Année politique Suisse 1984 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
Verkehrspolitik
Für die nahe Zukunft scheint sich das Verkehrswesen zu einem der bedeutendsten Politikbereiche zu entwickeln. Die Auseinandersetzungen um eine neue Verkehrspolitik stehen gegenwärtig im Schnittpunkt zwischen individuellen und kollektiven Ansprüchen an die Mobilität sowie finanz-, regional- und umweltpolitischen Anforderungen. Die Schwierigkeiten, einen vormals durch die Fortschrittsdynamik dominierten verkehrspolitischen Konsens unter veränderten Bedingungen aufrechtzuerhalten, wurden nicht nur bei der Beschlussfassung über zwei neue Verfassungsartikel und bei der einsetzenden parlamentarischen Beratung über die «Koordinierte Verkehrspolitik» (KVP) deutlich, sondern drückten sich auch in der Lancierung von drei neuen, in ihren Zielen sehr unterschiedlichen Volksbegehren auf nationaler Ebene aus.
Die generelle Verkehrspolitik wird seit Jahren durch die Bemühungen um eine
Gesamtverkehrskonzeption (GVK) geprägt. Der Bundesrat hatte 1982 seine Botschaft den eidgenössischen Räten zugestellt. Die vorberatende Ständeratskommission akzeptierte im Berichtsjahr zwar die Notwendigkeit einer koordinierten Verkehrspolitik, wich aber schon bei Grundfragen in ihrer Ausgestaltung vom Bundesrat ab. So lehnte sie beim öffentlichen Verkehr die vorgeschlagene «Verkehrshierarchie» ab, wonach für nationale Belange der Bund, für den Regionalverkehr dagegen die Kantone zuständig sein sollten. Im weiteren beschloss die Kommission, Grundsätze über die Finanzierung untergeordneter Verkehrsträger nicht auf Verfassungs-, sondern auf Gesetzesstufe aufzustellen. Sie will es allerdings vermeiden, einen Prozentsatz in das Gesetz aufzunehmen. Nicht unbestritten blieben ferner die vom Bundesrat verlangte Eigenwirtschaftlichkeit sowie die Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen durch die öffentliche Hand. Bundespräsident Schlumpf äusserte sich enttäuscht über die Haltung der vorberatenden Ständeräte, sei sie doch weitgehend auf eine Fortsetzung des kritisierten Status quo ausgerichtet. Er zeigte sich jedoch für die Plenumsverhandlung weiterhin optimistisch
[1].
Die nach der Veröffentlichung des Expertenberichts 1977 vorgezogenen finanzpolitischen Anliegen der GVK — die Neuregelung der Treibstoffzölle und die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe — sowie die Ausgabe einer Autobahnvignette kannten im Berichtsjahr eine unterschiedliche Entwicklung. Nach einem Vemehmlassungsverfahren, das zwiespältig ausfiel, schlug der Bundesrat als Ausführung des 1983 gutgeheissenen Treibstoffzollartikels
mehrere Bundesbeschlüsse vor, mit denen er versuchte, bei der überregionalen Verkehrsinfrastruktur Akzente im Sinne der GVK zu setzen. Gemäss Botschaft sollte die Kompetenz für die Verteilung der rund 2 Mia Fr. bei der Exekutive bleiben. Nachdem der Nationalstrassenbau seinen Höhepunkt überschritten hat, will der Bundesrat sein finanzielles Engagement primär beim Hauptstrassenbau verstärken ; ebenso trat er für die Förderung von Unterhaltsarbeiten und von neuen Zweigen beim Gütertransport der SBB sowie für Umweltschutzmassnahmen ein. Entsprechend den GVKZielen erneuerte er die Forderung, die Kantone müssten sich zur Kompensation an einem SBB-Defizit im regionalen Personenverkehr beteiligen. Von den zweckgebundenen Treibstoffzöllen sollten 12% für die allgemeinen Strassenkosten an die Kantone fliessen
[2].
Die bundesrätliche Vorlage fand in beiden Parlamentskammern eine unterschiedliche Aufnahme. Der Ständerat ging davon aus, dass der Verfassungsartikel der Ausführungsgesetzgebung wenig Spielraum für Interpretationen überlasse. Im wesentlichen akzeptierte er die Anträge der Exekutive; er beschloss jedoch, die Regelung in Form eines zeitlich unbefristet gültigen Gesetzes zu erlassen. Abgelehnt wurde in der kleinen Kammer der Kompensationsbeschluss. Die Kantonsvertreter begründeten ihr Nichteintreten mit dem Argument, die 400 Mio Fr., welche zusätzlich an die Kantone fliessen sollen, seien keine Bundesgelder, müssten also nicht durch eine Beteiligung am SBB-Defizit vergütet werden. Im Nationalrat wurden mehr die umweltpolitischen Ansprüche an die Vorlage betont: Zwar lehnte der Rat die beiden Rückweisungsanträge von seiten des Landesrings und der äussern Linken ab, doch beschloss er nach kurzer Verhandlungsdauer angesichts einer Vielzahl von Einzelanträgen zu den vom Strassenverkehr mitverursachten Schäden die Beratungen zu vertragen. Inzwischen hatte sich allerdings auch das politische Umfeld geändert: Der Touring-Club der Schweiz (TCS) hatte seine Volksinitiative zu den Treibstoffzöllen zurückgezogen, während der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) ein Referendum androhte, falls den Anliegen des Umweltschutzes nicht mehr Rechnung getragen werde
[3].
