Année politique Suisse 1979 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Sprache
Die «inspiration zurichoise» und allgemein das wachsende wirtschaftliche Übergreifen der Deutschschweiz auf die Romandie, die mit Ausnahme von Nestlé keinen weitern Sitz eines Grossunternehmens mehr beherbergt und die in wirtschaftlichen Spitzenfunktionen kaum mehr vertreten ist, wurde von dieser zunehmend als bedrohlich oder sogar als Kolonisierung empfunden [18]. Dies umso mehr, als die deutsche Sprache in Parlament, Verwaltung und Wirtschaft weiter überhand nimmt. Die Auswirkungen des Postulates von Nationalrat Delamuraz (fdp, VD) scheinen unbedeutend gewesen zu sein, und angesichts der Tatsache, dass 85–95% der Texte der Bundeszentralverwaltung nur in deutscher Sprache vorliegen, kam die Befürchtung auf, dass diese eines Tages exklusiv deutschsprachig sein werde [19]. Welsche Parlamentarier versuchten daher mit verschiedenen Vorstössen, die Situation ihrer Minderheit wenigstens in Parlament und Kommissionen zu verbessern [20]. Nationalrat Delamuraz als eigentlicher Sprecher der sprachlichen Minorität bedauerte, dass sich der Graben zwischen Deutsch und Welsch in den vergangenen 25 Jahren verbreitert hat und dass das Studium der zweiten Landessprache zugunsten des Englischen als «nouvel espéranto fédéral» vernachlässigt werde. Insbesondere habe, im Gegensatz zu Freiburg, der Kanton Bern zwischen den beiden Landesteilen keine koordinierende Rolle gespielt. Diese Funktion wurde allerdings gerade von der Berner SVP zur Propagierung ihrer Bundesratskandidatur reklamiert [21]. Immerhin wurde in der Bundesstadt die französische Schule neu vom Kanton übernommen und durch Beiträge von Bund und Stadt Bern gesichert [22]. Dem vielzitierten Graben werden bisweilen auch positive Seiten abgewonnen : Für Adolf Muschg bietet die Vielfalt als Quelle realer Spannungen die Chance. das «Andere» wirklich zu akzeptieren und das Trennende leben zu lassen. Er warnt deshalb vor verbaler Harmonie. Die mancherorts angepriesenen «Schwyzertütsch»-Kurse stiessen häufig auf Ablehnung, da sie als Zeichen mangelnden Entgegenkommens interpretiert wurden, insbesondere in der italienischen Schweiz [23]. Dagegen scheint sich auch der Romand vermehrt auf die Eigenart seiner Sprache zu besinnen: Die «Association suisse des journalistes de langue française» bildete eine Kommission zur Verteidigung und zur Überwachung des guten Gebrauchs des «français romand» sowie zur Inventarisierung der nicht in den Wörterbüchern enthaltenen Termini der Romandie [24].
Besonders prekär ist die Situation des Rätoromanischen. Die Lia Rumantscha/Ligia Romontscha als Dachorganisation der romanischen Vereinigungen forderte die konsequente Anwendung des Territorialprinzips für die ganze Schweiz und damit die amtliche rätoromanische Publikation derjenigen Texte, die bei Vollziehung des Bundesrechts durch die Kantone wirksam sind. Eine Kommission aus ihren Reihen legte den Entwurf für ein bündnerisches Sprachengesetz vor, wobei deutlich wurde, wie sehr das Fehlen eines gemeinsamen romanischen Schriftidioms der Erhaltung der vierten Landessprache hinderlich ist [25].
 
[18] Vgl. NZZ, 185, 13.8.79; JdG. 213, 13.9.79; R. de Weck / M. Mabillard, «Welsche Ohnmacht - Welsche ohne Macht?», in Ww, 4, 24.1.79, S. 43 ff . ; D. von Burg / C. Farine, «Der Graben », in Ww, 49, 5.12.79, S. 45 ff. ; I. Camartin, «Assimilation als Problem sprachlicher und kultureller Minderheiten», in NZZ, 208, 8.9.79 ; dazu auch Alliance culturelle romande, L'Apport romand à la Confédération, Chéne-Bourg 1979.
[19] 24 Heures, 134, 12.6.79; Lib., 244, 24.7.79; TLM, 212, 31.7.79; JdG, 198-203, 25.-31.8.79; BT, 192, 18.8.79; vgl. SPJ, 1978. S. 146. Entsprechend empfindlich reagierte die Westschweizer Presse auf das mässige Wahlergebnis der welschen Bundesräte; vgl. oben. Teil I, 1c (Regierung).
[20] Motion Christinat (sp, GE) betreffend Simultanübersetzung in den Kommissionen (als Postulat überwiesen); Amtl. Bull. NR, 1979. S. 93 ff. Motionen Donzé (sp, GE) betreffend Einführung der Simultanübersetzung im Ständerat (Behandlung hängig): Verhandl. B.vers., 1979, IV. S. 63; Amtl. Bull. StR, 1979, S. 320; und betreffend Kompetenzerweiterung des zentralen Sprach- und Übersetzungsdienstes (überwiesen): Amtl. Bull. StR, 1979, S. 585 ff. Motion Crevoisier (psa. BE) betreffend amtliche Übersetzung und Veröffentlichung der Bundesgerichtsentscheide (abgelehnt): Amtl. Bull. NR, 1979, S. 1702 ff. Vgl. auch die beiden parlamentarischen Initiativen Crevoisiers: Verhandl. B. vers., 1979, IV, S. 17 ff.
[21] Delamuraz: 24 Heures, 245, 22.10.79. SVP: Bund, 256, 1.11.79; vgl. auch oben, Teil I, 1 c (Regierung).
[22] Vgl. oben, Teil I, 8a (Bildung und Forschung); vgl. SPJ, 1978, S. 146.
[23] Muschg: Brückenbauer, 16, 20.4.79. «Schwyzertütsch»-Kurse: NZZ, 226, 29.9.79; 276, 27.11.79 ; Bund, 233, 5.10.79; TA, 236, 11.10.79; vgl. SPJ, 1978, S. 146.
[24] 24 Heures, 99, 30.4.79; im weitern Sinne vgl. auch J. Reymond / M. Bossard, Le Patois vaudois, Lausanne 1979.
[25] Vgl. unten, Teil II, 6g; dazu SGT, 33, 9.2.79; LNN, 161, 14.7.79; NZZ, 252, 30.10.79; 287, 10.12.79; ferner SPJ, 1976, S. 149. Zur Stellung des Rätoromanischen vgl. auch R.H. Billigmeier, A Crisis in Swiss pluralism: the Romansh and their relations with the German- and Italian-Swiss in the perspective o/a millenium, The Hague 1979.