Année politique Suisse 1983 : Infrastruktur und Lebensraum / Erhaltung der Umwelt
 
Umweltpolitik
Zeitlich und räumlich gehäuftes, beschleunigtes Absterben von Weiss- und Rottannen sowie von Föhren waren 1983 ein deutliches Zeichen dafür, dass das Waldsterben als gegenwärtig bedeutendste Umweltbedrohung [1] auch die Schweiz erfasst hat. Besonders in den Kantonen des Mittellandes kannte der Prozess eine dramatische Beschleunigung. Innert Jahresfrist waren 25% der Weisstannen eingegangen und je nach Baumart und Region bis zur Hälfte der Bäume von Krankheiten befallen worden. Auch in einigen Alpentälern musste ein schlechter Zustand bei Schutzwäldern beklagt werden. Ende Jahr waren gesamtschweizerisch 4% der rund 250 Mio Bäume absterbend; weitere 14% waren angeschlagen [2].
Selbst Sachverständige waren vom Ausmass des Waldsterbens überrascht [3]. Erste Ursachenanalysen ergaben mehrheitlich, dass die Krankheit nicht primär auf einen Befall durch Parasiten wie den Borkenkäfer zurückgeführt werden kann. Bekannte und epidemische Infektionserscheinungen erwiesen sich ebensowenig wie grossklimatische Veränderungen als erklärungskräftig. Die Eidgenössische Anstalt für das forstliche Versuchswesen wie auch das Bundesamt für Forstwesen lokalisierten den zentralen Grund in der verschlechterten Luft-, Wasser- und Bodenzusammensetzung und fassten das Waldsterben als Reaktion des Ökosystems auf die veränderten Lebensgrundlagen auf. Die grösste Gefahr wurde in der Destabilisierung des natürlichen Gleichgewichts vermutet, weil diese durch Rückkoppelung verstärkt wird. Von ihr werden in Zukunft nicht nur der Wald, sondern auch die ganze Pflanzen- und Tierwelt sowie die Holzwirtschaft betroffen sein [4].
An möglichen politischen Massnahmen gegen das Waldsterben wurden vorerst die Verminderung von Schadstoffen in der Luft, die Erschliessung und Aufforstung geschädigter Wälder sowie eine umfassende wissenschaftliche Beobachtung und Analyse der Krankheitssymptome genannt. Im Nationalrat fand kurz vor Ende der Legislaturperiode eine ausführliche Debatte zum Waldsterben statt, in deren Verlauf nicht weniger als 17 persönliche Vorstösse begründet wurden. Schliesslich wurden Motionen der SVP- und der CVP-Fraktion für eine bessere Erfassung der Wälder respektive eine laufende Berichterstattung über die Schäden überwiesen [5]. Noch im Berichtsjahr wurde an den Arbeiten für die landesweite Waldbeobachtung unter dem Namen «Sanasilva» begonnen [6]. Als Antwort auf das beängstigende Phänomen stellte Bundesrat A. Egli ein umfangreiches und abgestimmtes Massnahmenpaket für das folgende Jahr in Aussicht [7]. Weitergehende Forderungen erhoben die Umweltorganisationen in einem Sofortprogramm zur Rettung des Waldes. An kurzfristigen Massnahmen wurde hier unter anderem verlangt, die Höchstgeschwindigkeiten auf den Strassen auf 100 bzw. 80 km/h zu senken, umweltfreundliche Tarife bei den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fördern, einen «abgasfreien» Bettag einzuführen und aus den Treibstoffzöllen Mittel für den Umweltschutz zur Verfügung zu stellen. Die LdU/EVP-Fraktion veröffentlichte ein «Grün-Buch», in dem sie einen Teil der Forderungen des Sofortprogramms übernahm und insbesondere durch den Vorschlag ergänzte, mit einer eidgenössischen Motorfahrzeugsteuer sei jeder Halter eines Personenwagens zum automatischen Bezug eines Generalabonnements der SBB zu verpflichten. Dadurch würde die verminderte Nutzung des Autos und das Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr forciert. 25 Rechtsprofessoren der Zürcher Universität stellten noch vor Jahresende mit einem Gutachten fest, dringende Schritte zur Rettung des Waldes könnten über das Notrecht eingeleitet werden [8].
Die Meldungen über den aktuellen Zustand der Umwelt haben zu einer weiteren Politisierung dieses Bereiches geführt. Umfangmässig konnte bei der Gesamtbevölkerung zwar kaum eine Zunahme des generellen Umweltbewusstseins verzeichnet werden: Ahnlich wie vier Jahre zuvor gaben 1983 zwei von drei Schweizern an, der Umweltschutz gehöre zu den dringenden Gegenwartsproblemen [9]. Dagegen konnten ein spürbarer Druck auf das konkrete Verhalten im Alltag sowie eine Radikalisierung und Verlagerung zu ausserinstitutionellen Aktivitäten festgestellt werden [10]. Sozialpsychologisch ansetzende Deutungen vermuteten sogar, dass — analog zur «Verteilungsfrage» während den Jahren des Wirtschaftswachstums — nun dem Umweltbewusstsein im Zusammenhang mit der Suche nach alternativen Lebensweisen eine generationenprägende Rolle zukommt [11].
