Année politique Suisse 1980 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
 
Landesverteidigung und Gesellschaft
Mit dem Zwischenbericht zur Sicherheitspolitik sowie mit den Richtlinien der Regierungspolitik für die neue Legislaturperiode und dem Bericht über den Einsatz der mechanisierten Verbände hatte der Bundesrat gleich dreimal Gelegenheit, sich einlässlicher zur Bedrohungslage, zu den Aufgaben der Landesverteidigung und zu den geplanten Vorkehren zur Behauptung der nationalen Existenz zu äussern. In Ergänzung entsprechender Darlegungen aus dem Jahre 1973, wo die Sicherheitspolitik in einem Bericht erstmals zur Konzeption der Gesamtverteidigung zusammengefasst worden war, lautete der wesentliche Befund des Zwischenberichtes, dass die sicherheitspolitische Lage seither nicht einfacher geworden ist. In verschiedenen Bereichen, wie beispielsweise der wirtschaftlichen Bedrohung, wurde eine Verschärfung der Situation festgestellt. Trotzdem hätten sich die geltenden Konzepte als tragfähige Grundlage für den Ausbau der strategischen Mittel auf den verschiedenen Gebieten der Sicherheitspolitik (Aussenpolitik, Armee, Zivilschutz, Landesversorgung, Aussenwirtschaftspolitik, Information, psychologische Abwehr, Staatsschutz und Führungsorgane) erwiesen. Immerhin seien die Vorbereitungen so weit gediehen, dass 1985 ein überarbeitetes Gesamtverteidigungskonzept vorgelegt werden könne. In den Regierungsrichtlinien wurde ausserdem Gewicht auf die zeitgemässe Weiterentwicklung der Armee nach dem 1975 veröffentlichten Leitbild für die 80er Jahre (Armeeleitbild 80) wie auch des Zivilschutzes und der Rechtsgrundlagen für die Landesversorgung gelegt. Obwohl die finanziellen Schwierigkeiten auch bei der militärischen Landesverteidigung Abstriche erzwängen, liessen sich mit den verfügbaren Mitteln die wichtigsten Vorhaben weitgehend verwirklichen [1]. Im Voranschlag für 1981 wurde hiefür im Sinne eines kontinuierlichen Wachstums eine Erhöhung der Ausgaben um 5,8% vorgesehen (3474,3 Mio Fr. oder 94,5% der budgetierten Gesamtausgaben für die Landesverteidigung). Dagegen wird sich im selben Jahr die seit 1977 deutlich sinkende Tendenz bei der zivilen Landesverteidigung fortsetzen, was hauptsächlich auf Minderausgaben beim Zivilschutz zurückzuführen ist [2].
Bereits die parlamentarische Debatte über die Regierungsrichtlinien führte zu einer Profilierung sowohl bürgerlicher als auch linker Positionen und damit zu einer Akzentuierung der freisinnig-sozialdemokratischen Polarisierung in der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung. Zusätzlich aufgeladen wurden diese Reaktionen durch aktuelle weltpolitische Entwicklungen, hauptsächlich die sowjetische Invasion Afghanistans. So kritisierten bürgerliche Votanten, dass der Bundesrat aus finanzpolitischen Gründen den vom EMD angemeldeten Investitionsbedarf für die Jahre 1980–83 von 8800 auf 7600 Mio Fr. herabsetzen will. Der Zürcher Freisinnige Friedrich, zugleich Präsident der nationalrätlichen Militärkommission, forderte jährlich 300 Mio Fr. Mehrausgaben zur Verwirklichung des Armeeleitbildes 80. Angesichts der veränderten internationalen Lage komme der Sicherheitspolitik die höchste Priorität zu, wobei allenfalls auch ein verspäteter Budgetausgleich in Kauf zu nehmen sei. SP-Präsident Hubacher (BS) dagegen betonte, erfolgreiche Sicherheitspolitik sei nicht nur eine Frage der Rüstung, sondern auch der sozialen Reformpolitik. Es gehe nicht an, auf dem zivilen Sektor zu sparen, aber bei der militärischen Sicherheit ein Wachstum zu fordern. Zusätzliche Ausgaben dürften auch nicht über Wehranleihen oder sonstige Sondermassnahmen finanziert werden, da eine Reprivatisierung der Armee nicht akzeptierbar wäre [3].
