Année politique Suisse 1983 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Regierung
Die Landesregierung bereitete die Richtlinien für die neue Legislaturperiode 1983-1987 vor. Sie forderte die Departemente auf, einem eventuellen Abbau von Bundesaufgaben, der zeitlichen Streckung einzelner Vorhaben und der Möglichkeit, sie mit weniger Aufwand auszuführen, besondere Aufmerksamkeit zu schenken [3]. Anlässlich der Gespräche mit den Regierungsparteien im November stellte die Exekutive sieben Schwerpunkte für die neuen Richtlinien vor, versprach aber eine endgültige Formulierung erst auf den Beginn des neuen Jahres [4]. An eine Vereinbarung der Regierungsparteien über ihre Legislaturziele als Gegenstück zu den Richtlinien, wie sie 1971/72 zustande gekommen und seither jeweils wieder versucht worden war, konnte nicht ernstlich gedacht werden. Zwar forderte der Generalsekretär der SVP, M. Friedli, in einer vielbeachteten Stellungnahme einen Interessenausgleich für die anstehenden Sachprobleme des Landes, aber selbst er stellte fest, dass die vierteljährlichen Regierungsparteiengespräche immer mehr im Ritual erstarrten [5].
Die seit 1959 bestehende Zusammenarbeit der vier grossen Parteien in der Regierung des Bundesstaates geriet gegen Jahresende in eine ernste Krise. Es ist eine Eigenheit der schweizerischen Regierungsbildung, dass sie formell auf periodischen Majorzwahlen durch das Parlament beruht, ohne dass für die Personenauslese ein geregeltes zwischenparteiliches Verfahren besteht. So kommt es immer wieder vor, dass ein von einer Regierungspartei nominierter Kandidat in der Wahl unterliegt, da die Parlamentsmehrheit einen anderen Vertreter der betreffenden Partei vorzieht [6]. In den 24 Jahren seit Einführung der sogenannten «Zauberformel» hatte deswegen noch nie einer der vier Partner die Zusammenarbeit in Frage gestellt. Dies geschah jedoch bei den Gesamterneuerungswahlen vom 7. Dezember 1983.
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Wahlen
Spekulationen über mögliche Vakanzen wurden schon früh angestellt. Hatten doch im Vorjahr die Demissionäre Hürlimann und Honegger ihren gemeinsamen Schritt damit begründet, dass 1983 das gleichzeitige Ausscheiden von drei oder vier Bundesräten vermieden werden müsse. So begann man mit dem Rücktritt Willi Ritschards und Georges-André Chevallaz zu rechnen. Schon im Sommer zirkulierten zahlreiche Namen möglicher Nachfolger und rückten die politischen Spannungsfronten vermehrt ins öffentliche Blickfeld [7].
Anfang Oktober wurden die offiziellen Rücktrittserklärungen bekanntgegeben. So kam die Diskussion über die Nachfolge noch vor den Parlamentswahlen in Gang. Im Mittelpunkt stand die von der SP-Parteispitze begünstigte Kandidatur der Zürcher Nationalrätin Lilian Uchtenhagen, die wegen ihres erheirateten basellandschaftlichen Heimatscheins wählbar war. Auf freisinniger Seite galt der Waadtländer Staats- und Nationalrat Jean-Pascal Delamuraz als Favorit. Beide Anwärter waren aber innerhalb wie ausserhalb ihrer Parteien nicht unumstritten.
Besonderes Interesse erregte es, dass erstmals die Wahl einer Frau in die Landesregierung in greifbare Nähe rückte. Wie üblich spielten regionale Vertretungsansprüche eine Rolle. So machte man in Genf nachdrücklich geltend, dass man seit 1919 nicht mehr zum Zuge gekommen war. Die von Ritschard vertretene Nordwestschweiz schien ihrerseits ein Recht auf Berücksichtigung zu haben, desgleichen der seit 1979 bundesratslose Kanton Bern. Gegen Kandidaten, die in Zürich und in der Ostschweiz zu Hause waren, gab man zu bedenken, dass dieser Landesteil bereits drei von sieben Regierungssesseln besetzt hielt [8].
Die öffentliche Debatte drehte sich in einem ganz ungewohnten Mass um persönliche Eigenschaften der Hauptkandidaten. Lilian Uchtenhagen wurde in geradezu peinlicher Weise auf ihre Kommunikationsfähigkeit und seelische Belastbarkeit untersucht. Gegen Delamuraz wurde eine private «Affäre» aufgetischt, doch vermochte sich der robuste Vollblutpolitiker der Trübung seines Image besser zu erwehren als seine weibliche Kollegin.
