Année politique Suisse 1984 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
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Konkordanzregierung
Im selben Jahr, in dem die für die Bildung der Regierung des Bundes massgebliche «Zauberformel» ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, hatte sie zugleich auch ihre bisher ernsteste Krise zu überstehen. Im Anschluss an die Nichtwahl der offiziellen Kandidatin der SP, Lilian Uchtenhagen, am 7. Dezember 1983, sprach sich der Parteivorstand mehrheitlich für den Regierungsaustritt aus und berief zu einem Entscheid darüber einen Sonderparteitag auf den 11./12. Februar nach Bern ein. Da sich im Gegensatz zu früheren Jahren diesmal auch die Parteileitung und insbesondere deren Präsident Hubacher für eine Beendigung der Konkordanzpolitik stark machten, schien ein Bruch mit der Tradition in greifbare Nähe gerückt. Für die Austrittswilligen war die Nichtberücksichtigung ihrer Bundesratskandidatin allerdings nicht das Hauptargument, sondern stellte vielmehr den Tropfen dar, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Generell stellten sie fest, dass sich in den letzten Jahren die Kompromissbereitschaft der in der Regierung vertretenen bürgerlichen Parteien radikal verschlechtert habe. Ein wesentlicher Grund dafür sei, so wurde in einer politologisch orientierten Analyse konstatiert, das gegenüber vergangenen Perioden merklich abgeschwächte Wachstum der Wirtschaft im allgemeinen und der Staatsausgaben im besonderen. Während in den Hochkonjunkturphasen der sechziger und frühen siebziger Jahre allseits befriedigende Kompromisse im Verteilungskampf hätten geschlossen werden können, komme die SP als Minderheitspartner in der heutigen Situation, in der es oft sogar um die Verteilung der Opfer gehe, notgedrungen zu kurz [1].
Mit einem Austritt aus der Landesregierung und einer konsequenten Oppositionspolitik könnte die SP wieder zu einem glaubhaften Sammelpunkt für Veränderungswillige werden. Für einzelne prominente Austrittsbeftirworter handelte es sich bei der Frage um den Austritt denn auch nicht in erster Linie darum, wie die SP ihre politischen Positionen effektvoller durchsetzen könne, sondern darum, ob diese Partei überhaupt Überlebenschancen habe [2]. Neben diesem doch weitgehend elektoralistischen Gesichtspunkt trat die Frage nach dem konkreten Verhalten der SP im Falle eines Rückzugs aus der Landesregierung — die Fortführung der Beteiligung auf Kantons- und Gemeindeebene stand nie zur Diskussion — in den Hintergrund. Zwar wurde ein vermehrter Gebrauch von Referendum und Volksinitiative zur Bekämpfung bürgerlicher Politik resp. Durchsetzung eigener Konzepte angekündigt. Da diese Wege, wie auch das Eingehen von Bündnissen mit nicht an der Regierung beteiligten Parteien und Gruppen bereits bisher gängige Praxis waren (insbesondere in der Verkehrs- und Energiepolitik), würde dies jedoch keine grundlegende Verhaltensänderung darstellen [3].
Aus dem Gesichtswinkel einer Reform des politischen Systems erscheint demgegenüber ein vom ehemaligen persönlichen Berater Bundesrat Ritschards, Peter Hablützel, eingebrachter Vorschlag grundlegender zu sein. Diese Variante spricht sich für eine auf Legislaturperioden befristete Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten aus, deren jeweilige Weiterführung vom Grad der Kompromissbereitschaft der bürgerlichen Regierungsparteien abhängig gemacht werden soll. Eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung dieser Regierungsbeteiligung auf Zeit wäre ein verbindliches Minimalprogramm der Koalitionsparteien. Andererseits hätten die SP und die mit ihr liierten Verbände sich während der Legislaturperioden gezielt auf ihre allfällige Oppositionsrolle vorzubereiten [4]. Soviel Beachtung dieser Vorschlag in der interessierten Öffentlichkeit auch fand, im innerparteilichen Entscheidungsprozess hatte er keine Chance. Für die Austrittsbefürworter schien eine derartige Politik der bedingten Regierungszusammenarbeit weder gegenüber den bürgerlichen Parteien durchsetzbar, noch gegenüber den vom bisherigen politischen Prozess enttäuschten Bevölkerungsteilen glaubhaft vertretbar. Darüber hinaus verhehlten sie aber auch ihre Befürchtung nicht, dass im Parteivolk die Erregung über die Nichtwahl von L. Uchtenhagen bald einmal abklingen könnte und dann für einen eventuellen späteren Austrittsbeschluss ohnehin nie eine Mehrheit zu finden wäre [5]. Aber auch die Vertreter des Status quo schenkten diesen Ideen keine grosse Beachtung. Sie wiesen einerseits auf die auch von ihren Opponenten kaum in Abrede gestellten Erfolge der bisherigen Politik hin und betonten andererseits, dass es gerade in Zeiten eines frostiger gewordenen politischen Klimas gelte, die mühsam errungenen Positionen zu verteidigen. Dies würde aber bei einem Auszug aus der Regierung — und damit verbunden sukzessive auch aus den ohnehin wenigen Spitzenposten in der Verwaltung — in Anbetracht der bestehenden politischen Kräfteverhältnisse äusserst schwierig. Die Erwartung einer wesentlichen Stärkung der SP durch den erhofften Zulauf aus dem Lager der politisch Unzufriedenen sei angesichts der bescheidenen Erfolge der seit Jahren agierenden Oppositionsparteien (LdU, POCH) wenig realistisch zu nennen [6].