Schärfere Voten fielen in der umfassenden Sicherheitsdebatte über den auf ein freisinniges Postulat zurückgehenden bundesrätlichen Zwischenbericht zur Sicherheitspolitik, dessen Berechtigung vom sozialdemokratischen Fraktionssprecher in Frage gestellt wurde. Bei der allgemeinen Kriegshysterie müsse berücksichtigt werden, dass die Afghanistankrise in keinem direkten Zusammenhang mit Europa stehe. Waren die Sozialdemokraten der Auffassung, das Parlament habe der Armee entgegen den Klagen der Militärs die zur Erfüllung ihrer Aufgäbe erforderlichen Mittel stets gegeben, erachtete man bürgerlicherseits die schweizerische Verteidigungsbereitschaft als ungenügend. Mit Kriegspsychose habe es nichts zu tun, wenn eine tatsächliche Bedrohung durch die UdSSR festgestellt werden müsse, obschon stets von Entspannungspolitik die Rede gewesen sei. Der neue Vorsteher des EMD, Bundespräsident Chevallaz, nahm die Gelegenheit wahr, alternative Konzepte wie den Guerillakrieg abzulehnen, redete einer mobilen, aggressiven Verteidigung das Wort und wies den Vorwurf zurück, dass das Soziale der Rüstung geopfert worden sei. Mit 109:6 Stimmen verwarf hierauf der Nationalrat einen Antrag der äussersten Linken, vom Bericht ablehnend Kenntnis zu nehmen [4].
Vergleichsweise zahm nahm sich die parlamentarische Debatte zum bereits im Dezember 1979 vorgelegten Bericht über den Einsatz der mechanisierten Verbände aus. Nur vereinzelt wurde ein Überdenken der Grundlagen der Konzeption gefordert. Allgemein ging man mit dem Bundesrat einig, dass das geltende Abwehrkonzept auch unter den heutigen Umständen noch Gültigkeit habe. Die Einsatzdoktrin der Panzerverbände könne nach der Mängelbehebung beim Panzer 68 weiterhin erfüllt werden [5].
Sicherheitspolitische Alternativen wurden auch in anderen Kreisen lediglich sporadisch erwogen. Immerhin gab namentlich das Schicksal Afghanistans Anlass, das schweizerische Abwehrdispositiv grundsätzlicher zu erörtern. Der Schweizerische Zivilschutzverband sah in der zielstrebigen Unterwanderung des Staates mit anschliessender Machtübernahme durch die Sowjetunion eine nachträgliche Rechtfertigung des umstrittenen, 1969 veröffentlichten Zivilverteidigungsbuches (« zweite Form des Krieges»), und die Schweizerische Offiziersgesellschaft forderte eine der Bedrohung angemessene Ausrüstung der Armee. Verschiedene Wehrverantwortliche demonstrierten am Beispiel Afghanistan, dass die schweizerische Landesverteidigung weder mit einem gewaltlosen Widerstand noch mit einem auf den Kleinkrieg abgestützten Kampfkonzept zu bewerkstelligen sei. Das im Entstehen begriffene Armeeleitbild 90 halte demgegenüber am bisherigen Abwehrkonzept mit einem stufenweisen Ausbau der Armee fest. Im Hinblick auf den verschärften Kampf um die Verteilung der verfügbaren Mittel komme aber auch ein vollmechanisiertes Modell («Konzeption Stelzer») nicht in Frage. Bereits für den Vollausbau der bisherigen Konzeption sei für die Periode 1984–95 mit einem jährlichen Finanzbedarf von 2500–3000 Mio Fr. zu rechnen [6].
