Année politique Suisse 1980 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Wirtschaftsordnung
Impulse zum Überdenken des bestehenden Wirtschaftssystems gingen im Berichtsjahr weniger vom Entwurf zur Totalrevision der Bundesverfassung als von den Programmdiskussionen der beiden führenden Arbeitnehmerorganisationen SGB und SPS aus. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund gab sich ein Arbeitsprogramm für die achtziger Jahre, worin er sich, im Gegensatz zum bisher geltenden Konzept, wieder die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel setzt. Die angestrebte Wirtschaftsordnung ist gekennzeichnet durch die Existenz von demokratischen Entscheidungsmechanismen, die alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten einbeziehen. Der Schwerpunkt fuir die Politik der nächsten zehn Jahre soll deshalb bei der Einführung einer weitgehenden Mitbestimmung auf Unternehmensebene liegen. Noch radikaler sind die Ideen einer Arbeitsgruppe, welche die Vorarbeiten für ein Wirtschaftskonzept der Sozialdemokratischen Partei geleistet hat. Ihr Ziel ist die Verwirklichung einer zum Teil am jugoslawischen Beispiel inspirierten Selbstverwaltungswirtschaft, in welcher die Entscheidungsrechte gänzlich vom Besitz an Produktionsmitteln losgelöst sind. Als Voraussetzung für eine funktionierende Selbstverwaltung soll zudem eine Dezentralisierung der Wirtschaft erfolgen. Das Konzept der SP ist, anders als dasjenige des SGB, von den zuständigen Gremien der Partei noch nicht verabschiedet worden, sondern befindet sich in einer Art parteiinterner Vernehmlassung [2]. Dass die bürgerliche Seite an derartigen Zukunftsperspektiven wenig Gefallen findet, erstaunt nicht. Vertreter der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Parteien verlangen — soweit sie sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben — den Abbau von staatlichen Interventionen und die Übertragung bisher von der Öffentlichkeit erfüllter Aufgaben an private Unternehmen [3].
 
[2] SGB: Gewerkschaftliche Rundschau. 72/1980, S. 33 ff.; Rote Revue,. 59/1980, Nr. 12, S. 12 ff.; TA, 249, 25.10.80. SPS: Profil. 58/1979, S. 345 ff. und 59/1980, S. 12 ff. und 1041f.; TW, 101, 1.5.80; Wirtschaftskonzept und Selbstverwaltung, hrsg. vom Zentralsekretariat der SPS, 1980; vgl. auch F. Masnata, La volonté d'agir, Lausanne 1980. Siehe im weitem unten, Teil I, 7a (Participation), Teil III a (Sozialdemokratische Partei) und b (Arbeitnehmer). In die gleiche Richtung zielende Forderungen verfocht auch eine Oppositionsgruppe innerhalb des Migros-Konzerns (vgl. unten, Wettbewerb).
[3] L. von Planta, Grundbedingungen einer gesunden Wirtschaft, Zürich 1980; G. Winterberger, «Spannungen in der schweizerischen Innen- und Wirtschaftspolitik», in Schweizer Monatshefte, 60/1980, S. 195 ff.; F. Hahn, «Arbeitgeberpolitische Standpunkte in unserer Zeit », in SAZ. 23, 5.6.80; W. Wittmann, Die neuen Ausbeuter, Stuttgart 1980. lm Nationalrat unterstützten 85 Abgeordnete aus sämtlichen bürgerlichen Parteien eine Motion, welche den Bundesrat auffordert. Vorschläge zur Privatisierung von Staatsbetrieben zu machen ( Verhandl. B. vers., 1980, IV, S. 56). Vgl. auch oben, Teil I, 1a (Ausmass der Staatstätigkeit; Demokratisierung der Gesellschaft).