Im traditionell mit der SP eng verbundenen Gewerkschaftsbund (SGB) waren die Meinungen ebenfalls gespalten. Mit relativ knappem Mehr empfahl der erweiterte Vorstand des SGB die Weiterführung der Regierungsbeteiligung. Die drei bürgerlichen Regierungsparteien hielten sich in ihren Äusserungen merklich zurück. Nur gerade die CVP, die als eigentliche Baumeisterin der Zauberformel gilt, drückte explizit ihre Hoffnung aus, dass diese weitergeführt werden könne. Der Präsident der FDP hingegen beschränkte sich darauf, die Sozialdemokraten vor einer Flucht aus der Verantwortung zu warnen. Andererseits blieb Nationalrat Blocher (svp, ZH) mit seiner Meinung, dass ein Regierungsaustritt der SP zu begrüssen wäre, da er eine konsequentere Durchsetzung bürgerlicher Anliegen ermöglichen würde, einigermassen isoliert [7].
Die Kontroverse gab neben den bereits zitierten auch weiteren Wissenschaftern Gelegenheit, sich grundsätzlich über das schweizerische Regierungssystem zu äussern. So nahm etwa der Politologe Germann seine These wieder auf, dass sich der Übergang vom Konkordanz- zum Konkurrenzsystem sowohl auf das Interesse und die Beteiligung des Bürgers an der Politik, als auch auf die Problemlösungskapazitäten des Staates positiv auswirken würde. Bedingung für das Funktionieren eines Systems mit klarer Trennung zwischen Regierung und Opposition wäre allerdings, wie auch Germann zugesteht, die Stärkung der Position von Regierung und Parlament auf Kosten der Volksrechte. Sowohl L. Neidhart als auch R.A. Rhinow wiesen demgegenüber darauf hin, dass das schweizerische System mit seinem Föderalismus, namentlich aber mit den Instrumenten Volksinitiative und Referendum bereits derart vielfältige Oppositionsmöglichkeiten zur Verfügung stelle, dass ein Konkurrenzsystem nach angelsächsischem Muster nicht erforderlich sei [8].
Der mit Spannung erwartete Parteitag, auf den wir, wie auch auf die innerparteilichen Auswirkungen dieser Kontroverse, an anderer Stelle eingehen werden [9], endete mit einem doch recht überraschenden Sieg der Befürworter der Zauberformel. Die unterlegene Parteileitung kündigte allerdings im Anschluss an dieses Verdikt an, dass die SP, auch wenn sie im Bundesrat verbleibe, von nun an eine wesentlich unbequemere Politik betreiben werde. Für zukünftige Bundesratswahlen speziell wichtig war dabei ein Vorschlag der Geschäftsleitung, dass offizielle Kandidaten der SP nur von der Fraktions- und der Parteivorstandsmehrheit nominiert werden dürften, und dass nichtoffizielle Kandidaten eine allfällige Wahl auszuschlagen hätten. Dieser Versuch, Vorgänge, wie sie sich wiederholt bei Wahlen sozialdemokratischer Bundesräte (Tschudi, Ritschard und Stich) zugetragen hatten, künftig zu verhindern, wurde dann allerdings am ordentlichen Parteitag vom 17./18. November in St. Gallen abgelehnt. Zum Scheitern hat wohl nicht zuletzt auch die Politik von Otto Stich in seinem ersten Amtsjahr beigetragen. Seine Sachkompetenz hatten zwar auch die parteiinternen Gegner nicht in Zweifel gezogen; die von ihm mehrmals an den Tag gelegte Hartnäckigkeit bei der Verfechtung sozialdemokratischer Positionen war hingegen nicht von allen erwartet worden. Zur Entspannung trug schliesslich ebenfalls der von Stich massgeblich beeinflusste Entscheid des Bundesrates bei, der ihn und seinen Kollegen Aubert von der Vertretung des ablehnenden Regierungsstandpunktes zur SP-Bankeninitiative an Radio und Fernsehen dispensierte [10].
