Année politique Suisse 1983 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Geund- und Mittelschule
Im Rahmen der Reformbestrebungen auf der Stufe der Primar- und Mittelschule kam es zum Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens betreffend den einheitlichen Schuljahresbeginn. Parteien, Kantone und Verbände befürworteten angesichts der gescheiterten Konkordatsbemühungen mit grosser Mehrheit die Kompetenz des Bundes zur Festlegung des
einheitlichen Schulanfangs und bevorzugten mehrheitlich den Spätsommerbeginn. Explizit sprachen sich nur die Liberale Partei, die Nationale Aktion, der Gewerbeverband und der Kanton Zürich gegen den Vorschlag des Bundesrates aus; die Kantone Bern und Solothurn wollten den Schuljahresbeginn erst in einer zweiten Volksabstimmung festlegen lassen, und der Kanton Jura lehnte eine bundesstaatliche Regelung aus föderalistischen Gründen ab
[4]. Die nationalrätliche Kommission empfahl darauf ihrem Rat; dem Vorschlag des Bundesrates zuzustimmen
[5]. Die Meinungen zum Dauerthema «äussere Koordination» scheinen gemacht zu sein und lassen eine Pattsituation erkennen; langjährige Verfechter der Vereinheitlichung ziehen sich deshalb resigniert zurück. Demgegenüber wird der Ruf nach der eigentlichen, der «inneren Koordination» wieder lauter, wie sie schon 1970 im Konkordat der Kantone umschrieben worden war
[6].
Auf die laufende Teilrevision der Maturitätsverordnung suchten zwei parlamentarische Vorstösse im Nationalrat einzuwirken: Die Motion Ogi (svp, BE) mit über 40 Mitunterzeichnern verlangt, dass Sport und Turnen als Promotions- und Wahlprüfungsfach in den Fächerkanon aufgenommen werde. Dieser Vorstoss wird unterstützt von der Kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz sowie von am Schulsport interessierten Kreisen. Die Motion Bircher (sp, AG) will den Fächerkanon neben Turnen noch um Informatik, Gegenwarts-/Staatskunde und Pädagogik/Psychologie erweitern; sie wünscht ferner die Einführung der halben Noten, den Abbau der Maturitätstypen und eine inhaltliche Reform in Zusammenarbeit mit den Kantonen
[7].
Bei den Bestrebungen, die
kantonalen Schulgesetze zu revidieren, standen vor allem der prüfungsfreie Übertritt von der Primarschule in die Sekundarschule sowie die integrierte Oberstufe im Zentrum der Auseinandersetzungen. In der Innerschweiz sprachen sich Eltern und Lehrervereine bei den Kantonsregierungen und der innerschweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz für einen prüfungsfreien Übertritt von der Primar- in die Sekundarschule aus
[8]. Die Gewerkschaft Erziehung reichte in Solothurn ihre Initiative für eine «Bildung ohne Selektion und Konkurrenzkampf» ein, welche auch die Aufhebung der Auffächerung der Oberstufe verlangte; in Zug lancierte dieselbe Gewerkschaft eine ähnliche Initiative
[9]. In ihrem in die Vernehmlassung geschickten Grundsatzpapier für die Totalrevision des Bildungswesens nahm die Erziehungsdirektion des Kantons Bern Ideen auf, welche auch die im Vorjahr verworfene POCH-Initiative «Fördern statt Auslesen» vertreten hatte
[10]. Die bürgerlichen Parteien reagierten ablehnend; die FDP beispielsweise kritisierte die vorgeschlagene verbesserte Durchlässigkeit der Oberstufentypen als fast unbegrenzte Rücksichtnahme auf die Minderheit der weniger Begabten, angeblich sozial Benachteiligten und der Unentschlossenen
[11]. Ähnlich fiel im Aargau die Mehrheit der 270 Stellungnahmen bei der Vernehmlassung zum Lehrplan aus; die bürgerlichen Parteien und verschiedene Verbände, Gremien und Konferenzen befürchteten hinter der vorgeschlagenen Annäherung der Oberstufentypen eine Nivellierung der drei Oberstufenzüge in Richtung Gesamtschule und wehrten sich gegen irgendwelche Gleichmacherei
[12].
Der
obligatorische Hauswirtschaftskurs für Schülerinnen, häufig auf Kosten der Ferien oder der Freizeit durchgeführt, wurde in weiteren Kantonen abgeschafft
[13]. Meist vollzog sich dies im Rahmen von Schulgesetz- oder Lehrplanrevisionen, mit Hinweis auf die gleichen Rechte von Mann und Frau. In Solothurn kritisierte das Parlament die Erziehungsdirektion heftig, weil sie im Vorjahr eine Petition von Schülerinnen der Kantonsschule Olten schnöde abgewiesen habe; schliesslich schlug die Solothurner Regierung dem Parlament — ähnlich wie in den Kantonen Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Neuenburg, Nidwalden und Zug — das Obligatorium des Hauswirtschaftskurses für Knaben und Mädchen vor
[14]. Während die Zürcher Regierung das Hauswirtschaftsobligatorium überhaupt abschaffen wollte, begnügten sich die Vorschläge der Erziehungsdirektoren von St. Gallen und Luzern damit, die quantitative Ungleichheit aufzuheben und die Knaben für die Zeit des Hauswirtschaftskurses mit Werken und Technisch-Zeichnen zu beschäftigen
[15].
