Année politique Suisse 1984 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
 
Zivildienst
Grosse Aufmerksamkeit zog die Abstimmung über die «Volksinitiative für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» auf sich. Im Unterschied zum Plebiszit von 1977 [40] gruppierte sich diesmal die organisierte Gegnerschaft vor allem um die Offiziersgesellschaften; eine Kritik von links wurde kaum spürbar. Am vorgeschlagenen Verfassungstext bemängelten die Gegner den fehlenden Nachweis eines Gewissenskonfliktes, wodurch die Wahl zwischen Militär- und Zivildienst freigestellt und die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben würde. Die Befürworter, die vor allem in kirchlichen Kreisen Unterstützung fanden, versuchten unter dem Motto «Zivildienst statt Gefängnis» die Nützlichkeit denkbarer Einsätze im sozialen Bereich und bei der Landschaftspflege zu belegen. Sie argumentierten, wer bereit sei, anderthalb Mal solange wie die obligatorische Dienstpflicht einen Zivildienst zu leisten, beweise durch seine Taten, dass er gute Gründe habe [41]. Im leidenschaftlich und von den Gegnern wirkungsvoll geführten Abstimmungskampf machte sich ein deutlicher Rechts/Links-Gegensatz bemerkbar. Die drei bürgerlichen Bundesratsparteien, die Liberalen und die Nationale Aktion empfahlen das Begehren zur Ablehnung. Befürwortet wurde es von den Sozialdemokraten, der EVP und dem LdU sowie von der äussern Linken [42].
Am 26. Februar verwarfen die Stimmbürger die Initiative deutlich. Bei einer Beteiligung von 52,8% stimmten 63,8% gegen die Vorlage; mit Ausnahme von Genf und Basel-Stadt sprachen sich alle Stände ablehnend aus. Eine Untersuchung auf Befragungsbasis zeigte erneut, dass ihre Befürworter in den jüngeren Generationen stärker vertreten waren; leicht unterschiedlich war das Verhalten der beiden Geschlechter. Als Hauptergebnis einer Motiv- und Einstellungsanalyse wurde festgehalten, das Verdikt zur zweiten Zivildienst-Initiative sei kein «Nein» zur Idee an sich. Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung stehe der Einführung eines Zivildienstes nicht negativ gegenüber; ausgeschlossen werde jedoch jede Möglichkeit einer individuellen Wahl. Das Gefängnis als Strafe für Dienstverweigerer finde nur bei einer Minderheit eine Unterstützung [43].
Die politisch Verantwortlichen bewerteten die Lage unterschiedlich. Bereits zu Beginn des Abstimmungskampfes hatte das EMD eine Expertenkommission unter dem Vorsitz von Brigadier R. Barras eingesetzt. Sie sollte dem Bundesrat Vorschläge für eine «Entkriminalisierung» der Gewissensverweigerer auf der Basis der überwiesenen Motion Segmüller (cvp, SG) formulieren. Den Grad ihrer Unterstützungsbereitschaft markierten die verschiedenen Fraktionen mit der Ankündigung von speziellen Motionen zu diesem Thema [44].
Mitte Jahr veröffentlichte die Expertenkommission die Ergebnisse ihrer Überlegungen. Danach sollte für Dienstverweigerer weiterhin eine Gewissensprüfung durchgeführt werden. Im Rahmen des gegebenen Verfassungsrechts würde religiös und ethisch motivierten Verweigerern eine Arbeitszuweisung im Bereich der Bundeszwecke auferlegt. Dieser Arbeitseinsatz sollte eineinhalb Mal solange dauern wie der obligatorische Militärdienst; nach der Abgeltung würde eine Verurteilung aus dem Vorstrafenregister gelöscht. Eine CVP-Studiengruppe präzisierte ihrerseits ähnlich gelagerte Vorstellungen als Konkretisierung der Motion Segmüller [45]. Ein Rest von Aktivisten der abgelehnten Initiative kritisierten diese Vorschläge als Verschärfung der geltenden Praxis. Sie schlossen sich in einem neuen Komitee zusammen und wollen neue Vorschläge präsentieren [46].
Nach der Ablehnung der Zivildienst-Initiative konnte in der ausserhalb der Institutionen geführten armeekritischen Diskussion eine Radikalisierung festgestellt werden. Ins Zentrum rückten konkrete Schritte zur Lancierung einer Initiative für die Abschaffung der Armee. Der vorgelegte Text sieht vor, dass die Schweiz auf eine Armee verzichtet und zur Selbstbehauptung eine umfassende und internationale Friedenspolitik betreibt. Auch intern nicht unwidersprochen beschloss das verantwortliche Initiativkomitee, die «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» mit Frühlingsbeginn 1985 die Unterschriftensammlung einzuleiten [47].
top
C.L.
 
[40] SPJ, 1977, S. 53 ff.; vgl. auch NZZ, 17.1.84.
[41] Gegner: «Argumentationen gegen die Volksinitiative für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises», Beilage zu ASMZ, 149/1983. Befürworter: «Eidg. Volksinitiative für einen echten Zivildienst», hg. vom Initiativ-Komitee, 1984. Vgl. auch NZZ, 27.1.84.
[42] Dokumentation der Abstimmungsparolen des Forschungszentrums für schweizerische Politik; vgl. auch TA, 24.1.84.
[43] Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 26.2.1984, Zürich 1984.
[44] Amtl. Bull. StR, 1984, 5.375 ff.; Presse vom 1.5.84; ferner TA, 21.1.84; BaZ, 1.3.84; 6.3.84; 7.3.84; 10.3.84; 16.3.84. Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1011 und 1404. SPJ, 1983, S. 64.
[45] Bericht Barras: NZZ, 7.7.84; 4.9.84. CVP-Haltung: CVP Schweiz, Zur Lösung des Problems der Militärdienstverweigerung, Bern 1984; vgl. Vat., 26.6.84; 30.6.84; TA, 6.7.84.
[46] NZZ, 14.10.84.
[47] TAM, 9, 3.3.84; Presse vom 19.3.84. Initiativtext: NZZ, 1.10.84; vgl. auch GSoA, Argumentenkatalog, Basel 1984.