Année politique Suisse 1983 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
 
Dienstverweigerung
Über die grundlegenden Einstellungen zur Armee ergab eine vom EMD in Auftrag gegebene Untersuchung, dass die militärischen Institutionen bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung ein mittleres bis gutes Image haben. Abweichungen davon sind bei den Jugendlichen und bei der französisch- und italienischsprechenden Bevölkerung konzentriert. Besonders anerkannt werden die Qualität der Ausbildung und der Ausrüstung, während gegenüber den militärischen Führungskräften eine gewisse Reserve besteht. Kritik richtet sich gegen die Armeeausgaben: trotz verbreiteter Unkenntnis über den genauen Umfang finden zwei von drei Bürgern und Bürgerinnen, die gegenwärtigen Aufwendungen seien zu umfangreich [28]. Kritisches Aufsehen erregten einige Unfälle mit teilweise tödlichem Ausgang, welche durch Blindgänger, die im Gebirge liegen geblieben waren, verursacht wurden [29].
Nur marginal war die Unterstützung eines generellen Antimilitarismus. In einem Buch, das H.A. Pestalozzi mit Beiträgen gesellschaftskritischer Intellektueller herausgegeben hatte, setzten die grundsätzlichen Armeegegner die Debatte über die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung aus den 70er Jahren fort. Bereits 1982 war die «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» (GSoA) mit der Begründung, im Zeitalter der Atomwaffen habe das Militär keine dissuasive Wirkung mehr, für die Abschaffung der Armee gingetreten. Damit hatte sie ein Anliegen, das ursprünglich von den Jungsozialisten ausgegangen war, in eine weitere Öffentlichkeit tragen wollen. Das von ihr erwogene Projekt einer Volksinitiative begegnete jedoch weiterhin grossen Widerständen. Vom sympathisierenden Publizisten R. Brodmann wurde sie — allerdings ohne eigentlichen Erfolg — aufgefordert, die Abschaffungsidee durch eine ausformulierte Alternative im Sinne einer. «Sozialen Verteidigung» oder einer internationalen Friedensarbeit zu erweitern [30].
Die Zahl der Verurteilungen wegen Dienstverweigerung erreichte 1983 mit 745 einen absoluten Höchststand und setzte die seit 1980 steigende Tendenz (1982: 729; 1981: 593; 1980: 354) fort. Nach den offiziellen Kategorien nahm die Verweigerung aus privaten Motiven wie Trotz und Unlust, aber auch aus Angst vor Gefahren und Unterordnung zu, während die Fälle aus ideellen Gründen religiöser, ethischer oder politischer Art stagnierten. Auch die Verweigerung von Kaderschulen wurde etwas häufiger. Von den rückläufigen Gesuchen für einen waffenlosen Dienst wurden 108 (1982: 223) bewilligt. Besondere Aufmerksamkeit erregten einige Urteile des Divisionsgerichts 8, in denen exemplarisch hohe Strafen verhängt wurden, die jedoch vor Appellationsgericht nicht alle eine Bestätigung fanden. Versuche für eine umfassende Erklärung der Dienstverweigerung wiesen auf die im europäischen Vergleich kleine Zahl hin und brachten die langfristige Zunahme mit tiefgreifenden Veränderungen der Wertstrukturen und Verhaltensweisen in den westlichen Gesellschaften seit Mitte der 60er Jahre in Zusammenhang. Bei den heutigen Jugendgenerationen seien der Wunsch nach individueller Autonomie gegenüber Ansprüchen gesellschaftlicher Institutionen sowie die verstärkte Bereitschaft zu ihrer Durchsetzung kennzeichnend [31].
Weniger durch eine Ursachenanalyse als durch die Suche nach Problemlösungen war die parlamentarische Debatte über die « Volksinitiative für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» geprägt [32]. Wie ihre vorberatende Kommission schloss sich die kleine Kammer — mit 33:6 Stimmen — der ablehnenden Botschaft des Bundesrates an. Für die fast einhellig ablehnend votierende bürgerliche Ratsmehrheit war mit dem Anliegen der Initianten die allgemeine Wehrpflicht in Frage gestellt. Sie befürchtete, die von der Initiative ermöglichte Wahl zwischen Militär- und Zivildienst werde die Armee schwächen. Überdies nahm sie an der friedenspolitischen Umschreibung der Zwecke Anstoss. Vorab die sozialdemokratischen Ständeräte vertraten, von Menschenrechtsüberlegungen ausgehend, den entgegengesetzten Standpunkt. Sie betonten, mit einem Zivildienst könnte man einer ernstzunehmenden Minderheit Gerechtigkeit widerfahren lassen; einzelne plädierten für die Ausarbeitung eines formellen Gegenvorschlages. Die Mehrheit der Standesvertreter verwies jedoch auf den waffenlosen Dienst als akzeptable Alternative [33].
