Année politique Suisse 1980 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Als führende Organisation der Arbeitnehmer feierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) 1980 sein 100jähriges Bestehen. Dies bot in einer breiteren Öffentlichkeit Anlass, Entwicklung und Bedeutung des Gewerkschaftswesens zu würdigen [18]. Der SGB begnügte sich freilich nicht mit einer Rückschau, sondern gab sich nach zwanzig Jahren erstmals wieder ein neues Arbeitsprogramm. Im Unterschied zu 1960/61, als Wachstum, Marktwirtschaft und Sozialpartnerschaft im Vordergrund standen, betonte man nunmehr Qualität vor Quantität, Humanisierung vor Technik, demokratische Kontrolle und Planung neben Wettbewerb sowie Mitbestimmung, ja Selbstverwaltung. Besondere Akzente des Programms bilden Vorbehalte gegenüber der Atomenergie, Forderungen nach völliger Gleichstellung der Frau und nach Befreiung der Medien von Wirtschaftsinteressen und gar Bereitschaft zu Wohlstandseinbussen zugunsten der Dritten Welt. Ein doppeltes Vernehmlassungsverfahren trug zur Profilierung des Dokuments bei, das von den einen als Bestätigung des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems, von andern als Zuwendung zu Planwirtschaft und Kollektivismus interpretiert wurde [19].
Man hörte freilich Klagen, dass die Programmrevision bei den Mitgliedern wenig Echo gefunden habe. Um den Dachverband in direkten Kontakt mit der Basis zu bringen, wurde im Januar die 1978 beschlossene SGB-Seite in den Organen der Unterverbände eingeführt. Fünf Teilorganisationen vereinbarten für 1981 die Herausgabe eines gemeinsamen Monatsmagazins [20]. Der Rückgang des Mitgliederbestandes, der nach dem Rezessionsboom von 1974–1976 eingesetzt hatte, konnte aufgefangen werden [21].
Die Ausrichtung auf immaterielle Werte im neuen Arbeitsprogramm, die auch die Festredner des Jubiläumskongresses, SGB-Präsident R. Müller und Bundesrat Ritschard, bestätigten, hinderte allerdings die Branchenverbände nicht am Einsatz für Lohnbegehren. So drohten die Delegierten des Föderativverbandes mit Demonstrationen, wenn die Landesregierung dem Bundespersonal die geforderte Reallohnerhöhung weiterhin verweigere [22]. Die neue Gewerkschaft Druck und Papier, die sich zu Beginn des Jahres aus den Organisationen der Typographen und der Buchbinder gebildet hatte, schritt für materielle wie immaterielle Forderungen sogar zum Streik, der allerdings zu inneren Spannungen und zu einem bloss geringen Erfolg führte [23].
In mehreren Gewerkschaftsverbänden kam es zu personellen Wechseln. Im SMUV wurde das Präsidium von G. Tschumi statutengemäss freigegeben und — diesmal kampflos — Nationalrat F. Reimann übertragen. Einen neuen Vorsitzenden erhielt auch der Föderativverband des Personals öffentlicher Verwaltungen und Betriebe: anstelle von Nationalrat W. Meier wurde erstmals seit mehr als fünf Jahrzehnten nicht ein Vertreter der Eisenbahner, sondern der Generalsekretär der PTT-Union, G. Eggenberger, und zwar gleichfalls oppositionslos, gewählt [24]. Eine Konfliktsituation führte in der Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier zur fristlosen Entlassung eines Zentralsekretärs wegen unkollegialen Verhaltens. Ein Unterstützungskomitee, dem auch bekannte Schriftsteller angehörten, setzte sich für eine schiedsgerichtliche Überprüfung des Falles ein [25].
Auch auf seiten der christlichen Gewerkschaften wurde auf Humanisierung der Arbeit und immaterielle Postulate Gewicht gelegt [26]. G. Casetti, der Präsident des Christlichnationalen Gewerkschaftsbundes (CNG), rief am 75jährigen Jubiläum des Chritlichen Metallarbeiter-Verbandes dazu auf, den Herausforderungen der Zukunft — Verflachung des Wachstums, Konkurrenz der Billiglohnländer, Energieverknappung, elektronische Technologie und Schrumpfung der Industrie gegenüber den Dienstleistungen — mit einer Steuerung des Wandels zu begegnen [27]. Trotz weitgehender sachlicher Übereinstimmung mit dem SGB fehlte es nicht an Spannungssymptomen; erwähnt sei neben dem rivalisierenden Vorgehen beim Kündigungsschutz die Tatsache, dass der SGB wohl die Unternehmerverbände, nicht aber die Minderheitsgewerkschaften zu seinem Jubiläumskongress einlud [28]. Der Landesverband freier Schweizer Arbeitnehmer wurde auch vom Europäischen Gewerkschaftsverband, dem er hatte beitreten wollen, als nichtrepräsentativ ferngehalten [29]. Einen Schulterschluss vollzogen drei Kaderverbände der Industrie und des Gewerbes; als «Kader-Dachorganisation» (KDO) wollen sie die Probleme und Interessen der Vorgesetzten und des Stabspersonals gegenüber Arbeitgebern, Gewerkschaften und Behörden stärker zur Geltung bringen [30].
top
P.G.