Eine weitere emotionale Komponente erhielt der Kampf um die vakanten Bundesratssitze, als Willi Ritschard am 16. Oktober ganz unerwartet an einem Herzversagen starb. Aus den zahlreichen Würdigungen seiner volksverbundenen Persönlichkeit, seiner Leistungen und seiner «Vision einer besseren Schweiz» trat da und dort das Bild eines idealen Bundesrates hervor. Er hatte sich für seine Ablösung durch eine Frau ausgesprochen. Dass Lilian Uchtenhagen seine Wunschnachfolgerin gewesen sei, konnte jedoch nicht überzeugend belegt werden [9].
Sechs sozialdemokratische Kantonalparteien präsentierten den nationalen Entscheidungsgremien der SP ihre Kandidaten, bei denen die politische und die bürgerrechtliche Heimat nicht in allen Fällen übereinstimmte. Portiert wurden neben Lilian Uchtenhagen (ZH) die Nationalräte Hans Schmid (SG) und Kurt Meyer (BE), Ständerat Edi Belser (BL) sowie die Ex-Nationalräte Otto Stich (SO) und Arthur Schmid (AG). Sowohl im Parteivorstand wie in der Fraktion setzte sich Lilian Uchtenhagen durch, in der Fraktion allerdings erst im zweiten Wahlgang. Auf sie folgten Hans Schmid und Otto Stich; die übrigen waren schon nach der ersten Runde zurückgetreten [10]. Die Fraktion der FDP hatte unter drei kantonalen Kandidaturen auszuwählen. Der Waadtländer Delamuraz siegte — im dritten Wahlgang — vor dem neuen Genfer Ständerat Robert Ducret und dem ehemaligen Tessiner Nationalrat Pier Felice Barchi [11].
Die knappen Ergebnisse liessen die Wahlen in der Vereinigten Bundesversammlung noch völlig offen erscheinen. Die Nominierung der liberalen Genfer Ständerätin Monique Bauer neben Lilian Uchtenhagen durch die unabhängige und evangelische Fraktion blieb zwar blosse Demonstration; die Erkorene lehnte eine Kandidatur sogleich ab. Doch die sozialdemokratische Kandidatin begegnete in bürgerlichen Kreisen fortgesetztem Widerstand. Dieser verschärfte sich eher noch, als SPS-Präsident Hubacher in einem Interview drohte, seine Partei werde nicht jede Alternative akzeptieren; sollte die Wahl auf jemand fallen, der im internen Ausleseverfahren nur minimale Unterstützung erhalten habe, so werde ein Parteitag über den Rückzug aus der Landesregierung befinden. Freisinnigerseits wurde dies als Erpressungsversuch gewertet; die FDP schien demgegenüber der Durchsetzung ihrer offiziellen Nomination weniger Gewicht beizumessen [12].
Unmittelbar vor dem Wahltag verringerte sich die Zahl der in Betracht kommenden sozialdemokratischen Ausweichkandidaten. Der eher linksstehende, im parteiinternen Nominationsverfahren zweitplacierte Hans Schmid, ein sankt-gallisch/aargauischer Doppelbürger, sah sich ausgeschaltet, als das Büro der Vereinigten Bundesversammlung sich einem Gutachten anschloss, das von ihm schon vor der Wahl die Preisgabe seines sankt-gallischen Zweitbürgerrechts verlangte. Unter den im bürgerlichen Lager genehmeren Anwärtern erklärten Fritz Reimann, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, und — nach Presseberichten nicht ganz freiwillig — Bundeskanzler Buser ihren Verzicht. So einigten sich die Gegner Lilian Uchtenhagens in letzter Stunde auf Otto Stich [13]. Dieser erreichte denn auch im ersten Wahlgang knapp das absolute Mehr. Der offizielle freisinnige Kandidat Delamuraz drang ebenfalls im ersten Wahlgang durch ; eine sozialdemokratische «Retourkutsche» war nicht zu erkennen [14]. Die bisherigen Bundesräte wurden problemlos wiedergewählt; Pierre Aubert fand diesmal mehr Anerkennung als vier Jahre zuvor. Anstelle des verstorbenen Vizepräsidenten Willi Ritschard gelangte Leon Schlumpf ohne Vorstufe gleich ins Bundespräsidium [15].
