Année politique Suisse 1983 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Nationalbewusstsein
Während die Bundesverfassungsrevision als Anlauf zu einer verbindlichen Neuordnung des Staates im Dickicht von Macht und Gewohnheit steckenzubleiben droht, hofft ein Kreis von Engagierten, das Volk für eine zeitgemässe Art nationaler Einkehr in Bewegung zu bringen: für das Jubiläum CH 91. Die 1982 von der Innerschweizer Regierungskonferenz gemeinsam mit dem Bundesrat eingesetzte Studienkommission einigte sich gegen Jahresende auf ein
Konzept, das die Traditionen der Zentenarfeiern und der Landesausstellungen in neuartiger Weise verbindet. Geplant ist für 1991 einerseits die Durchführung von Jubiläumsveranstaltungen im Raum zwischen Schwyz und dem Rütli. Anderseits sollen im ganzen Lande — «dezentral und demokratisch» — «thematische Ereignisse» zu den verschiedenen Grundbedürfnissen des Menschen entstehen und in je bestimmten Räumen der Innerschweiz ihre Darstellung finden. Eine vom Bund und den zentralschweizerischen Kantonen zu gründende Stiftung soll die Initiativen sichten, koordinieren und — soweit nötig — finanzieren. Wesentlich ist, dass von einer zentralen Grossausstellung mit besonderen Infrastrukturaufwendungen abgesehen wird — zum Schutze der Umwelt
[19].
Wenn auch in der Bevölkerung noch wenig Echo auf diese Vorbereitungen festzustellen ist
[20], so zeigt sich doch da und dort die Bereitschaft zur Mitwirkung
[21]. Insbesondere von Architekten wurden Ergänzungen zum Konzept vorgeschlagen, so der Einbezug der übrigen Länder Europas oder die Wiederaufnahme der in den fünfziger Jahren geäusserten Idee, eine neue Stadt zu bauen
[22].
Die Vielgestaltigkeit der Schweiz soll somit 1991 besonders betont werden. Dieser trotz aller grossräumigen Nivellierung weiterbestehende Wesenszug unseres Landes und unserer Nation ist in neuester Zeit vermehrt zum Thema der Sozialwissenschaft geworden. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Regionalprobleme in der Schweiz» haben Zürcher Soziologen die Verschiedenheiten zwischen den Regionen einerseits aufgrund struktureller Merkmale, anderseits aber auch mit Hilfe von Meinungsumfragen untersucht, um zugleich die kulturelle Vielfalt der Schweiz zu erfassen. Dabei haben sie die Verhältnisse zwischen den einzelnen Territorien als Ausdruck des Gefälles zwischen Zentren und Peripherien (Hinterland) gedeutet. Ergebnisse dieser Forschungen sind nicht nur in Fachschriften, sondern auch in populärwissenschaftlicher Form veröffentlicht worden
[23].
[19] Presse vom 17.12.83; vgl. auch Vat., 12.2.83; 17.11.83; NZZ, 16.11.83; LNN, 17.11.83; TAM, 19.11.83. Vgl. SPJ, 1982, S. 9. Präsident der Kommission war der frühere Zuger NR Alois Hürlimann (cvp).
[20] Einer in der 1. Jahreshälfte durchgeführten Meinungsumfrage zufolge empfindet die grosse Mehrheit eine Landesausstellung als sinnvoll; 70% wussten aber noch nichts von den Vorbereitungen (Presse vom 27.7.83).
[21] NZZ, 27.6.83 (Neue Helvetische Gesellschaft); 1.9.83 (Stadt Genf); Vat., 29.9.83 (Frauenverbände).
[22]Vorschlag einer Arbeitsgruppe Schweiz-Europa, jeder Kanton solle Bürger eines bestimmten europäischen Landes einladen (NZZ, 22.6.83); Vorschlag Werner Müllers, im Sinne der Schrift von L. Burckhardt / M. Frisch / M. Kutter, Achtung: die Schweiz, Basel 1955, eine kleine Musterstadt zu bauen (Ww, 26.1.83; Vat., 23.8.83; TLM, 31.8.83).
[23] Als Fachschrift ist vor allem H.-P. Meier-Dallach u.a., Zwischen Zentren und Hinterland. Probleme, Interessen und Identitäten im Querschnitt durch die Regionstypen der Schweiz, Diessenhofen 1982, zu nennen, als populärere Darstellung H.-P. Meier / M. Rosenmund, CH-Cement, Das Bild der Schweiz im Schweizervolk, Zürich 1982. Vgl. auch SPJ, 1980, S. 13 u. Anm. 30. Vgl. ferner die Darstellung eines französischen Geographen: A.-L. Sanguin, La Suisse, essai de géographie politique, Gap 1983, sowie die ideengeschichtlich orientierte Problematisierung des schweizerischen Nationalbewusstseins bei P. Vollmer, Nationalismus und politische Emanzipation, Bern 1983, S. 97 ff.
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