Année politique Suisse 1984 : Grundlagen der Staatsordnung / Föderativer Aufbau
 
Territoriale Fragen
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Jura
Nach wie vor wird das bundesstaatliche Gefüge der Schweiz von regionalistischen und territorialen Bestrebungen angefochten, vor allem im Zusammenhang mit der Jurafrage [10]. Vertreter des neuen Kantons bekunden weiterhin den Wunsch, dass die bèi Bern verbliebenen südjurassischen Bezirke früher oder später zum Norden stossen, wobei sie das Gewicht auf ein rechtliches Verfahren legen. Militante Organisationen, die sich auch aus der separatistischen Minderheit des Südens rekrutieren, setzen den Kampf mit den bisherigen Methoden fort [11]. Auf bemischer Seite, namentlich bei den Antiseparatisten des Berner Juras, wird jede Infragestellung der Plebiszitentscheide von 1975 als Angriff auf die kantonale Integrität und als Störung des eidgenössischen Friedensgewertet. Besonders empfindlich reagiert man auf das Erscheinen von politischen Persönlichkeiten aus dem jungen Kanton in den strittigen Gebieten. Das Bundesgericht desavouierte jedoch gegen Ende des Jahres die bemischen Behörden, welche die Teilnahme von Politikern aus dem Kanton Jura an einem «Fest der jurassischen Einheit» in Moutier nicht hatten zulassen wollen [12].
Während in den älteren Generationen der Wunsch nach Gespräch und Normalisierung laut wird, neigt die organisierte Jugend beider Lager zur Aufrechterhaltung der Spannung [13]. Als der zehnte Jahrestag des ersten Juraplebiszits vom 23. Juni 1974 herannahte, begannen die separatistischen Béliers mit einer Reihe von Anschlägen, die wie gewohnt eine gegen Bern oder gegen die Schweiz gerichtete Symbolik erkennen liessen, sich aber durch wiederholte Gewaltanwendung von früheren Aktionen unterschieden. Am meisten Aufsehen erregte die Fällung des Grenzbesetzungsdenkmals von Les Rangiers (JU) und die Entwendung des Unspunnensteins, der an volkstümliche Traditionen des Berner Oberlandes erinnert, aus Unterseen (BE) [14]. Die jurassische Regierung erhob gegen die Denkmalstürmer Klage und sorgte für die Wiederaufstellung des Monuments; als aber der zuständige Richter den Chef der Béliers und einige seiner Getreuen vorübergehend in Haft nahm, löste er beim Rassemblement jurassien und bei Politikern verschiedener Parteien scharfe Proteste aus [15]. Die Sangliers, das antiseparatistische Gegenstück zu den Béliers, zeigten ihrerseits wenig Bereitschaft zu einer versöhnlichen Politik: als zum 100jährigen Jubiläum der beidseits der Kantonsgrenze verkehrenden Chemins de fer du Jura in Tramelan (BE) auch zwei jurassische Regierungsmitglieder eingeladen waren, wurden diese von der berntreuen Jugend sehr unfreundlich empfangen [16].
Die konkreteste Form hat die Anfechtung der neuen bernisch jurassischen Grenze im Verlangen der Gemeinden Vellerat und Ederswiler nach einem Kantonswechsel gefunden. Während Vellerat sich bereits 1982 zur «freien Gemeinde» erklärt hatte, wandte sich Ederswiler im März mit einer Petition an die Bundesversammlung um Unterstützung für sein Anliegen. Die Petitionskommission des Nationalrats strebte — wie der Kanton Bern — eine Lösung der beiden Fälle im Zusammenhang an; Vellerat lehnte es jedoch ab, vor der Kommission zu erscheinen und auf einen «Handel» einzugehen [17]. Im November kam es zu einer weiteren Verschärfung der Lage: das jurassische Parlament, in welchem Vellerat wie auch Moutier durch einen Beobachter vertreten ist, beauftragte die Kantonsregierung auf Vorschlag einer von R. Béguelin präsidierten Kommission, von Bern eine einseitige Übergabe Vellerats in aller Form zu beanspruchen. Noch vor Jahresende gab die Delsberger Regierung diesem Auftrag Folge und empfahl den Abschluss eines interkantonalen Vertrags, der von den eidgenössischen Räten zu genehmigen wäre [18].