Über die Einführung einer
Schwerverkehrsabgabe und einer
Autobahnvignette standen zwei verkehrspolitische
Volksentscheide an. Bei der gewichtigeren Vorlage, der Belastung des Schwerverkehrs, machte sich innerhalb der Parteispitzen ein verbreiteter Wille bemerkbar, der Bevölkerung die befürwortenden Argumente nahezubringen. Im Abstimmungskampf favorisiert wurde das Verursacherprinzip, wonach jeder Verkehrsträger für die durch ihn bewirkten Kosten aufzukommen habe. Von den interessierten Organisationen setzte sich der VCS für eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe ein. Starke Opposition erwuchs der Vorlage dagegen durch den Schweizerischen Nutzfahrzeugverband (ASTAG), der sich gemeinsam mit dem TCS und dem ACS (Automobil Club der Schweiz) gegen eine Besteuerung des Schwerverkehrs wandte. Unterstützung fanden diese Organisationen vor allem bei Kantonalsektionen der bürgerlichen Parteien; bei den Bundesratsparteien sprachen sich einzig die Sozialdemokraten in allen kantonalen Organisationen zugunsten der neuen Abgabe aus
[4]. Schon auf nationaler Ebene differenzierter präsentierte sich das Bild bei der Autobahnvignette : SPS, CVP und SVP empfahlen sie zur Annahme, während die FDP aus dem Quartett der Bundesratsparteien ausscherte und die Vignette bekämpfte. Opponiert wurde ihr auch von seiten der Liberalen, des Landesrings und der PdA; mit der POCH, der EVP und der NA stellten sich demgegenüber drei kleinere Gruppierungen hinter das Anliegen
[5].
Am 26. Februar fanden beide Vorlagen eine knappe Mehrheit unter den Urnengängern ; damit war es den Behörden gelungen, für alle vorgezogenen finanzpolitischen Verfassungsänderungen eine plebiszitäre Unterstützung im Sinn einer Gesamtverkehrspolitik zu finden
[6].
Bei der
Schwerverkehrsabgabe stimmten 58,7% mit «ja»;
bei der Autobahnvignette betrug der befürwortende Anteil 53,0%. Die Stimmbeteiligung war mit 52,8 % für schweizerische Verhältnisse hoch. Ähnlich gelagert waren in beiden Fällen die interessanten Konfliktlinien: Nach Kantonen gegliedert zeigte sich ein abweichendes Verhalten in der Westschweiz, welche beide Vorlagen ablehnte. Eine Analyse auf Befragungsbasis ergab nebst diesem verkehrs- und finanzpolitisch bekannten Sprachgraben einen weiteren interessanten Indikator für das Stimmverhalten: Jüngere Urnengänger, für einmal unter den Teilnehmenden relativ stark vertreten, standen den beiden Abgaben skeptischer gegenüber. Die Fronten liefen quer zu den parteipolitischen Sympathien. Als nicht direkt vergleichbar erwiesen sich die individuellen Entscheidmotive zu den beiden Sachfragen. Von den Urnengängern wurde die Autobahnvignette als praktisch rein fiskalpolitische Massnahme aufgefasst. Differenzierter waren die Gründe bei der anderen Vorlage: verkehrspolitische Motive dominierten hier, mischten sich aber mit generellen Überlegungen zu den Bundesfinanzen und zum Umweltschutz. Die Gegner beider Verfassungsänderungen verstanden ihr Nein in erster Linie als Opposition zu neuen Steuern genereller oder verkehrspolitischer Art
[7].
Nach der Volksabstimmung ergaben sich für beide Verfassungsartikel
Durchsetzungsprobleme. Die Gegner hatten davor gewarnt; nun trugen sie noch zu ihrer Verschärfung bei. In einem ungünstigen Medienklima beschloss die Landesregierung, die ausgearbeiteten Verordnungen auf den Beginn des neuen Jahres in Kraft zu setzen. Bei der Vignette bestimmte sie, Verstösse sollten mit einer Busse von 100 Fr. geahndet werden. Der Vollzug des Verkaufs wurde den Kantonen, privaten Strassenverkehrsorganisationen und dem Gewerbe übergeben. Umstrittener blieb die bundesrätliche Verordnung für den Vollzug der Schwerverkehrsabgabe. Sie verlangt eine Vorauszahlung für alle Betroffenen. Für ausländische Fahrzeuge legt sie nach Tageslimiten abgestufte Abgaben fest; von der Steuer befreit sind der Huckepackverkehr und Fahrzeuge der öffentlichen Dienste. Bussen wurden in der fünffachen Höhe der Abgabe angesetzt
[8].
