Année politique Suisse 1984 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
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Richtlinien der Regierungspolitik
Neben den grundsätzlichen Auseinandersetzungen über Sinn und Bestand des Regierungssystems rückten die Richtlinien der Regierungspolitik für die Legislaturperiode 1983-1987 in den Hintergrund. Diese bereits zum fünften Mal veröffentlichten Richtlinien stellen denn auch nicht eine rechtlich verbindliche Regierungserklärung dar, sondern vielmehr eine politische Absichtserklärung des Bundesrates, zu deren Verwirklichung er sich einzusetzen gedenkt. Inhaltlich gliedern sie sich in die Rahmenbedingungen politischen Handelns, die politischen Leitlinien (dies als Neuerung) sowie den Aufgabenkatalog. Im Vergleich mit den Richtlinien für die vorangegangene Legislaturperiode fällt auf, dass der Bundesrat dem Schutz und der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen heute einen wesentlich höheren Stellenwert einräumt. Da die Weltwirtschaft sich im Beginn einer konjunkturellen Aufschwungphase befindet, verlieren demgegenüber die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Probleme ihre dominierende Position. In den politischen Leitlinien wird erneut auf das Dilemma hingewiesen, mit aus wirtschaftlichen und politischen Gründen beschränkten Ressourcen einen leistungsfähigen Staat zu bewahren und den Anforderungen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft gewachsen zu sein. Diese Situation zwinge den Bund vermehrt zu einer Differenzierung zwischen dem Wünschbaren und dem Notwendigen, d.h. zu einer Streichung oder zumindest einer zeitlichen Verschiebung von weniger dringlichen Vorhaben.
Diese Prioritätensetzung gelangte denn auch beim Entscheid über die Aufnahme neuer Geschäfte in den Aufgabenkatalog zur Anwendung. Um den Handlungsspielraum für die Erfüllung dringender neuer Vorhaben zu erweitern, wurden ferner die bestehenden Aufgaben systematisch auf Möglichkeiten der Rationalisierung, des Abbaus oder gar des Verzichts überprüft. Insgesamt enthält die Liste 67 Projekte, welche die Regierung im Verlaufe der Legislaturperiode 1983 bis 1987 dem Parlament vorlegen will. Bei 23 davon handelt es sich um Pendenzen aus der letzten Legislaturperiode; sechs der in den Regierungsrichtlinien 1979-1983 angekündigten Vorhaben sollen hingegen im Sinne der Prioritätensetzung auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Die im Aufgabenkatalog enthaltenen haushaltrelevanten Geschäfte sind auf den Finanzplan 1985-1987 abgestimmt. In der Presse wurden die Richtlinien als pragmatisches, aber doch wertvolles, strukturiertes und kommentiertes Inventar der in nächster Zeit auf Bundesebene zur Lösung anstehenden Probleme charakterisiert. Der Verzicht auf ein echtes Regierungsprogramm mit mehr grundsätzlichen Ausblicken sei zwar bedauerlich, ein solches müsste aber eher von den politischen Parteien denn vom Bundesrat, der ja bloss als oberste Vollzugsbehörde wirkt, vorgelegt werden [13].
Verheerend fielen demgegenüber die Pressekommentare zur parlamentarischen Behandlung der Regierungsrichtlinien aus. Da diese eine Absichtserklärung des Bundesrates darstellen, nimmt das Parlament von ihnen lediglich Kenntnis. Immerhin besteht seit 1980 die Möglichkeit, mit sofort zu behandelnden Motionen Ergänzungen anzubringen. Solange diese Debatte aber nicht zur grundsätzlichen Auseinandersetzung, sondern in erster Linie zur Geltendmachung von Sonderwünschen genutzt wird, stellt sie im Urteil vieler Journalisten eine reine Zeitverschwendung dar. Von den eingereichten Motionen vermochte sich, nach einigem Hin und Her zwischen den beiden Kammern, bloss eine durchzusetzen: Zum Zweck einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament solle der Bundesrat die Aufgabenliste nach Prioritäten ordnen. Aus dieser Klassierung müsse insbesondere hervorgehen, welche Geschäfte auch erst in einer späteren Periode vorgelegt werden könnten. Einer anderen Motion des Nationalrates, welche die Vorlage einer Botschaft über die Ausmerzung der «taxe occulte» bei der Warenumsatzsteuer forderte, verweigerte hingegen der Ständerat wegen ihrer präjudizierenden Form die Zustimmung. Bereits in der grossen Kammer scheiterten zwei Motionen der vorwiegend aus Vertretern der SP gebildeten Kommissionsminderheit, die erstens ein Notprogramm gegen das Waldsterben und zweitens eine aktivere Forschungspolitik verlangten [14].
Als Mittel zur Entlastung von Regierung und Parlament beschloss nach dem Ständerat nun auch der Nationalrat den Verzicht auf den 1979 eingeführten Zwischenbericht über die Verwirklichung der Regierungsrichtlinien nach der Hälfte der Legislaturperiode. Eine andere Neuerung von 1979, die Vorberatung der Richtlinien durch die Kommissionen, wird hingegen beibehalten [15].
 
[13] BBl, 1984, I, S. 157 ff. Siehe auch die illustrierte Ausgabe Richtlinien der Regierungspolitik 1983-1987, Bern 1984. Zu den Richtlinien 1979-1983 siehe SPJ, 1980, S. 21 f., zum Finanzplan unten, Teil I, 5 (Finanzplan). Reaktionen : Presse vom 27.1.84; vgl. ferner R. Reich in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 551 f. Siehe ausserdem L. Schlumpf, «Die Richtlinien der Regierungspolitik», in Documenta, 1984, Nr. 1, S. 4 ff. sowie W. Buser, «Die Erarbeitung der Regierungsrichtlinien », in ebenda S. 6 f. NR Bäumlin (sp, BE) reichte hingegen eine Motion ein, die vom BR anstelle der heutigen Richtlinien langfristige Perspektiven sowie alternative Varianten zielgerichteter Politik fordert ( Verhandl. B.vers., 1984, V, S. 209).
[14] Amtl. Bull. StR, 1984, S. 227 ff. und 372 f. ; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 736 ff., 808 ff. und 924 f.; Presse vom 16.6.84. Die vom BR ausgearbeitete Prioritätenliste unterscheidet zusätzlich zwischen Geschäften, die den Räten in der ersten (30), und solchen, die in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode präsentiert werden sollen (22). Bei 14 Vorlagen erklärt sich der BR bereit, auf eine Unterbreitung in der laufenden Legislaturperiode zu verzichten (BBl, 1984, Il, S. 1332 ff.).
[15] SPJ, 1983, S. 20; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1859 f. und 1957; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 739. Diese Vereinfachung des Ratsbetriebs geht auf eine parlamentarische Initiative Generali (fdp, TI) zurück. Über weitere Bestrebungen zur Straffung der Verhandlungen orientieren wir unter dem Stichwort Parlament.