SP-Exponenten bemängelten demgegenüber den «Mechanisierungswahn», der der Schweiz eine «Grossarmee in Taschenformat» beschert habe, und forderten eine infanteristische, dezentralisierte Verteidigungsarmee. Afghanistan scheine für gewisse Kreise zum erwünschten Alibi zu werden; Entspannungspolitik dürfe aber nicht kurzschlüssiger Restauration des Kalten Krieges geopfert werden. Pazifistisch orientierte Stimmen erhoben ausserdem den Vorwurf, die Armee sei zur rein innenpolitischen, angeblich den Zusammenhalt fördernden «Schule der Nation» reduziert worden [7]. Was die Stimmbürger anbelangt, so zeigte eine wissenchaftliche Umfrage erneut, dass man am ehesten bei den Verteidigungsaufwendungen zu sparen wünscht. Unter den verschiedenen Aufgabenbereichen des Bundes war die Landesverteidigung der einzige, für den eine Mehrheit der Befragten grössere Sparanstrengungen forderte [8].
 
[1] Zwischenbericht: BBl, 1980, I, S. 355 ff.; vgl. auch Presse vom 30.1.80; SPJ, 1978, S. 47; 1979. S. 56. Richtlinien: BBl, 1980, I, S. 588 ff., insbes. S. 628 ff., 688 und 692. Mechanisierte Verbände: BBl, 1980, I, S. 426 ff. ; vgl. auch SPJ, 1979, S. 60. Vgl. ausserdem H. R. Kurz, « Das Militärjahr 1980 », in Der Fourier. 54/1980, S. 45 f..
[2] Botschaft des Bundesrates... zum Voranschlag...für das Jahr 1981,. S. 10* f., 106 und 110 ; vgl. auch den Zwischenbericht, op. cit., S. 390 f., sowie BBl, 1980, I, S. 741 f. und 745 ff. (Finanzplan 1981—83), ferner unten, Teil I, 5 (Plan financier, Budget de la Confédération). Vgl. überdies B. S. Frey, «Verteidigung in mikroökonomischer Betrachtung », in ASMZ. 146/1980, S. 398 ff. Über « Ungenutzte Sparmöglichkeiten im EMD» vgl. a.a.O., S. 93 f. sowie Interpellation Hubacher (sp, BS) in Verhandl. B. vers.. 1980, IV, S. 54 f. (Antwort BR : NZZ, 219, 20.9.80); Einfache Anfragen Bäumlin (sp. BE) und Crevoisier (psa, BE) in Amtl. Bull. NR, 1980, S. 401 und 1706.
[3] Amtl. Bull. NR, 1980. S. 65 ff., insbes. 99 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1980, S. 139 ff. ; vgl. auch TW, 56, 7.3.80 ; NZZ, 79, 3.4.80; sowie zu den Regierungsrichtlinien unten, Teil I, 1c (Regierung). Zu Wehranleihen und Rüstungssteuern vgl. Vat. (ddp), 4, 7.1.80 ; TA, 10, 14.1.80; Ww, 3, 16.1.80; Lib., 94, 24.1.80; L'Impact, mars 1980, S. 10 ff. (D. Brunner); SPJ, 1979, S. 57. Vgl. ferner eine von bürgerlichen Parlamentariern unterzeichnete Inseratenkampagne zugunsten der finanziellen Bedürfnisse der Armee (BaZ, 50. 28.2.80; 24 Heures, 50, 29.2.80).
[4] Amtl. Bull. NR, 1980. S. 713 ff. und Amtl. Bull. StR, 1980. S. 446 ff. Zu Stellungnahmen von BR Chevallaz vgl. auch BaZ, 82, 8.4.80; Bund, 85, 12.4.80; Lib., 35—38. 11.—14.11.80; 24 Heures, 302, 30.12.80 sowie SPJ, 1978. S. 47.