Die Diskussion über die
Wahl zwischen privater und öffentlicher Schule wurde in Basel und Bern durch die Initiativen für einen
Bildungsgutschein wieder belebt
[16]. Auch wenn die Idee der Konkurrenzierung der öffentlichen durch private Schulen im Neoliberalismus beheimatet ist, wurden diese Vorstösse vor allem von alternativen und reformfreudigen Kreisen, welche das Vertrauen in die staatliche Schulreform für die nächste Zeit verloren haben, unterstützt. In Bern empfahl der Grosse Rat die Initiative «Für eine freie Schulwahl» zur Ablehnung und verzichtete auf einen Gegenvorschlag. Von den politischen Parteien gaben nur gerade der Landesring der Unabhängigen, die Demokratische Alternative und das Junge Bern die Ja-Parole aus. Die Initiative wurde deutlich verworfen
[17]. Der Basler Landesring lancierte, nachdem schon 1981 im Grossen Rat ein Vorstoss auf Einführung des Systems der Bildungsgutscheine nicht überwiesen worden war, eine Initiative «Für eine freie Schulwahl»
[18].
Ein konservativer Klimawechsel zeigte sich in Zürich und Nidwalden, wo verschiedene Gruppen die Einführung des Sexualkundeunterrichts zu verhindern suchten. An einer Landeskonferenz vertraten das «Schweizer Weisse Kreuz» und die «Aktion Helfen statt Töten» die Meinung, dass Sexualerziehung in den Bereich der Familie gehöre und daher der Sexualkundeunterricht nur als Wahlfach einzuführen sei
[19]. In Nidwalden hatte zwar im Februar 1981 die Vernehmlassung der Richtlinien für den Sexualunterricht kein grosses Echo ausgelöst; ihre Einführung für das Schuljahr 1982/83 aber beunruhigte den Frauen- und Mütterverein Ennetbürgen : Er organisierte Diskussionsabende, unter anderem mit der rechtskonservativen «Psychagogin» Christa Meves
[20], und forderte ein neues Vernehmlassungsverfahren. Eine Petition bewirkte die nochmalige Beratung der Richtlinien
[21]. In Zürich sprachen sich die Eidgenössisch-demokratische-Union sowie zwei Eltern- und Lehrergruppen gegen die geplante Einführung des Sexualkundeunterrichts an Volksschulen aus und baten die Erziehungsdirektion mit einer Petition und einem Thesenpapier, auf diese Neuerung zu verzichten. Die CVP und die römisch-katholische Kirche meldeten ebenfalls Bedenken an
[22].
Die Beteiligung von geführten Schulklassen an unkonventionellen politischen Aktionen gab Anlass zu Massregelung und Bestrafung der betreffenden Lehrer. In Roveredo (Misox) nahm eine Primarlehrerin mit ihrer Klasse an einer Demonstration gegen ein geplantes Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle teil. Der Schulrat der Gemeinde reagierte darauf mit der sofortigen Entlassung der Lehrerin und liess sich weder durch eine Petition der Eltern noch durch eine Eingabe der regionalen Lehrerkonferenz zur Rücknahme der Entlassung bewegen
[23]. Mit einer Rüge kam demgegenüber ein Lehrer in Basel-Land davon, welcher seinen Geschichtsunterricht aktualisierte und mit zwei Klassen den Demonstrationszug der «Frauen für den Frieden» mit Transparenten begrüsste. Der aufgrund heftiger CVP-Proteste eingeschaltete Schulinspektor sah sich jedoch nicht veranlasst, das Mitmachen an parteipolitisch gefärbten Aktionen grundsätzlich zu verbieten
[24]. In Zürich endete der acht Jahre dauernde Konflikt zwischen dem Kantonsschullehrer Hans Hehlen und der Erziehungsdirektion; weil Hehlen die «Amtspflicht zur Selektion» weiterhin nicht erfüllt hatte, wurde er als Lehrer abgewählt
[25].
Auf ungewöhnliche Art verabschiedete sich in Sarnen eine Maturaklasse von der Kantonsschule: Statt eines heiteren Rückblickes publizierten die Maturanden einen 60seitigen Bericht, in welchem sie unter anderem die Unterrichtsgestaltung und die Informationspolitik der Schule hart kritisierten
[26]. Die Christlichsoziale Partei reagierte darauf mit einem parlamentarischen Vorstoss, und die «Aktion Jugend Obwalden» forderte eine unabhängige Untersuchungskommission sowie den Rücktritt des Rektors und des Internatsvorstehers. Die Kantonsschule führte nach Abschluss der Untersuchungen einige Neuerungen ein, welche die bemängelten Zustände beheben sollten
[27].
