Année politique Suisse 1982 : Infrastruktur und Lebensraum / Erhaltung der Umwelt
Umweltpolitik
Mehr als ein Jahrzehnt nach der Aufnahme eines Artikels über den Umweltschutz in die Bundesverfassung machte sich das Parlament an die Konkretisierung dieses Anliegens. Die Volkskammer setzte sich als Prioritätsrat während sieben Verhandlungstagen mit dem neuen Umweltschutzgesetz auseinander. Dass siçh allein an der Eintretensdebatte 42 Redner beteiligten, mag allerdings nicht ausschliesslich auf die Umstrittenheit der Materie, sondern auch auf die Direktübertragung durch das Fernsehen zurückzuführen sein. Nur gerade die äusserste Linke (Herczog, poch, ZH) und Rechte (Oehen, na, BE) beantragten erfolglos die Rückweisung mit dem Auftrag, eine verschärfte Version vorzulegen. Die Ratsmehrheit beurteilte den Vorschlag der vorberatenden Kommission als politisch tragbaren Kompromiss und lehnte in der Folge sowohl die Aufnahme von wesentlich strengeren Bestimmungen als auch eine Verwässerung des Gesetzes ab. So sprach sich der Rat gegen die Erhebung von Lenkungsabgaben aus, welche den Verursachern von Umweltbelastungen aufzuerlegen wären. Dieses anerkanntermassen effiziente und systemkonforme Instrument soll gemäss Bundesrat Hürlimann in einer zweiten Phase eingeführt werden. Ebensowenig durchzusetzen vermochten sich aber auch die Abänderungsvorschläge einer der Industrie nahestehenden Parlamentariergruppe, als deren Wortführer sich Blocher (svp, ZH), Coutau (pl, GE), Eisenring (cvp, ZH), Früh (fdp, AR) und Tochon (cvp, GE) profilierten. So unterlag etwa der Antrag, Umweltschutzbestimmungen nach ihrer wirtschaftlichen Tragbarkeit auszurichten, der Erwähnung des allgemeineren Verhältnismässigkeitsprinzips. Die vom Freisinnigen Stucky (ZG) im Namen seiner Fraktion beantragte Streichung der Umweltverträglichkeitsprüfung vermochte ebenfalls nicht durchzudringen.
Keinen Erfolg hatte im weitern die Opposition gegen die
Einführung der Verbandsbeschwerde, welche anerkannten Umweltschutzorganisationen das Beschwerderecht gegen im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung getroffene Entscheide einräumt. Das vom Nationalrat in der Schlussabstimmung mit 119 : 24 Stimmen verabschiedete Gesetz — die Liberalen und einzelne Vertreter der andern bürgerlichen Parteien lehnten es als zu weitgehend ab — stellt eine etwas verschärfte Fassung des bundesrätlichen Entwurfs dar. Seine wesentlichen Elemente sind die Verankerung des Verursacher- und des Vorsorgeprinzips, die Begrenzung von Umweltbelastungen durch den Erlass von höchstzulässigen Emissions- und Immissionsgrenzwerten für die Bereiche Luft und Lärm, sowie die Regelung der Abfallentsorgung. Auf Antrag der vorberatenden Kommission fand ein zusätzlicher Abschnitt über den Schutz des Bodens vor ausserordentlichen Belastungen durch Schadstoffe Aufnahme. Im weitern beschloss das Parlament die Bildung einer beratenden Kommission für Umweltschutz und räumte dem EDI die Beschwerdeberechtigung gegen kantonale Verfügungen ein
[1].
In ersten Stellungnahmen erklärten sich Vertreter des Umweltschutzes vom vorliegenden Gesetz zwar nicht gerade begeistert, lehnten es aber auch nicht ab, da es doch gewisse Verbesserungen bringe. Ihrer Meinung nach handelt es sich um eine Minimallösung, die immerhin den Vorteil habe, politisch durchsetzbar zu sein, den Verfassungsauftrag jedoch nicht vollständig zu erfüllen vermöge
[2]. Für die Wirtschaft, welche von einschneidenden Bestimmungen eine Verteuerung, ja in gewissen Fällen gar eine Verhinderung der Produktion befürchtet, scheint der ausgehandelte Kompromiss ebenfalls gerade noch akzeptabel zu sein. Allerdings erhoffen sich ihre Interessenvertreter vom Stäinderat noch einige Retuschen. Insbesondere möchten sie die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Verbandsbeschwerde eliminiert sehen und verlangen die ausdrückliche Erwähnung des Kriteriums der wirtschaftlichen Tragbarkeit
[3].