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Laufental
In einer gewissen Parallele zum südjurassischen Separatismus organisierten sich im Laufental Befürworter einer Loslösung von Bern, die den Volksentscheid gegen einen Anschluss an Baselland nicht definitiv hinzunehmen bereit waren. Die «Laufentaler Bewegung» warf der bemischen Regierung unstatthafte Beeinflussung des Plebiszits vom September 1983 vor und setzte sich die vollständige Integration des Laufentals in die Region Basel zum Ziel. Mit den südjurassischen Separatisten tauschte sie Delegationen bei Kundgebungen aus. In der «Jungen Kraft Laufental» trat auch eine Jugendformation in Erscheinung. Die autonomistischen Kräfte haben in der Bezirkskommission, dem Laufentaler Regionalparlament, das noch immer eine trennungsfreundliche Mehrheit besitzt, einen Rückhalt [19].
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Genf
Neigungen zu einer Loslösung aus dem schweizerischen Bundesstaat, die in genferischen Kreisen bestehen, wurden durch ein Nachrichtenmagazin einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Offizielle Vertreter der Rhonestadt betonten jedoch, dass diese trotz allerlei wirtschaftlichen wie politischen Benachteiligungen und Zurücksetzungen mit der Schweiz fest verbunden sei [20].
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Halbkantone
Die parlamentarische Initiative Miville (sp, BS), die das Problem der Halbkantone wiederaufgegriffen hat, indem sie die Erhebung von Baselstadt zum Vollkanton verlangt, wurde von der vorbereitenden Kommission des Ständerats einstweilen zurückgestellt, um die Entwicklung in Baselland abzuwarten [21]. Hier hatte sich im Sommer ein Verein gebildet, der seinerseits die Gleichberechtigung des eigenen Halbkantons mit den übrigen Ständen anstrebt und dieses Ziel mit einer kantonalen Initiative in der Verfassung verankern will. Er fand dafür sowohl bei den Regierungsmitgliedern wie bei einer grösseren Zahl von Gemeinden Unterstützung. In der Regierung von Baselstadt begegnet man einer Aufwertung zum Vollkanton mit Zurückhaltung, da man befürchtet, sie würde eine Wiedervereinigung der beiden Halbkantone verunmöglichen. Auch geringfügige Änderungen der traditionellen Bundesstaatsstruktur erweisen sich offensichtlich als hindernisreich [22].
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P.G.
 
[10] Vgl. SPJ, 1983, S. 28 ff. Eine neue, engagierte Darstellung der Jurafrage im Zusammenhang mit der Problematik der sprachlichen Minderheiten der Schweiz bietet J.-C. Rennwald, La Question jurassienne, Paris 1984.
[11] Behörden: LM, 24.6.84; Bund, 25.6.84 (Parlamentspräsident J.-L. Wernli am 10jährigen Jubiläum des Plebiszits von 1974); Suisse, 9.9.84 (Regierungspräsident F. Lachat am Fest des jurassischen Volkes). Rassemblement jurassien: Jura libre, 1676, 30.5.84. Béliers: BZ, 5.6.84; Vat., 9.6.84 (Interviews mit J.-M. Baume). J.-L. Wemli, der Gewaltakte verwarf, machte vor Separatisten in Moutier den Vorschlag, «Etats généraux» aus Vertretern des Nord- und Südjuras zu bilden, die eine neue Verfassung ausarbeiten und auf die öffentliche Meinung der Schweiz einwirken sollten (Suisse, 21.11.84; vgl. auch 24 Heures, 8.6.84).
[12] Bernische Stellungnahmen: Bund, 30.5.84 (Regierungsrat W. Martignoni); NZZ, 22.6.84 (Freunde des Berner Juras). Der Regierungsstatthalter von Moutier, F. Hauri, verbot, ähnlich wie im Vorjahr, dass Vertreter der Parteien des Kantons JU und des Rassemblement jurassien am Umzug des Separatistenfestes der Bezirkshauptstadt teilnähmen, freilich ohne Erfolg (NZZ, 25.6.84; vgl. SPJ, 1983, S. 29). Die Berner Regierung hatte im Februar 1984 eine Beschwerde gegen das Verbot von 1983 abgewiesen, wurde aber im Dezember vom Bundesgericht ins Unrecht versetzt (Bund, 13.12.84).