Otto Stich wurde die Annahme der Wahl von seiner Partei zwar nicht verwehrt, doch diese ging daran, die Drohung ihres Präsidenten wahrzumachen. Der Vorstand berief auf den Februar 1984 einen ausserordentlichen Parteitag ein. Bereits vor Jahresende zeigte es sich, dass die Frage der Bundesratsbeteiligung in der SPS eine ernste Krise auslösen würde [16]. Der Neugewählte betonte schon vor seinem Amtsantritt seine Unabhängigkeit gegenüber der bürgerlichen Mehrheit. So sprach er sich für eine Lockerung des Kollegialitätsprinzips aus, damit ein Bundesrat nicht mehr zur Bekämpfung einer Volksinitiative seiner Partei verpflichtet sei [17].
Das ungewohnte Geschehen fand in den Pressekommentaren sehr unterschiedliche Erklärungen. Namentlich aus Frauenkreisen wurde die Nichtwahl Lilian Uchtenhagens als Ausdruck der fortgesetzten Diskriminierung des weiblichen Geschlechts gedeutet. Bürgerlicherseits machte man daraus einen Fall Hubacher; der SPS-Präsident habe mit seinen Druckversuchen gegenüber der Parlamentsmehrheit wie gegenüber eigenen Parteigenossen den Scherbenhaufen provoziert. Wissenschaftliche Beobachter verwiesen auf die Polarisierung zwischen der SP und ihren bürgerlichen Regierungspartnern, denen es ihre Mehrheitsstellung erlaube, die Ergebnisse der Konkordanz einseitig zu bestimmen. So seien 1982 die Kandidaten der FDP und der CVP trotz ihrer Rechtsorientierung durchgesetzt worden; der linksgerichteten SP-Vertreterin habe man jedoch nicht Gegenrecht gewährt [18]. Auch ausserhalb der SP begann man sich da und dort zu fragen, ob das System der Konkordanzdemokratie an ein Ende gelangt sei. Bescheidenere institutionelle Konsequenzen zog die SVP: in einer Motion beantragte sie eine Neuinterpretation der Verfassungsbestimmung, dass nicht mehr als ein Bundesrat aus dem gleichen Kanton stammen dürfe; anstelle des Heimatortes solle künftig der Wohnort für die Zugehörigkeit massgebend sein [19].
 
[3] SGT, 8.1.83.
[4] Schwerpunkte der neuen Regierungsrichtlinien: Finanzpolitik, Aufgabenneuverteilung, Sicherheitspolitik und Landesverteidigung, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Medienpolitik (NZZ, 18.11.83); vgl. ferner NZZ, 13.12.83; 16.12.83.
[5] TLM, 10.11.83; BaZ, 16.1 I.83 (M. Friedli) ; Bund, 26.11.83. Vgl. auch SPJ, 1981, S. 19 und unten, Teil lIl a (Einleitung).
[6] Schon bei der ersten Regierungsbildung nach der «Zauberformel» 1959 wurde der Sozialdemokrat Tschudi statt des von der SPS portierten Parteipräsidenten Bringolf gewählt (A. F. Reber, Der Weg zur Zauberformel, Bern 1979, S. 311 ff.). 1962 unterlag der offizielle konservativ-christlichsoziale Kandidat seinem Parteikollegen Bonvin (Konservativ-christlichsoziale Volkspartei der Schweiz, Jahrbuch, 1959-1963, S. 10 f.). 1973 wurden den offiziellen Kandidaten aller drei grossen BR-Parteien innerparteiliche Konkurrenten vorgezogen (SPJ, 1973, S. 18 f.).
[7] Vakanzen: BZ, 25.6.83 (Interview mit BR Ritschard); SZ, 22.9.83; TLM, 23.9.83; SGT, 1.10.83. Nachfolger und Spannungsfronten : BaZ, 11.6.83 ; SGT, 24.8.83 ; Suisse, 20.9.83; TA, 20.9.83 ; Schweizer Illustrierte, 39, 26.9.83; Vr, 30.9.83.
[8] Rücktrittserklärungen: Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1328. Diskussion um die Nachfolge: NZZ, 1.10.83; TA, 4.10.83; Ww, 40, 6.10.83; Blick, 8.10.83; Suisse, 8.10.83; TLM, 8.10.83. Genfer Anspruch: Suisse, 10.11.83; JdG, 16.11.83. Nordwestschweiz: BaZ, 5.11.83. Bern : TW, 3.11.83. Zürich und Ostschweiz: Ww, 47, 24.11.83. Über die ungleiche Berücksichtigung der Kantone vgl. Bund, 15. u. 16.11.83. Laut einer Meinungsumfrage wünschten 67% die Wahl einer Frau (TW, 9.11.83).