Hauptpunkt der gesetzgeberischen Tätigkeit auf nationaler Ebene war die Beschlussfassung über das Umweltschutzgesetz. Damit wurde die seit der Annahme des Umweltschutzartikels im Jahre 1971 bestehende Gesetzeslücke geschlossen [12]. Gegenüber dem Beschluss der Volkskammer vom Vorjahr widersetzte sich der Ständerat vorerst einer institutionalisierten Verbands-, Behörden- und Gemeindebeschwerdemöglichkeit. Von Unternehmerseite wurde dabei eine mangelnde Legitimierung der bestehenden Umweltorganisationen ins Feld geführt. Vertreter aus Randregionen fochten mit föderalistischen Argumenten gegen Eingriffsrechte nationaler Organisationen [13]. Die durch das Waldsterben sensibilisierte Offentlichkeit reagierte jedoch heftig auf diesen Versuch, das Umweltschutzgesetz zu verwässern. Zur Sicherung der Beschwerdemöglichkeiten erwogen die Sozialdemokraten, eine Umweltschutzinitiative zu lancieren. Die betroffenen Umweltorganisationen stellten ihrerseits ein Referendum in Aussicht [14]. Im Differenzbereinigungsverfahren bekräftigte jedoch der Nationalrat seinen früheren Entscheid. Unter Namensaufruf beschloss er mit 141: 38 Stimmen eindrücklich, an den Beschwerderechten festzuhalten, und veranlasste damit den Ständerat zum Nachgeben im letzten strittigen Hauptpunkt [15].
In den Schlussabstimmungen genehmigten beide Kammern oppositionslos das neue Gesetz. Es fordert den Schutz des Menschen und der Umwelt. Anfallende Schäden sollen durch den Verursacher gedeckt werden. Feste Anlagen werden in Zukunft einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen. Beschwerden können von Umweltverbänden mit einer gewissen Aktivitätsdauer und von verschiedenen Behörden eingereicht werden. — In ersten Gesamtbeurteilungen akzeptierten die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz (SGU), der Schweizerische Bund für Naturschutz (SNB) und der World Wildlife Fund (WWF) das erreichte Resultat als ein Minimum. Sie kritisierten, dass sich das Gesetz weitgehend auf den Immissionsschutz beschränke. Seine Griffigkeit werde sich in den bundesrätlichen Verordnungen erweisen müssen. Von Arbeitgeberseite wurde das neu geschaffene Instrument als epochemachend gewürdigt. Die ursprünglich bekämpfte Umweltverträglichkeitsklausel wurde als nützliche Präventivmassnahme hervorgehoben. Bedenken blieben dagegen beim Beschwerderecht der Umweltvereinigungen bestehen. Für die folgenden Verordnungen wünschten sie, dass sie vom Prinzip der Verhältnismässigkeit geleitet sein würden [16].
 
[1] Allgemeiner Überblick zum Waldsterben: C. Bosch, Die sterbenden Wälder, München 1983. Für die Schweiz: F. A. Schweingruber (Hg.), Eine jahrringanalytische Studie zum Nadelbaumsterben in der Schweiz, Birmensdorf 1983 ; U. Hugentobler / H. Stricker (Hg.), Thurgauer Wald—Waldsterben, Frauenfeld 1983 ; vgl. auch SPJ, 1982, S. 115. Zum möglichen «Treibhauseffekt» infolge Vermehrung von Kohlendioxid als weiterer umfassender Umweltbedrohung vgl. NZZ, 27.4.83; TW, 23.7.83.
[2] H. F. Schwarzenbach, Das Waldsterben als politische Herausforderung, hg. von der Eidg. Anstalt für das forstliche Versuchswesen, Birmensdorf 1983, sowie Das Waldsterben in der Schweiz, Eine Dokumentation des Bundesamtes für Forstwesen, 1984.
[3] Erste Diskussionen unter dem Begriff «Waldsterben» drehten sich um Schäden in der BRD (Vr, 27.5.83; TW, 27.7.83). In den Publikationen zur Bundesfeierspende, welche für den Wald gesammelt wurde, ging man noch von einzelnen gefährdeten Waldgebieten aus (Bund, 14.5.83 ; NZZ, 28.6.83 ; Bundesamt für Forstwesen, Der Wald in der Schweiz, Bern 1983). Erstmals auf schweizerische Verhältnisse angewendet wurde der Begriff «Waldsterben» nach den alarmierenden Berichten von Forstleuten anfangs August (TA, 4.8.83 ; 11.8.83 ; westschweizerische Presse vom 2.9.83).