Nachdem
die EG und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland Gegenmassnahmen in Aussicht gestellt hatten
[9], mehrte sich der Widerstand gegen die Schwerverkehrsabgabe. Ein Komitee aus Kreisen der «Routiers Suisses» kündigte an, zwei «Volksbegehren gegen die verfehlte Strassenfiskalpolitik des Bundes» zu lancieren. Darin forderte es nur neun Monate nach dem positiven Volksentscheid, sowohl Schwerverkehrsabgabe als auch Autobahnvignette seien ersatzlos zu streichen. Die Initianten begründeten ihr Vorgehen damit, irrtümlich gefällte Entscheide müssten auf legalem Wege rückgängig gemacht werden
[10].
[1] Kommission des StR: NZZ, 2.5.84; 15.8.84; 29.8.84; 8.9.84; 2.11.84; SZ, 23.11.84 (BR Schlumpf). Überblick GVK: SPJ, 1983, S. 108 f. sowie A. Hürlimann, «Der mühsame Weg zu einer schweizerischen Gesamtverkehrspolitik», in L. Schlumpf, Beiträge zum Staatsmann und Menschen, Chur 1984, S. 117 ff. und J. Schälchli, «Strassenverkehspolitik im Rückblick», in Jahrbuch der schweizerischen Verkehrswirtschaft, 1984, S. 163 ff. Vgl. SPJ, 1983, S. 108 ff.
[2] Volksabstimmung und Vernehmlassung: SPJ, 1983, S. 110 f. sowie NZZ, 2.2.84. Botschaft : BBl, 1984, I, S. 986; vgl. auch Presse vom 14.3.84; NZZ, 7.4.84.
[3] Ständerat: Amtl. Bull. StR, 1984, S. 350, 391; vgl. auch NZZ, 29.5.84; Presse vom 20.6.84. Nationalrat: Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1615; vgl. auch Presse vom 7.12.84 und 12.12.84. TCS: NZZ, 23.6.84; TA, 23.6.84; vgl. auch SPJ, 1982, S. 97. VCS: 24 Heures, 25.6.84. Im weitern wurden die Verhandlungen durch die lancierte Initiative des LdU «zur Förderung des öffentlichen Verkehrs» beeinflusst; vgl. unten, Eisenbahnverkehr.
[4] Argumente: SPJ, 1983, S. 111 f.; Bund, 18.2.84; vgl. auch Schweizerisches Aktionskomitee für eine Schwerverkehrsabgabe, Pressedienst, 1-6, 13.1.-17.2.84 sowie H.R. Nebiker, Ein Ja zur Schwerverkehrsabgabe, Bern 1984 (vgl. auch Presse vom 22.1.84). Kantonal abweichende Parolen: FDP von BE, SZ, OW, NW, ZG, FR, SH, AR, VD, VS, NE, GE; CVP von VD, VS, GE, JU ; SVP von ZH, BE, SZ, FR, SH, SG, AG (vgl. Dokumentation im Forschungszentrum für schweizerische Politik).
[5] Argumente : SPJ , 1983, S. 111 f. ; Bund, 21.2.84. Kantonal abweichende Parolen : FDP von LU, UR, NW, GL, SO, BL, SH, GR, TI ; CVP von VS, GE; SVP von SZ, AR, SG (vgl. Dokumentation im Forschungszentrum für schweizerische Politik).
[6] Die finanzpolitischen Aspekte der beiden Beschlüsse sind, weil es sich nicht um zweckgebundene Mittel handelt, oben in Teil I, 5 (Finanzpolitik) dargestellt. Vgl. auch SPJ, 1983, S. 110 (Volksabstimmung über die Treibstoffzölle).
[7] Presse vom 27.2.84; Vox. Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 26. Februar 1984, Zürich 1984. Suisse, 28.2.84. Grundsätzliches: TA, 31.3.84; SZ, 14.12.84.
[8] Verordnungen : AS, 1984, S. 1026 ff.; vgl. auch Presse vom 13.9.84. Durchsetzungsprobleme: vgl. oben, Teil I, 1a (Funktionsfähigkeit des politischen Systems).
[9] Vgl. oben, Teil I, 2 (Relations économiques bilatérales).
[10] Ankündigung neuer Initiativen: BBl, 1985, I, S. 507 ff. u. 510 ff.; NZZ, 25.11.84; JdG, 29.11.84. Unmittelbar nach dem Volksentscheid lehnte der BR die VCS-Initiative ab (vgl. NZZ, 10.5.84 sowie SPJ, 1982, S.98).
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