Ob die Politik der SP nun effektiv unbequemer geworden ist, lässt sich nach einem Jahr noch nicht schlüssig beantworten. Zwar verlangte die Nationalratsfraktion mehr als früher Abstimmungen unter Namensaufruf, umgekehrt sind der Partei bei der Lancierung von Initiativen und Referenden natürlich recht enge finanzielle und organisatorische Grenzen gesetzt. Da sich in den letzten Jahren der Bundesrat in vielen Fragen innovationsfreudiger gezeigt hatte als das Parlament, ergab sich zudem nicht selten die Situation, dass die Sozialdemokraten die Regierungspolitik gegen die Opposition aus den bürgerlichen Reihen verteidigen mussten. Die Wortführer der anderen Regierungsparteien glaubten jedenfalls keine härtere Linie in der Politik der Sozialdemokraten zu erkennen, sondern bescheinigten diesen vielmehr einen ausgesprochenen Willen zur Zusammenarbeit [11]. Bereits anlässlich des ersten der institutionalisierten Gespräche der Bundesratsparteien nach dem Entscheid der SP, wurde von den Beteiligten ein verbessertes Klima und gesteigerte Kooperationsbereitschaft ausgemacht. Um diese Zusammenkünfte im Berner «von Wattenwyl-Haus» nicht zu einem unergiebigen Ritual verkommen zu lassen, kam man überein, sie in Zukunft nicht mehr regelmässig vor den Sessionen, sondern entsprechend dem Bedarf abzuhalten. Überdies wurden die Parteisekretäre beauftragt, abzuklären, ob sich eine Art minimales Regierungsprogramm erstellen lasse [12].
 
[1] Zur Nichtwahl von Uchtenhagen siehe SPJ, 1983, S. 20 ff. sowie Ch. Fehr, «Das Beispiel vom 7. Dezember 1983: Drehbuch einer Bundesratswahl », in ders. (Hrsg.), Heil dir Helvetia, Hägendorf 1984, S. 5 ff. Hubacher: TA, 17.1.84. Noch 1979 hatte sich Hubacher klar gegen einen Austritt ausgesprochen (vgl. SPJ, 1979, S. 23 und 197). Parteivorstand: Presse von 23.1.84. Analyse: W. Linder, «Geliebte, gehasste, verwünschte Konkordanz», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), Zauberformel: Fauler Zauber?, Basel 1984, S. 117 ff.
[2] T. Maissen, «SPS am Scheideweg», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 1, S. 1 f. Ähnlich u.a. auch P. Vollmer (Vizepräsident der SP), «Bundesratswahl als Signal», in ebenda, S. 5 ff. sowie NR Bäumlin (sp, BE) in Vr, 25.1.84. Zu den Chancen der SP, zu einem Kristallisationspunkt für Sympathisanten sogenannt alternativer Bewegungen zu werden, siehe H.P. Kriesi, «Konkordanzsystem und Opposition», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 4 ff..
[3] Siehe dazu R.A. Rhinow in TA, 9.2.84.
[4] P. Hablützel, «Chance vernünftig nutzen», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 222 ff. Vgl. auch P. Gilg, «Soll das schweizerische Regierungssystem geändert werden?», in Bund, 21.1.84. Für eine gründliche Vorbereitung einer allfälligen Oppositionsrolle sprach sich auch der SP-Zentralsekretär R. H. Strahm aus («Kopflose Parteileitung?», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 25 ff.).
[5] Siehe insbesondere T. Maissen, « Der 'dritte Weg' führt in die Sackgasse», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 233 ff. sowie J. Zwicker, «1929-1984», in Rote Revue, 63/1984, S. 16 ff.
[6] F. Schlegel, «War die Wahlniederlage unvermeidlich?», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 14 ff. Für die Weiterführung der Bundesratsbeteiligung sprach sich insbesondere auch die Mehrheit der Parlamentsfraktion aus (Presse von 29.1.84 sowie Suisse, 30.1.84).
[7] SGB, 19.1.84. CVP: NZZ; 18.1.84 und Vat., 18.1.84. Der Freisinn, Nr. 2, Februar 1984. Blocher: Blick, 16.1.84.
[8] R.E. Germann in TA, 9.2.84; L. Neidhart, «Oppositionsmöglichkeiten in der Konkordanzdemokratie», in NZZ, 18.2.84; R.A. Rhinow in TA, 9.2.84. Vgl. ferner auch A. Fisch, «Opposition in der Schweiz», in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 187 ff. ; wf, Dok. (Artikeldienst), 6.2.84 sowie oben, Teil I, 1a (Staatsrecht) und SPJ, 1975, S. 11.
[9] Siehe unten, Teil III a (Sozialdemokraten).
[10] Sonderparteitag: Presse vom 13.2.84 und Rote Revue, 63/1984, Nr. 3. Parteitag in St. Gallen: Presse vom 19.11.84 sowie «SP-Intern », Beilage zu Rote Revue, 63/1984, Nr. 12. Amtsführung: SZ, 17.4.84; BaZ, 7.12.84. Medienauftritte: NZZ, 2.5.84.
[11] Bund, 9.11.84; R. Reich in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 459 ff.
[12] NZZ, 21.2.84; 23.2.84; 20.3.84; BaZ, 23.2.84. Zu der namentlich vom SVP-Generalsekretär Friedli geäusserten Befürchtung einer Erstarrung vgl. SPJ, 1983, S. 20. Einen ersten Versuch mit der Ausarbeitung eines verbindlichen Minimalprogramms unternahmen die Regierungsparteien bereits 1971 (vgl. SPJ, 1971, S. 19).