[5] Amtl. Bull. NR, 1980, S. 351 ff., insbes. 355 f. und 357 f. (kritische Voten von Widmer, Idu, ZH und Koller, cvp, AI); Amtl. Bull. StR, 1980, S. 231 ff.; vgl. auch Bund, 68, 21.3.80; SGT, 68, 21.3.80 sowie SPJ, 1979. S. 60. Zum Panzer 68 vgl. unten, Rüstungsbeschaffung. Vgl. überdies O. Pittet, Défense de la Suisse (Sonderdruck von 24 Heures), Lausanne 1980.
[6] Zivilschutzverband: NZZ (ddp), 26, 1.2.80; zum Zivilverteidigungsbuch, dessen Hauptautor und Verleger der unten erwähnte Nachrichtenoffizier A. Bachmann ist. vgl. NZZ, 153, 4.7.80 sowie insbes. SPJ, 1969, S. 53 f. Ofliziersgesellschaft: NZZ, 103, 5.5.80; vgl. auch LNN. 91, 19.4.80 (P. Sager); BaZ, 293, 13.12.80 (W. Wittmann); ASMZ, 146/1980, S. 251 ff. und 389. Wehrverantwortliche: H. Wildbolz in BaZ, 27, 2.2.80; H.–U. Ernst in Vat.. 31, 7.2.80 ; J. Zumstein in LNN, 112, 14.5.80; vgl. ausserdem Schweizer Monatshefte. 60/1980, S. 13 ff. (A. A. Stahel) und 51 ff. (G. Däniker); zum Vergleich mit Afghanistan vgl. BaZ, 114, 17.5.80; SGT, 137, 14.6.80 (R. Friedrich). Armeeleitbild 90: Bund, 126, 2.6.80; SGT, 126, 2.6.80; vgl. überdies TA, 53, 4.3.80; NZZ, 289. 11.12.80.
[7] SP: BaZ, 43, 20.2.80; TW, 56, 7.3.80 ; SP-Information, 77, 5.6.80; Vr, 121, 24.6.80 ; TA, 284.5.12.80; vgl. ferner NZZ, 215, 16.9.80. Pazifisten: Wieviel Sicherheit bietet unsere Armee?, hrsg. vom Schweiz. Friedensrat, Zürich 1980; vgl. auch EMD verhindert Friedensforschung, hrsg. vom Schweiz. Friedensrat, Zürich 1980. Zur Entspannungspolitik vgl. zudem A. Riklin, «Die strategische Lage: Zwei Perspektiven», in Schweizer Monatshefte. 60/1980, S. 919 ff.; vgl. überdies Beiträge zur Kriegsursachenforschung hrsg. von der Forschungsstelle für Politische Wissenschaft Universität Zürich, Zürich 1979.
[8] Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen, 30.1 1.80, S. 17 f ; vgl. auch SPJ, 1977. S. 48. In einer anderen Repräsentativumfrage wurde die Landesverteidigung hinsichtlich eines Zielkataloges schweizerischer Politik auf dem vorletzten Rang (vor UNO-Beitritt) plaziert (vgl. Unser Parlament 1973/83 und was das Volk von ihm erwartet. Sonderdruck des TA, Zürich 1980, S. 26 ff.); vgl. auch BaZ, 19, 23.1.80 und LNN, 18, 211.80, wo auf Grund einer anderen Umfrage gezeigt wird, dass nur 19% der Befragten vermehrte Anstrengungen für die Landsverteidigung befürworteten, obschon sie mehrheitlich unter dem Eindruck einer weltweit angewachsenen Kriegsgefahr standen. Zum relativ schwach ausgeprägten Bedrohungsbewusstsein der Schweizer trotz der Afghanistankrise vgl. oben. Teil I, 2 (Relations bilatérales, USSR).