Da die wesentlichen umweltschutzpolitischen Vorschriften in den Kompetenzbereich des Bundes fallen, kommt der Aufnahme eines Artikels über den Schutz der Umwelt in die Verfassung des Kantons Genf vorwiegend deklamatorische Bedeutung zu, was sich auch daran zeigte, dass ihm keine ernsthafte Opposition erwuchs
[4]. In den Basler Halbkantonen hatte die POCH Volksinitiativen für den vermehrten «Schutz von Boden, Luft und Wasser» eingereicht. Beiderorts taxierte die Regierung die Begehren als überflüssig, da damit zu rechnen sei, dass die geforderten Vorschriften ohnehin im eidgenössischen Umweltschutzgesetz enthalten sein werden
[5].
Dass die Zerstörung der Umwelt nicht vor Landesgrenzen haltmacht und eine wirksame Ursachenbekämpfung deshalb in internationalem Rahmen erfolgen muss, verdeutlicht in drastischer Weise das weltweit auftretende
Absterben von Nadelwäldern. Herbeigeführt werden diese Schäden mit grosser Wahrscheinlichkeit durch die Luftverunreinigung, wobei den schwefeldioxid- und stickstoffdioxidhaltigen Niederschlägen (sogenannter saurer Regen) eine besonders wichtige Rolle zugewiesen wird. Die Schadstoffe entstehen vor allem bei der Verbrennung von Erdöl oder Kohle in Kraftwerken, im Verkehr und zu Heizzwecken. Sie werden in der Luft zum Teil über weite Strecken transportiert und fern von ihrem Erzeugungsort abgelagert. Der Bundesrat beantragt dem Parlament die Ratifizierung eines 1979 in Genf vereinbarten internationalen Abkommens, dessen Ziel es ist, die Erforschung dieses Phänomens koordiniert voranzutreiben; der Erlass von für alle Staaten gültigen Emissionsgrenzwerten ist hingegen einstweilen nicht vorgesehen
[6].
[1] Verfassungsartikel: SPJ, 1971, S. 119 f. Gesetzesentwurf des Bundesrates: SPJ, 1979, S. 123 f.; BBl, 1979, II, S. 749 ff.; vgl. ebenfalls SPJ, 1981, S. 113. Ratsdebatte: Amtl. Bull. NR, 1982, S. 283 ff., 382 ff. und 436 ff.; Presse vom 12.-20.3.82. Zur Verbandsbeschwerde, welche in einer Reihe von Kantonen und auf Bundesebene im Bereich des Heimatschutzes bereits besteht, siehe auch TAM, 44, 6.11.82. Für eine sehr kritische Bestandesaufnahme des Umweltschutzes in der Schweiz vgl. auch K. Brandenberger et al., Das Märchen von der sauberen Schweiz, Basel 1982. Mehrere Themen mit umweltschutzpolitischem Inhalt werden in dieser Chronik in den entsprechenden Sachzusammenhängen behandelt, vgl. deshalb auch Teil I, 3 (Infrastrukturanlagen), 4c (Pflanzliche Produktion), 6a, 6b, 6c (Organisation du territoire) und Teil II, 4f.
[2] SGU-Bulletin, Sondernummer Mai, 1982 und Nr. 2, Juni 1982.
[3] wf, Dok., 11, 15.3.82 ; 12, 22.3.82. Zu den sich immer mehr herauskristallisierenden Gegensätzen zwischen Umweltschutz und Wirtschaft vgl. auch SPJ, 1981, S. 118.
[4] JdG, 38, 16.2.82; 55, 8.3.82 (55 685 Ja: 6222 Nein); siehe auch SPJ, 1981, S. 118.
[5] BaZ, 215, 15.9.82; 240, 14.10.82; 302, 27.12.82.
[6] BBl, 1982, III, S. 333 ff.; Bund, 154, 6.7.82; Ww, 49, 8.2.82. In Stockholm fand zu diesem Thema eine Ministertagung statt (BaZ, 148; 29.6.82).
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