[9] Uchtenhagen: TA, 9.11.83; Vat., 9.11.83; Ww, 46, 17.11.83; BaZ, 30.11.83. Delamuraz: Vat., 15.11.83; Blick, 18.11.83; TLM, 19.11.83. Tod Ritschards: Presse vom 17.10.83; BaZ, 20.10.83; Presse vom 21.10.83; vgl. auch Willi Ritschard, Arbeiter — Gewerkschafter — Sozialdemokrat — Bundesrat, hg. v. P. Hablützel u. a., Hägendorf 1983. Ritschards Empfehlung: SZ, 5.11.83.
[10] Kantonale Nominationen: Presse vom 15.10.83 (H. Schmid), 1.11.83 (Stich), 3.11.83 (Meyer), 5.1 1.83 (Belser), 7.11.83 (A. Schmid) und 9.11.83 (Uchtenhagen). Ergebnisse in der SP-Fraktion (2. Wahlgang): Uchtenhagen 31, H. Schmid 22, Stich 8 Stimmen (TW, 14.11.83).
[11] Kantonale Nominationen: Presse vom 4.11.83 (Delamuraz), 9.11.83 (Ducret) und 15.11.83 (Barchi). Ergebnisse in der FDP-Fraktion (3. Wahlgang): Delamuraz 33, Ducret 26, Barchi 6 Stimmen (Presse vom 29.11.83).
[12] LdU/EVP-Nomination: Presse vom 1.12.83. Hubacher: TA; 19.11.83; vgl. auch Wir Brückenbauer, 2.12.83. Erpressungsversuch: NZZ, 21.11.83: AT, 26.11.83; SGT, 28.11.83. FDP-Nomination: Bund, 29.11..83; TLM, 29.11.83.
[13] Während ein Gutachten des Bundesamtes für Justiz einen Bürgerrechtsverzicht erst vor Amtsantritt verlangte, hielt ein zweites aus der Hand des Berner Staatsrechtlers J. P. Müller einen Entscheid vor der Wahl für erforderlich, den H. Schmid jedoch ablehnte (AT, 6.12.83; TA, 6.12.83; SGT, 8.12.83). Reimann: Presse vom 6.12.83. Buser: Presse vom 7.12.83; TA, 8.12.83; LNN, 9.12.83; BaZ,10.12.83. Stich: NZZ, 7.12.83; 8.12.83; TA, 7.12.83; 8.12.83; 9.12.83; vgl. auch Ww, 50, 15.12.83.
[14] Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1891 ff. Stich erhielt 124 Stimmen, Uchtenhagen 96, Delamuraz 130, Ducret 53. Vgl. Presse vom 8.12.83 ; zur Wahl Delamuraz' insbes. TA, 8.12.83. Ein Antrag der LdU/EVP-Fraktion, H. Schmid wählbar zu erklären und seinen Verzicht auf das St. Galler Bürgerrecht erst vor dem Amtsantritt zu verlangen, unterlag.
[15] Bisherige BR: Furgler 198 Stimmen, Aubert 151, Schlumpf 189, Egli 185, Friedrich 175 (vgl. SPJ, 1979, S. 24). Bundespräsident Aubert hatte zwar am 14.10. vor dem Kongress der Gewerkschaft Bau und Holz eine kämpferische Rede gehalten, die in bürgerlichen Kreisen Unmut auslöste, doch fand dies wegen des unmittelbar darauf folgenden Todes von BR Ritschard nur beschränkte Beachtung; vgl. BaZ, 15.10.83; JdG, 20.10.83; Lib., 22.10.83; ferner Ww, 46, 17.11.83; TLM, 18.11.83.
[16] Stich stellte sich vor Annahme der Wahl der Fraktion zu einem Gespräch (Bund, 8.12.83; Vr, 8.12.83). Parteitag: Presse vom 12. u. 14.12.83. Vgl. unten, Teil IIIa (Parti socialiste).
[17] TA, 19.12.83. Der BR teilte Stich das EFD und Delamuraz das EMD zu (Presse vom 20.12.83).
[18] Diskriminierung der Frau : 24 Heures, 9.12.83 ; vgl. dagegen NR Eva Segmüller (cvp, SG) in SGT, 10.12.83. Fall Hubacher: BaZ, 8.12.83; Bund, 8.12.83; NZZ, 10.12.83. Bürgerliche Mehrheitsstellung: BZ, 8.12.83 (P. Gilg) ; TA, 13.1.84 (E. Gruner); vgl. SPJ, 1982, S. 15 f. Vgl. auch SGT, 8.12.83 (L. Neidhart); TA, 10.12.83 ; JdG, 12.12.83; R. Reich in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 3 ff.
[19] Konkordanzdemokratie; vgl. Ww, 51, 22.12.83. SVP-Motion: Verhandl. B. vers., 1983, V, S. 28.