[4] Ursachenanalysen in der Presse: NZZ, 31.8.83; 2.9.83; 1.10.83; 10.10.83; Vat., 2.9.83; 1.12.83; TA, 16.9.83; 29.10.83; TAM, 40, 15.10.83. Haltung des BR: BaZ, 31.10.83.
[5] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1453 ff. Im StR wurde die SVP-Motion, eingereicht durch StR Gerber (BE), in der gekürzten Fassung des NR ebenfalls überwiesen (Amtl. Bull. StR, 1983, S. 536 ff.). Vgl. BaZ, 24.9.83; Presse vom 5. u. 7.10.83.
[6] Lancierung: NZZ, 7.3.83; 24 Heures, 9.3.83. Laufende Berichte: Suisse, 3.4.83; TA, 9.6.83. Zur Kritik der Messmethoden: Bund, 30.12.83.
[7] TA, 7.10.83; vgl. auch: «Thesen des Bundesamtes für Umweltschutz zum Waldsterben», in Das Waldsterben in der Schweiz, Eine Dokumentation des Bundesamtes für Forstwesen, 1984.
[8] Sofortprogramm der Umweltorganisationen zur Rettung des Waldes, Pressedokumentation, Zürich 1983; vgl. auch SGU-Bulletin, 1984, S. 3 ff. ; NZZ, 29.8.83 ; Vr, 30.8.83 ; TA, 10.9.83 ; 8.10.83 ; LNN, 30.11.83 ; LdU/EVPFraktion der Bundesversammlung, Grün-Buch, Bern 1983; ferner TA, 16.12.83. Gutachten der Zürcher Rechtsprofessoren: NZZ, 21.12.83.
[9] Isopublic, Behandlung wichtiger Probleme durch das Parlament, Zürich 1983; vgl. auch Schweizer Illustrierte, 42, 24.10.83. Für 1979 vgl. Unser Parlament 1979/83 und was das Volk von ihm erwartet, Zürich 1980 (Sep. aus TA).
[10] Schätzungen deuteten darauf hin, dass eine unkonventionelle Umweltvereinigung wie der World Wildlife Fund (WWF) bereits eine grössere Anhängerschaft hinter sich weiss als eine konventionelle Gruppierung wie der Schweizerische Bund für Naturschutz (SBN); vgl. E. Gruner / H. P. Hertig, Der Stimmbürger und die « neue» Politik, Bern 1983, S. 299.
[11] Zum Umweltbewusstsein als neuem Politik-Paradigma: TA, 1.7.83; SP-Information, 150, 26.10.83 sowie W. Mäder, «The Alternative Movement in Switzerland », in A. Sicinski / M. Wemegah (Ed.), Alternative Ways of Life in Contemporary Europe, Tokyo 1983. Konsequenzen für das politische System zeigt P. Knoepfel, Changing local-central relations in environmental policies, Lausanne 1983.
[12] BV-Artikel : SPJ, 1971, S. 119 f. Geschichte des Umweltschutzgesetzes: SPJ, 1979, S. 123 f. ; 1982, S. 113 f. sowie TAM, 22, 11.6.83; Bund, 6.12.83.
[13] Ausgangslage: Bund, 14.6.83; SPJ, 1982, S. 113 ff. Entscheid der StR-Kommission: BaZ, 21.5.83; Presse vom 25.5.83. Begründung: SGT, 8.6.83 (StR Bürgi); NZZ, 14.6.83 (NR Stucky). Kritiken: NZZ, 30.5.83 (SPS); SGT, 9.6.83 (NR Kopp). StR-Debatte : Amtl. Bull. StR, 1983, S. 239 ff.; 251 ff.; 269 ff.; 322 ff.; Presse vom 15.-17.6.83; 23.6.83.
[14] SP-Initiative: Presse vom 12.9.83; vgl. auch unten, Teil III a (Parti socialiste).
[15] NR-Kommission: Bund, 13.9.83. NR-Debatte: Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1160 ff.; 1333 ff.; 1554 ff.; Presse vom 22. u. 23.9.83. StR-Kommission: BaZ, 27.9.83; TA, 27.9.83. StR-Debatte: Amtl. Bull. StR, 1983, S. 518 ff.; 584 ff ; Presse vom 30.9.83.
[16] Definitiver Text: BBl, 1983, III, S. 1040 ff.; Bund, 4.10.83. Kommentare: NZZ, 30.9.83; BaZ, 8.10.83 (Umweltorganisationen); wf. Dok., 41, 10.10.83 (Arbeitgeber).