B. Lutz präsidierten Gremiums, die vor allem auf eine schärfere Bekämpfung der Missbräuche und eine vermehrte Beschränkung aufden Versicherungscharakter der IV zielten [17], riefen unter den Ínvaliden Empörung hervor [18]. Deren Proteste blieben nicht ungehört. So verzichtete die Regierung auf die Verkleinerung der die Berechtigung abklärenden IV-Kommissionen auf drei Personen, eine der zentralen Forderungen des Lutz-Berichtes [19].
 
[10] Vgl. SPJ, 1978, S. 127 f.
[11] Amtl. Bull NR, 1979, S. 1071 ff..
[12] Vgl. LNN, 12. 16.1.79: JdG, 59. 12.3.79; TLM, 71. 12.3.79; NZZ, 61. 14.3.79.
[13] Amtl. Bull. NR. 1979. S. 1071 ff.
[14] BBI, 1979, II, S. 472. Laut Gesch.ber., 1979, S. 74 wird für 1979 eine weitere Verminderung des Defizits erwartet.
[15] Geschäftsbericht des AHV-Ausgleichfonds 1978; vgl. dazu NZZ, 166. 20.7.79; 24 Heures, 167, 20.7.79; Kritik dazu: VO, 139. 24.7.79; Vr, 146. 2.8.79.
[16] NZZ, 155, 7.7.79; JdG, 160, 12.7.79. Über die Befreiung der AHV-Rentner von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung vgl. unten (Assurance-chômage).
[17] «Schlussbericht der Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der Invalidenversicherung», in ZAK (Zeitschrift für die Ausgleichskassen der AHV..., die IV-Kommissionen..., die Durchführungsstellen der Ergänzungsleistungen.... der Erwerbsersatzordnung... sowie der Familienzulagen), 1978, H. 7. S. 263 ff. Zum Auftrag vgl. auch Gesch.ber., 1976. S. 75.
[18] Lib., 124, 28.2.79: NZZ, 49, 28.2.79; TA, 49, 28.2.79; TW, 126. 1.6.79; Ww, 24, 18.6.79.
[19] Vgl. TA, 264, 13.11.79.