 
[18] Vgl. NZZ, 242, 17.10.80 ; 243, 18.10.80 ; Vr, 204, 17.10.80; 24 Heures, 243, 18.10.80 ; Ldb, 245, 22.10.80 ; TA, 246, 22.10.80; 247, 23.10.80; Bund, 249, 23.10.80; 250, 24.10.80; LNN, 248, 24.10.80; ferner P. Garbani / J. Schmid, Le syndicalisme suisse. Histoire politique de l'Union syndicale 1880-1980, Lausanne 1980; Un siècle d'Union syndicale suisse. 1880–1980 (réd. B. Weber), Fribourg 1980.
[19] Text in Gewerkschaftliche Rundschau. 73/1981, S. 33 ff.; vgl. Vorentwurf, ebenda, 72/1980, S. 33 ff.; ferner B. Hardmeier, ebenda, 72/1980, S. 73 ff.. Vemehmlassungsverfahren: NZZ, 206, 5.9.80; BaZ, 209, 6.9.80 ; 242, 15.10.80. Marktwirtschaft : Zeitdienst, 10, 14.3.80 ; SGT, 252, 27.10.80; NZZ, 261, 8.11.80. Planwirtschaft : SAZ, 10, 6.3.80; H. Allenspach in BaZ, 101, 30.4.80; vgl. auch NZZ, 80, 5.4.80; BaZ, 252, 27.10.80. Vgl. auch SPJ, 1979, S. 204.
[20] Wenig Echo: TA, 249, 25.10.80. SGB-Seite: SMUV-Zeitung, 3, 16.1.80; TW, 15, 19.1.80; vgl. SPJ, 1978, S. 180. Magazin: Vr, 160, 18.8.80.
[21] Mitgliederbestand des SGB Ende 1980: 459 852 (1979: 458 978 ; 1976: 474 725). Die Mitgliederzahl des CNG stieg stärker an (1980: 103 324; 1979: 101 350; 1976: 106 970). Vgl. dazu TW, 104, 6.5.81 bzw. Vat., 86, 13.4.81 ; Statistisches Jahrbuch der Schweiz. 1980, S. 391 f.; ferner SPJ, 1975, S. 181, Anm. 59.
[22] Reden am SGB-Kongress: Gewerkschaftliche Rundschau, 72/1980, S. 317 ff. Föderativverband: NZZ, 266, 14.11.80; vgl. SPJ, 1979, S. 137 f. Zur Kritik an der Gründung einer Vereinigung nichtdeutschsprachiger Bundesbeamter vgl. oben, Teil I, 8b (Sprache).
[23] Im Gegensatz zum Schweiz. Typographenbund und zum Schweiz. Buchbinder- und Kartonager-Verband blieb der Schweiz. Lithographenbund abseits (BaZ, 8, 10.I.80). Den Vorsitz übernahm der Präsident des Typographenbundes, E. Gerster; Ziel ist eine Industriegewerkschaft unter Einschluss der Lithographen und der Journalisten (TA, 10, 14.1.80; 24 Heures, 10, 14.1.80). Zum Streik vgl. BaZ, 260, 5.11.80; NZZ, 282, 3.12.80 sowie oben, Teil I, 7a (Conventions collectives de travail, Conflits de travail).
[24] SMUV : SGT, 276, 24.11.80; SMUV-Zeitung, 48, 26.11.80; vgl. dazu SPJ, 1976, S. 183. Föderativverband: NZZ, 266, 14.11.80; vgl. SPJ, 1972. S. 169. Vgl. auch NZZ, 254, 31.10.80.
[25] TA, 294, 17.12.80; Ww, 51. 17.12.80; Vr, 248, 18.12.80. Der Entlassene, P. Vonlanthen, war verantwortlich für Schulung, Werbung und Information.
[26] BaZ, 138, 16.6.80 (christliches PTT-Personal); Vat., 208, 8.9.80 (Christlicher Metallarbeiter-Verband).
[27] NZZ, 208, 8.9.80; Vat., 208, 8.9.80.
[28] Kündigungsschutz: vgl. oben, Teil I, 7a (Protection des travailleurs). SGB-Kongress: TA, 249, 25.10.80.
[29] BaZ (sda). 138, 16.6.80. SGB, CNG und SVEA gehören ihm bereits an (SPJ, 1973, S. 170; 1974, S. 179).
[30] NZZ (sda), 26, 1.2.80; Werkmeister, 86/1980, S. 103 f. Zur KDO schlossen sich der Schweiz. Verband technischer Betriebskader, der Schweiz. Baukader-Verband und die Graphia (leitende Angestellte der graphischen Industrie) zusammen, die alle der VSA angehören. Vgl. auch TA, 125, 2.6.80; LNN, 138, 17.6.80.