Den Sozialdemokraten und der unabhängigen und evangelischen Fraktion genügte das Verharren im Status quo nicht. Sie drangen aber in der vorberatenden Kommission der grossen Kammer mit ihren Vorschlägen nicht durch. Darauf entstand in der Öffentlichkeit eine ausgedehnte und teilweise unkonventionelle Kontroverse. Auf Anregung von Parlamentariern unternahm es der Schweizerische Evangelische Kirchenbund, einen politisch breiter abgestützten Vermittlungsvorschlag auf der Basis eines verschärften Tatbeweises und eines enger gefassten Zivildienstzweckes vorzuschlagen, um der ständerätlichen Kritik entgegenzukommen und den Initianten den Rückzug zu ermöglichen. Mit ihrer Unterschrift unter einen Appell zum 1. August unterstützten 187 Offiziere die Bemühungen für einen Zivildienst im Sinne der Initiative, was die Offiziersgesellschaft zu heftigen Reaktionen bewog. Gleichzeitig vertrat Generalstabschef J. Zumstein (lie ablehnende Haltung der Behörden und der Armee zu beiden Projekten, während der frühere Ausbildungschef H. Wildbolz für den kirchlich lancierten Gegenvorschlag eintrat [34]. Dieser ausserparlamentarische Druck bewog die nationalrätliche Kommission, mit knappem Mehr auf ihren Entscheid zurückzukommen und einen Vermittlungsvorschlag — freilich mit dem Zusatz, eine Zivildienstleistung solle im Rahmen der Gesamtverteidigung erfolgen — als eigenen Gegenentwurf dem Rat zu unterbreiten. Mit ähnlichen Argumenten wie im Ständerat wandten sich jedoch sämtliche bürgerlichen Fraktionen gegen die Initiative und beide Alternativen. Diese wurden von den Sozialdemokraten, dem Landesring und der Evangelischen Volkspartei, jene von der äussern Linken unterstützt. Mit knappem Mehr beschloss der Rat, dem Volk keinen Gegenvorschlag zu unterbreiten, und mit 104 : 50 Stimmen empfahlen die Volksvertreter die Initiative zur Ablehnung. Einzig eine von Eva Segmüller (cvp, SG) angeregte Motion, welche für Verweigerer aus Gewissensgründen eine «Entkriminalisierung» fordert, fand im Nationalrat Zustimmung [35]. In den Medien wurde das Verhalten des Parlaments ungewohnt scharf kritisiert. Von «mangelnder Kompromissbereitschaft», «verweigerter Diskussion» und «Holzhacker-Methoden» war die Rede; andere, vorab der FDP nahestehende Zeitungen waren mit der kompromisslosen Haltung des Parlamentes zufrieden [36]. Die Initianten selbst versuchten mit einem nationalen Zivildienst-Tag die Nützlichkeit ihrer Arbeit gegenüber der Gefängnisstrafe zu beweisen, um so die öffentliche Meinung doch noch von ihren Anliegen zu überzeugen [37].
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C.L.
 
[28] DMF, Etude d'image du Département militaire fédéral et de l'armée, Lausanne 1983; Presse vom 12.3.83. Grundsätzliches: K. Haltiner, «Die Armee vor der Herausforderung des Wertwandels», in 150 Jahre Schweizerische Offiziersgesellschaft 1833-1983, Sondernummer ASMZ, 1983.
[29] Presse vom 22.7.83 und 28.8.83. Reaktionen des EMD: TA, 30.8.83; Presse vom 10.9.83.
[30] H.A. Pestalozzi, Rettet die Schweiz— schafft die Armee ab, Bern 1982. Vgl. auch BZ, 15.9.83. Zur indirekten Kritik: D. Frei, Friedenssicherung durch Gewaltverzicht? Eine kritische Überprüfung alternativer Verteidigungskonzepte, Bern 1983. Zur Armee-Abschaffung: A. Gross, «Initiative zur Abschaffung der Armee?», in Neue Wege, 75/1981, S. 280 ff. Diskussion der GSoA: GSoA-Info, Nr. 1 u. 2, 1983; Friedenszeitung, Nr.19, Febr. 1983; Wochen-Zeitung, 31, 5.8.83. Einstellung der Bevölkerung: Ww, 3, 24.1.83. Generell zur Gewaltthematik: Unsere tägliche Gewalt, hg. von den Frauen für den Frieden, Basel 1983.
[31] Verweigererzahlen: Presse vom 24.1.84; vgl. auch SPJ, 1982, S. 48. Interpretationen: NZZ, 22.2.84; Friedenszeitung, Nr. 20, März 1983; Militärverweigerer-Report, hg. von der Militärverweigerer-Beratung, Bern 1984. Divisionsgericht 8: Friedenszeitung, Nr. 19, Febr. 1983; Vr, 24.11.83.
[32] Vgl. auch SPJ, 1982, S. 48 f.
[33] StR-Kommission: Presse vom 26.1.83. StR-Debatte: Amtl. Bull. StR, 1982, S. 69 ff., 585; Presse vom 2.3.83.
[34] NR-Kommission: Presse vom 20.4.83. Evangelischer Kirchenbund: NZZ, 23.6.83; vgl. auch « Dienstverweigerung und Zivildienst», in SAMS-Informationen, 7/1983, Nr. 2. Stellungnahme von Offizieren: Presse vom 2.8.83.
[35] NR-Kommission: Presse vom 27.8.83. NR-Debatte: Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1221 ff.; S. 1555. Motion Segmüller: Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1252.
[36] Presse vom 27. und 28.9.83.
[37] Vr, 30.9.83; Presse vom 3.10.83.