Die
Zahl der Maturanden hat in den letzten zehn Jahren um 80% zugenommen; auffallend ist die Steigerung des Anteils der Frauen von 29 auf 43%. Die Maturandenquote (Anteil der Maturanden an der 19jährigen Wohnbevölkerung) liegt heute gesamtschweizerisch bei 11%, wobei sie in Städten wie Genf und Basel ca. 20%, in ländlichen Gebieten wie Schwyz und Obwalden ca. 5% und in Appenzell Innerrhoden gar nur 2% beträgt
[28].
[4] BBl, 1983, III, S. 761 ff.; NZZ, 29.1.83; 5.2.83; 11.2.83; 31.3.83; TA, 29.1.83; 26.2.83; 31.3.83; Suisse, 5.2.83; vgl. SPJ, 1981, S. 152; 1982, S. 144.
[5] Presse vom 8.11.83. Der bundesrätliche Vorschlag ist formell ein Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für die Koordination des Schuljahresbeginns in allen Kantonen».
[6] TW, 21.1.83; NZZ, 27.1.83; TA, 26.2.83; Presse vom 28.10.83; vgl. SPJ, 1970, S. 148 f.
[7] Verhandl. B.vers., 1983, III, S. 40, 78; Bund, 23.2.83 ; Vat., 10.6.83; 30.8.83; NZZ, 8.7.83; BaZ, 9.7.83; vgl. SPJ, 1980, S. 144 f. ; 1982, S. 144.
[8] Vat., 3.2.83; 26.2.83; 14.4.83; LNN, 21.3.83; 11.4.83; 14.4.83; NZZ, 29.3.83; vgl. SPJ, 1980, S. 145.
[9] SZ, 22.9.83; BaZ, 23.9.83; vgl. SPJ, 1982, S. 145.
[10] Vgl. SPJ, 1982, S. 145.
[12] AT, 18.2.83; 24.8.83; 6.9.83; 30.9.83; 4.10.83; 6.10.83; 14.10.83.
[13] Vgl. SPJ, 1981, S. 153.
[14] Solothurn: Bund, 3.3.83; BaZ, 5.3.83. Appenzell Ausserrhoden: Bund, 28.4.83; SGT, 21.12.83. Neuenburg: Suisse, 4.5.83; TLM, 13.5.83, 19.5.83. Nidwalden: LNN, 8.8.83; 15.9.83; Vat., 22.9.83.
[15] Zürich: NZZ, 21.1.83; AT, 16.3.83; TA, 22.4.83. St. Gallen: SGT, 24.3.83. Luzern: LNN, 26.8.83; 18.10.83.
[16] Vgl. SPJ, 1980, S. 146; 1981, S. 153; 1982, S. 144.
[17] Bund, 21.1.83; 30.5.83; 1.6.83; Presse vom 8.2.83; NZZ, 1.6.83; BaZ, 2.6.83; TA, 3.6.83; BZ, 6.6.83.
[18] BaZ, 24.2.83; 5.5.83.
[19] Vat., 7.1.83; BaZ, 2.5.83; TA, 2.5.83; 7.7.83; NZZ, 17.3.83.
[20] Christa Meves, welche seit Jahren an kantonalen Lehrerfortbildungskursen in Luzern auftritt, werden Kontakte zu neonazistischen Kreisen nachgesagt. Vgl. LNN, 12.2.83; 24.2.83; 2.4.83; Vat., 10.3.83.
[21] Vat., 11.1.83; LNN, 2.3.83; 31.3.83; 15.4.83; NZZ, 8.2.83; TA, 24.3.83.
[22] AT, 19.3.83; TA, 21.3.83; 2.5.83; 14.5.83; 7.6.83; 15.7.83; 19.9.83; NZZ, 7.9.83; 17.10.83; J. Vontobel / M. Barth, «Die Angst vor der Sexualerziehung», in TAM, 49, 10.12.83.
[24] BaZ, 21.10.83; 26.10.83.
[25] NZZ, 20.1.83; Vr, 26.4.83. Zum Konflikt H. Hehlens mit den Behörden vgl. Tell, 22, 18.11.82.
[26] Klasse 7c, Maturanden der Kantonsschule Obwalden, Kritische Betrachtungen, 1983.
[27] LNN, 20.6.83; 21.6.83; 23.6.83; 2.7.83; 15.7.83; 21.7.83; 3.8.83; 10.8.83; 22.9.83; Vat., 23.6.83; 2.7.83; 15.7.83; 21.7.83; 6.8.83; BaZ, 25.7.83.
[28] Bundesamt für Statistik, Der Übertritt von der Mittelschule zur Hochschule, Bern 1983; Presse vom 5.8.83.
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