Année politique Suisse 1984 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Öffentliche Ordnung
Die öffentliche Ordnung wurde im Berichtsjahr durch eine Reihe von Sprengstoff- bzw. Brandanschlägen gestört, welche sich auf das Gebiet der Stadt Winterthur konzentrierten. Die grösste Betroffenheit löste ein Sprengstoffanschlag auf das Haus von Bundesrat Friedrich aus, der einigen Sachschaden anrichtete. Dieses in der Geschichte des Bundesstaates einmalige Vorkommnis führte zur Diskussion, ob nicht auch in der Schweiz hohe Amtspersonen durch polizeiliche Massnahmen besser zu schützen seien. Gerade bei den Direktbetroffenen scheint aber wenig Bereitschaft vorhanden zu sein, sich in ihrer bisher üblichen Bewegungsfreiheit einschränken zu lassen; Rudolf Friedrich meinte, ein gewisses erhöhtes Berufsrisiko müsse einfach in Kauf genommen werden [12]. Ein ähnlicher Anschlag mit gleichermassen unklaren Motiven und unbekannter Täterschaft fand rund einen Monat später auch auf das Haus der kantonalzürcherischen Justizdirektorin Hedi Lang (sp) statt [13].
In Winterthur häuften sich im Verlaufe des Jahres Brandstiftungen und übrige Sachbeschädigungen, wobei über den Täterkreis und dessen Beweggründe in der Öffentlichkeit weitgehend Unklarheit herrschte. Immerhin liess sich in den Parolen (resp. den Mauerinschriften) eine gewisse Verwandtheit mit den Themen und Argumentationsweisen der ehemaligen Zürcher Jugendbewegung ausmachen. Die Wahl der Objekte schien freilich recht willkürlich zu sein, und die auf Mauern und Plakaten vorgefundenen Statements formulierten zwar vage Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, enthielten jedoch keine Forderungen politischer Art. Mitte November reagierten die Behörden mit einer breitangelegten Verhaftungswelle in Kreisen nonkonformistischer Jugendlicher, die dann ihrerseits sowohl weitere Anschläge als auch Proteste kritischer Juristen auslöste [14].
Von der Vielzahl der politischen Demonstrationen, wie sie auch 1984 in der ganzen Schweiz veranstaltet wurden, ging hingegen keine ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus. Die grösste fand in Bern statt, wo sich rund 30 000 vorwiegend aus der Deutschschweiz stammende Teilnehmer versammelten, um eine aktivere Politik gegen das Waldsterben zu fordern [15]. Im Kanton Zürich kam es zu einigen interessanten Gerichtsurteilen im Zusammenhang mit Demonstrationen, die zu Beginn der achtziger Jahre stattgefunden hatten. So sprach das Obergericht die Behörden der Stadt Zürich frei von der Haftung für Schäden, welche Gewerbetreibende durch Sachbeschädigungen und Umsatzeinbussen erlitten hatten. Ebenfalls von der Kausalhaftung für anlässlich einer Demonstration entstandene Schäden freigesprochen wurde ein Student, der gegenüber der Polizei die Verantwortung für die Kundgebungsdurchführung übernommen hatte. Im Gegensatz zur ersten Instanz befand das Bezirksgericht, dass der Inhaber einer Demonstrationsbewilligung zur Verhinderung von Ausschreitungen nicht verpflichtet sei; dies sei Aufgabe der Polizei. In einem dritten Prozess schliesslich wurde erstmals in der Schweiz eine unbedingte Gefängnisstrafe aufgrund des 1982 revidierten Artikels 259 StGB gefällt. Dieser Artikel, der bereits die öffentliche Aufforderung zu Vergehen mit Gewalttätigkeit unter Strafe stellt, bildete 1982 einen der Hauptgründe für das erfolglose Referendum der Linken gegen die Strafrechtsreform [16].
 
[12] Presse vom 8.8.84 (Anschlag); LNN, 9.8.84; Blick, 10.8.84 (Schutz); NZZ, 9.8.84 (BR Friedrich).
[13] NZZ, 13.9.84; 14.9.84.
[14] NZZ, 24.8.84; 8.10.84;12.10.84; 21.11.84 (Verhaftungen); 20.12.82; TA, 1.12.84; 8.12.84; SGT, 13.12.84; vgl. auch Wochen-Zeitung, 36, 7.9.84 und Ww, 52, 27.12.84.
[15] Presse vom 7.5.84; siehe dazu auch unten, Teil I, 6d (Umweltbedrohung). Zur Diskussion über die Zulässigkeit des Widerstands gegen Mehrheitsentscheide im demokratischen System siehe oben, Teil I, 1a (Recht und Ethik).
[16] Gewerbetreibende: NZZ, 2.11.84. Kundgebungsverantwortlicher: Vr, 21.5.84; 9.7.84; TA, 7.7.84. Aufforderung zu Gewalt: NZZ, 27.1.84. Die beiden letztgenannten Urteile wurden ans Ober- resp. Bundesgericht weitergezogen. Vgl. auch SPJ, 1982, S. 14.