[13] Im März schlug der Präsident der antiseparatistischen Force démocratique, NR Houmard (fdp, BE), einen «Waffenstillstand» vor (Suisse, 18.3.84). Der jurassische Regierungsrat P.Boillat nahm den Vorschlag auf und wünschte Gespräche über gemeinsame Probleme (Suisse, 6.5.84). Zum Radikalismus der Jugend vgl. Ww, 45, 8.11.84. Vgl. auch Ww, 25, 21.6.84; Bund, 22.6.84; AT, 23.6.84; BaZ, 23.6.84.
[14] Bélier-Aktionen : Überlandleitung der Bernischen Kraftwerke bei Büren a.d.A. (LM, 8.5.84) ; Zürcher Börse (NZZ, 12.5.84; Suisse, 12.5.84); Denkmal von Les Rangiers (Presse vom 2.6.84); Unspunnenstein (Presse vom 4.6.84); Eindringen in Grossratssitzung in Bern (Bund, 8.11.84; Suisse, 8.11.84). Vgl. auch T. Kästli / U. Balsiger, «Von Steinen und Böcken oder: «Der Bélier hat Humor», in TAM, 49, 8.12.84.
[15] Regierung: NZZ, 7.6.84; TA, 27.8.84. Verhaftungen und Reaktionen: Suisse, 24.8.84; 27.8.84; 30.8.84; LM, 26.8.84; TA, 27.8.84; Jura libre, 1685, 30.8.84.
[16] Suisse, 15.8.84; 17.8.84. Es war das erste offizielle Auftreten jurassischer Regierungsmitglieder im Südjura.
[17] Petition: BaZ, 12.3.84. NR-Kommission: LM, 24.10.84. Der BR, der zu Beginn des Jahres seine 1974 gebildete Juradelegation aufgehoben hatte (NZZ, 12.1.84; SPJ, 1974, S. 28 f.), betonte in Beantwortung einer einfachen Aufrage seine Zurückhaltung in der Frage der beiden Gemeinden, nahm aber weiterhin an Dreierkonferenzen mit den beiden Kantonsregierungen teil (Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1468). Vgl. auch NZZ, 25. u. 30.5.84 sowie SPJ, 1983, S. 30. 1983 hatte die bernische Regierung die fünf Gemeinderäte von Vellerat wegen Weigerung, die kantonalen Abstimmungen durchzuführen, gebüsst. Das Obergericht reduzierte die Bussen; das Bundesgericht bestätigte dessen Urteil (TLM, 27.1.84; Bund, 13.4.84; 27.11.84).
[18] Parlament: LM, 23.11.84; vgl. Presse vom 4.5.84. Beobachter Moutiers: Suisse, 27.3.84. Regierung: LM, 22.12.84. Die Christlichsozialen beantragten die Aufnahme eines Betrags von 20 000 Fr. zur Unterstützung Vellerats ins Kantonsbudget (FAN, 22.12.84).
[19] Suisse, 13.5.84; Vat., 16.5.84; SGT, 26.6.84; BaZ, 10.9.84; 11.9.84. Vgl. SPJ, 1983, S. 29 f.
[20] S. Cohen, «Genève et la Suisse », in L'Hebdo, 17, 26.4.84 u.18, 3.5.84; JdG, 9.5.84; 4.6.84; TA, 10.5.84; SZ, 6.6.84. Erwähnt wurde u.a. die Nichtberücksichtigung Genfs bei den BR-Wahlen seit 1919 (vgl. SPJ, 1983, S. 21f.).
[21] BaZ, 3.11.84. Die grundsätzliche Anerkennung des Vorstosses erfolgte bloss mit Stichentscheid des Kommissionspräsidenten. Vgl. SPJ, 1978, S. 32; 1979, S. 34; 1981, S. 30; 1983, S. 31.
[22] Kantonale Initiative: BaZ, 13.6.84; 24.9.84; 23.11.84. Baselstadt: BaZ, 3.11.84. Vgl. auch BaZ, 5.1.84.